## Title: Dramatisch-musikalische Notizen (Dresden): „Raoul Blaubart“ von André-Ernest Grétry ## Author: Weber, Carl Maria von ## Version: 4.9.1 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A030499 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Dramatisch-musikalische Notizen.Als Versuche, durch Kunst-Geschichtliche Nachrichten und Andeutungen die Beurtheilung, neu auf dem Königl. Theater zu Dresden erscheinender Opern zu erleichtern.#lb#Von Carl Maria von Weber.Sonntag, den 18. Mai, zum Erstenmal: Raoul Blaubart, Oper in 3 Akten, nach dem Französischen des Sedaine, von Dr. Schmieder, Musik von André Ernest Modeste Gretry. Die Gastdarstellungen der trefflichen Meisterin des Gesanges, Mad. Grünbaum, schenken uns diese interessante Oper, als ihren Schlußstein für jetzt; und somit möchten sie wohl den Zweck der Künstlerin, sich in den verschiedensten Gattungen der Gesangsarten zu zeigen, – erreicht haben. Die reine Natursprache eines sich die eignen Bahn brechenden Genius, der durch die Glut seiner Phantasie zuweilen in dem Labyrinth des Regelrechten sich verwirrend, nur wieder auf ganz eigenthümliche Weise, die seinen Irrthümern meist einen hohen seltsamen Reiz verleiht, die Schranken überspringt, hat den Werken Gretry's ein so eindringendes Interesse zu verschaffen gewußt, daß man von ihm eine eigene Kunstepoche in Frankreich berechnen kann: indem seine Melodie-Formen, und die Behandlung der dramatischen Musikstücke, eine Art von feststehendem Typus für alle Uebrigen wurden, die die Gunst des Publikums besitzen wollten. 1741 in Lüttich geboren, in Rom 1759 Musik studierend, erkannte Er, einer Aeußerung in seinen Memoires, oi Essais sur la Musique (Paris 1797) zufolge, nur den Componist Casali daselbst, für seinen wahren Lehrer an, und sprach dabei seine ganze spätere Ansicht und Arbeitsweise durch die Bemerkung aus, daß dieser alles auf den Effekt hingeleitet habe. Dieß ist das Bezeichnendste und in der damaligen Zeitepoche, den 60ger Jahren, neu hervortretendste in der Gretryschen Musik; Nehmlich, das Streben, der Wahrheit des Wortausdruckes und der die Charaktere treffend bezeichnender Melodieen aufs vollkommenste zu genügen, worin ihn seine Zeitgenossen Pergolese gleich stellten, der aber bei weitem korrekter, und mehr Herr aller Mittel war, als Gretry, welcherder sich auf keinerlei Weise in Erreichung dieses Zieles durch Beschränkung irgend einer Art hindern ließ, und daher oft in der Verlegenheit, seine Ideen den Grundsätzen des harmonischen Baues anzuschmiegen, die seltsamsten Auswege erfand, deren wahrhaft kindlich naive Querstände doch immer lebendig das Suchen nach innerer Wahrheit genial aussprachen. Vielleicht ist Gretry der einzige, der in Frankreich erblühten Componisten, der bedeutend lyrischen, ja sogar oft romantischen Sinn hatte. Die mitunter wirklichwahrhaft rührende Unschuld seiner Melodieen, deren Rythmen sich immer nach dem Bedürfniß des Augen blicks und nicht nach festgestellten Formen, richteten und erzeugten, sind vergeblich zu erreichen versucht worden. Ueberstrahlt haben seine Werke alle die seiner Zeitgenossen, Monsigny, Dalleyrac, Martinis etc., welche auch, jene von ihm eröffnete Bahn betraten, die für die komische und lyrische Oper, nur etwas dem Zeitgeiste genähert, noch jetzt von Berton, Le Sueur, Boyeldieu etc. verfolgt wird, und deren Musikgattung selbst durch die musikalische Revolution des riesenhaften Gluck, der der großen Oper eine neue Welt eröffnete, keine bedeutende Veränderung in ihren innern Wesen erlitten hat. Gretry hat gegen 70 dramatische Werke geschrieben. In allen Theilen Deutschlands sind davon die Meisten unzähligemale gegeben. Ich nenne nur, le Tableau parlant, les deux Avares, Zemire et Azor, la Rosière de Salenci, le jugement de Midas, Richard Coeur de Lion etc. am wenigsten kennt man seine Pierre le Grand, Guillaume Tell, Amphitryon etc. Der Stoff des Fürst Blaubart, ist aus dem uralten Mährchen gleiches Namens entlehnt, und hat sich nebst Richard Löwenherz, und Zemire und Azor am meisten beliebtbeliebtesten erhalten, ja ist am wiederholtesten von den Theaterdirektionen hervorgesucht und erneuet auf die Bühne gebracht worden. Bei einer ähnlichen Veranlassung in Wien hat man es dem Bedürfniß des Zeitgeschmackes gemäß, und für nöthig erachtet, die würzigere, reichere Instrumentation, die ihm eigen, auch diesem Werke zu erhöhter Wirkung desselben beizugeben. Diese Bearbeitung hat der verstorbene Capellmeister Fischer, mit großer Liebe und Einsicht übernommen, und wenn es gleich dem Kunstkenner unstreitigohnstreitig werther seyn würde, die Oper ganz in ihrer Originalgestalt zu hören, so ist es doch von der andern Seite nicht zu läugnen, daß sie durch die Bearbeitungdadurch dem Sinn unsrer jetzt lebenden Musikwelt näher gebracht worden, ohne der Eigenthümlichkeit ihrer Ideen beraubt worden zu seyn. Schakespeares, Calderons und Anderer Werke, leiden unter demselben Druck. – – Daß wir es so geben, beruht auf mehreren Gründen, vorzüglich aber auch auf der Ueberzeugung, den Manen Gretry's dadurch nicht unwürdig zu begegnen, ja es der Fassung-- und daher Würdigungs-Gabe des dermaligen musikalischen Publikums vertrauter und lieber gemacht zu sehen. Auch als politischer Schriftsteller hat sich Gretry 1801 (de la Vérité. 3 Vol.) gezeigt. Seine musikalischen Abhandlungen aber beweisen die gänzlichste Unwissenheit in der musikalischen Literatur, und wie sehr er alles aus eigenem Gefühl geworden und gefunden; indem er Dinge, die in Deutschland fast jeder Chorknabe seit Jahrzehenden kennt, für ganz neu gemachte Entdeckungen ansieht. Doch das gehört in das große Register der französischen Gelehrsamkeit. –