## Title: Chronik der Königl. Schaubühne zu Dresden vom 10. Juni 1817 ## Author: Böttiger, Karl August (für Kotzebue) ## Version: 4.11.0 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A030138 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Am 10. Juni. Zum erstenmale: Peter und Paul Lustspiel in 3 Akten von Castelli. Der Verfasser ist uns durch seinen, seit mehreren Jahren bei Strauß in Wien erscheinenden Selam, durch seine poetischen Kleinigkeiten, und durch mehrere in der Abendzeitung gelieferte gefällige Gedichte, von vortheilhafter Seite bekannt; auch hat er sich durch viele, überall mit Beifall aufgenommene dramatische Arbeiten, besonders durch gelungene Uebersetzungen französischer Lustspiele, einen Namen gemacht. Oben angezeigtes Stück gehört zu den Erzeugnissen letzterer Gattung. Das Original ist von Lamartelière. Da wir hoffen würfen, dieses mit verdientem Beifall aufgenommene Lustspiel auf hiesiger Bühne bald wiederholt zu sehen, so erlauben wir uns, die Anekdote aus dem Leben Peter des Großen, welche den Stoff des Stücks gegeben, hier nicht zu zergliedern, um denen, die der ersten Vorstellung nicht beiwohnen konnten, die Freude der Ueberraschung aufzubehalten. Ueberhaupt ist das anatomische Geschäft, ein dramatisches Werk geschichtlich zu skelettiren, höchst undankbar, und weder dem Dichter, noch dem Publikum angenehm. Ersterem spinnt ein Dritter den Faden selten zu Danke, und letzteres, das Publikum, will sich selbst an den Wirrwocken setzen und sich sein Fädchen, ein jeder in seiner Manier, herausziehen. Darum geht man ja in das Schauspielhaus; daß das Spinnen aber eine Winterarbeit ist, sah man dießmal am leeren Hause. Desto verdienstlicher war es von unserer Gesellschaft, daß sie mit eben der Liebe und Lust spielte, als gelte es einem überfüllten. Sämmtliche Rollen waren, – bis auf den Gardehauptmann Gollowin, der, seiner Kälte nach zu urtheilen, auf der nördlichsten Spitze des russischen Reiches, heimisch sein mußte – mit lobenswerther Auswahl besetzt. Die Hauptrolle befand sich in den Händen des Herrn Kanow, der ihr durch sein aufbrausendes lebendes Spiel vollkommen genügte. Herr Hellwig, als Peter der Große, und Mad. Schirmer, als die junge Holländerin Lisbeth, gaben ihren Rollen ein so hohes Interesse, daß man beide immer gern auftreten sah. Bei einer nochmaligen Durchsicht des Werks wird der Dichter sich vielleicht zur Streichung mancher Wiederholung geneigt finden; so kömmt z. B. die Geschichte mit den, dem Paul anvertrauten Haarbüscheln, doch fast zu oft vor, und die Klagen des letztern über die vielen Bekanntschaften seiner Frau, erscheinen beinahe zu gedehnt; auch werden beim Verfasser dann manche Provinzialismen, wie z. B. „beiläufig“ statt „ungefähr“ und manche Sprachwidrigkeiten, wie z. B. im zweiten Auftritt des dritten Aufzugs: „ach, auf den erinnere ich mich noch recht gut“ begegnen, die leicht beseitiget werden können. Im Ganzen gehört das Stück zu den besseren Lustspielen der neueren Zeit, und wird, wenn es mit der Raschheit, mit Laune und mit dem eleganten Kostüm, wie hier, gegeben wird, auf allen Bühnen sehr willkommen seyn. H. C. Hierauf folgte: Die Unglücklichen, von Herrn von Kotzebue, als Nachspiel, an eben diesem Abend. Die Engländer haben eine Art von Halbroman, the Miseries of human Life betitelt, wozu der bekannte Rowlandson auch Carricaturbilder gegeben hat. In diesem werden alle eingebildete und wirkliche Fehlschlagungen und lächerlichen Unfälle des menschlichen Lebens komisch zusammengereiht. So lange es nun diese und ähnliche Parodieen des einst so begierig gelesenen Salzmannischen menschlichen Elends im Carl von Carlsberg geben wird, kann auch die Quelle zu Kotzebue's Unglücklichen nicht versiegen. Es ist ein unverwüstliches Stück, ein stets sich erneuernder Maskenzug, und seit 30 Jahren auf unsern Bühnen-Listen heimisch. Durch dasselbe wurden die Arten von dramatischen Guckkästen, pièces à tiroir von den Franzosen genannt, unter uns eingeführt und so ist es Vorbild und auch wohl Erzeuger einer sehr zahlreichen Sippschaft geworden. Aber wenn auch die Classe der Unglücklichen, die hier nach der Erbschaft des reichen Oheims schnappen, immer dieselben bleibet; so ändert sich doch stets Farbe und Vortrag nach den eben gangbaren Modethorheiten und geselligen Verhältnissen. Mit stehenden Typen kann so etwas nicht gedruckt seyn. Darum möchten wir die Bitte, welche wir vor kurzem bei einer andern Veranlassung an den verehrten Dichter ergehen ließen, um Verjüngung und Umarbeitung dieser, wo nicht in der Sache, doch im Ton alternden Lieblingsstücke auch hier wiederholen. Welche Gestalten würde uns der sinnreiche Dichter, dessem Scharfblick noch nie eine Schwungfeder oder Quaste an der großen Narrenkappe der eben sich vor unsern Augen bewegenden Lebens-Maskerade entging und der nach seiner Lebens- und Studierweise an jedem frühen Morgen der lieben Itztwelt an den Puls fühlt, hier aufs neue vorzuführen wissen? Der Hofjunker im alten Stück ist mit dem Hofmarschall von Kalb in Schiller's Kabale und Liebe und Liebe aus einem Teige geformt, mithin erschrecklich altbacken, der Spaß mit der zehnfach eingewickelten Confectmumie gewaltig verbraucht. Die schmelzende Emilie Falk sollte jetzt nur in Sonnets girren oder in mystischer Zucker-Rede aus dem Frauen-Almanach. Und so in allen übrigen Rollen! (Der Beschluß folgt.) Böttiger.