## Title: Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: „Die Waise und der Mörder“ von Castelli und von Seyfried am 23. November 1818 (Teil 2 von 2) ## Author: Böttiger, Karl August ## Version: 4.11.0 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A030307 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Die Waise und der Mörder.#lb#(Beschluß.)Schon mehr mit Entsetzen gepaart war ihr Spiel beim Erblicken des Ringes, der ihrem Vater gehört hatte. Hier flisperten schon die geöffneten Lippen, hier rollte schon das, einige Augenblicke starr hingeheftete Auge. Hier waren schon die Arme und der obere Theil des Körpers vorgeneigt, wo hingegen die Füße und untern Theile durch rückgängige Bewegung dem Entsetzen zugehörten. Aber der Uebergang zum freudigen Erstaunen wurde zugleich schon vorbereitet. Noch hatte die Licht und Effekt aufsparende Künstlerin sich den erschütterndsten Ausdruck zum entscheidenden Anblick des Mörders selbst aufbewahrt. Vergeblich würden wir uns bemühen, diese letzte Steigerung bis zum hervorbrechenden Angstgeschrei: Mörder! einzeln zu entwickeln oder gleichsam in Noten zu setzen. Wir empfinden hier ganz das Unvermögen des viel zu langsam und ohnmächtig nachhinkenden Buchstabens, worüber der neueste Lehrer der Chironomie, oder des Geberdentanzes, in England, der scharfsinnige Irländer, Gilbert Austin, in einem Werke, das uns durch keinen verstümmelten Auszug, sondern ganz wiedergegeben werden müßte *)*) Das vor allen bisher erschienenen Schriften über die Mimik sich sehr hervorhebende Werk erschien schon 1806 in England, und führt den Titel: Chironomia or – the proper regulation of the voice, the commenance and gesture – by Gilb. Austin. 585 S. in 4. mit 12 Kupertafeln. Das Capitel, welches überschrieben ist: or Notation of Gesture, pag. 270–290., zeigt die Schwierigkeiten einer Notirung der Gebehrden, die doch der scharfsinnige Verfasser durch eine neue Methode dafür wirklich überwunden und an der bekannten Elegie von Gray, auf den Dorfkirchhof, der ganz durch für die Geberdensprache notirt und mit den Kupferabbildungen in Verbindung gesetzt ist, erprobt hat. Das Werk verbindet, mit einer ausgebreiteten Belesenheit und genauer Angabe der Beweisstellen aus allen Zeiten eine Fülle von neuen Bemerkungen und das Resultat vieljähriger Erfahrung. Wir bedauern, daß die vorschnelle Speculation einer deutschen Buchhandlung dem übrigens tüchtigen Bearbeiter eines so eben in Leipzig erschienenen, sehr unvollständigen Auszuges die Gelegenheit benahm, das Werk, das bei erschöpfen der Gründlichkeit durchaus nicht Ueberflüssiges enthält, ganz zu übersetzen. So, wie es jetzt ist, wird doch jeder Liebhaber nach dem Original greifen müssen. -, mit so viel Recht geklagt hat. Es sey genug, hier zu versichern, daß durch dies, in jeder Beziehung vollendete Spiel unserer Mad. Schirmer, jeder, der es zum erstenmal und ohne alle Bekanntschaft mit dem Ausgange gesehen hätte, noch vor dem Ausbruch des ersten artikulierten Lauts, diese Wirkung als unfehlbar voraussehen mußte. Möchten doch unsere jungen Künstlerinnen durch die aufmerksamste Betrachtung eines solchen Vorbildes zur Ueberzeugung kommen, daß Beweglichkeit überhaupt noch gar nicht Mimik sey, daß auf der Bühne jede Bewegung in der Mensur seyn, also zu allem Vorhergehenden und Nachfolgenden in angemessenem Verhältniß stehn, mit einem Worte ein Kunstwerk seyn und doch die Kunst nie verrathen müsse! Hier ist viel zu lernen. Denn dies Maß ist alles. Die vom günstigen Augenblick abhängige Routine gefällt, wie der Wurf gelingt; der Erfolg bleibt stets ungewiß! – Sehr verständig wurde diesmal dem, in der Kapelle meuchlings überfallenen Victorin der Sprung oder Sturz vom Felsen in den Fluß dadurch erspart, daß dem Verwundeten noch Kraft genug zugetraut wurde, um in der Todesangst den Felsenstieg herabzulaufen, wo er erst unten vom Mörder erreicht und in's Wasser gestürzt wird. Das Grausen erregende, worauf es hier doch abgesehen seyn muß, wird durch das, was hier alles noch vor den Augen der Zuschauer geschieht um um so gewisser erreicht. Die halsbrechenden Sprünge, woran sich die gaffende Gallerie so gern weidet, gehören in den Circus der Voltigierkünste. Wir könnten noch so manches andere Nebenspiel, wodurch Ausdruck und Anmuth nur noch gewinnen konnte, von dem liebkosenden Anbiegen der Staudengewächse an die so eben aufgestellte Büste an, bis zur letzten, schöner als je gelungenen Gruppirung anführen, wenn wir nicht schon jetzt das Maß überschritten zu haben befürchten müßten. – Hr. Geyer gab den Mörder fern von aller Gemeinheit, mit allem Firnis der Convenienz und des vornehmen Standes, dem er zugehört, aber um so hassenswürdiger und wahrer. Hr. Werdy spielte mit Würde. In den meisten übrigen Rollen vermißte man ungern die Unabhängigkeit vom Soufleur und das raschere Zusammenspiel. Böttiger.