## Title: Aufführungsbesprechung Mannheim: „Lehmann, oder: der Thurm von Neustadt“ von Nicolas-Marie Dalayrac am 2. Dezember 1810 ## Author: Weber, Gottfried ## Version: 4.9.1 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A030569 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Hof- und National-Theater in Mannheim.Den 2. Dezember: Lehmann, oder: der Thurm von Neustadt, Oper in drei Aufzügen. Seitenstück (?) zu Graf Armaud, nach dem Französischen bearbeitet von Sievers. – So lautet das Ankündigungs-Inserat in der Schreibtafel des vorhergehenden Tages, dessen Verfasser es also für nöthiger hielt, den Uebersetzer, als den Komponisten zu bezeichnen, der übrigens das Stück, welches längst vor Graf Armand schon auf der Bühne war, als Gegenstück zu diesem (warum ? mögen die Götter wissen) stempelte. Die heutige Oper gehört zu d'Alayrac's gelungensten Arbeiten, und es ist lobenswerth, daß sie nach so langem Müßigliegen wieder auf unsre Bühne gebracht wurde. Der Komponist entfaltet darin die schönsten Blüthen der feurigsten Einbildungskraft und innigen Gefühles. Schon gleich die Ouvertüre könnte als Muster eigentlicher Opern-Ouvertüren aufgestellt werden, wenn nicht eine gar zu oft wiederkehrende Fermate und Wiedereinleitung ins Thema zurück, Abspannung der Aufmerksamkeit bewirkten. Welch hinreissend schwärmerischen Charakter trägt das erste Lied Ammelinens in Ddur 4/4, mit gedämpften Saiten-Instrumenten, und den Gesang, in den tiefsten Tönen der Sopranstimme gehalten! recht eigentlich gemacht, um einen Beweis zu geben, wie eingreifende Wirkungen sich durch edle Einfalt hervorbringen lassen. Letztere macht den Haupt-Charakter dieses Ton-Stückes aus; desto mehr war es zu bedauern, daß Mad. Gervais durch eine zweimal beim Schlusse des ersten Theils angebrachte Roulade, gegen den Haupt-Charakter sündigte. Ref. ist sonst nichts weniger als abgesagter Feind von allem Brodiren, und gönnt gerne dem Gefühle auch des darstellenden Künstlers manchen Spielraum, – alles unter der Voraussetzung, daß der Künstler sich selbst werde zu bescheiden wissen, wann und wo der Ort sey, von dieser Licenz Gebrauch zu machen. – Hier aber, in diesem durchaus einfachen, von dem Komponisten gewiß absichtlich von melismatischen Verzierungen entblöst angelegten, ich möchte sagen Trauer-Liede, hier war gewiß der Ort nicht, eine Tirade anzubringen; eine Rosa-Schleife auf ein Trauerkleid. Ausser dem eben erwähnten Liede verdienen noch folgende größere einer ehrenvollen Auszeichnung: Das 2te Terzett des ersten Aktes in Gmoll, mit eingeflochtenem Gebete, (welches nur ein wenig zu lang gedehnt ist,) und das Quartett des 2ten Aktes zwischen dem Prinzen, seiner Geliebten, und den zwey treuen Soldaten. Die Chöre sind, beinahe ohne Ausnahme, vortrefflich zu nennen; alles übertrift aber die Trinkszene des 2ten Aktes, Cdur, wo der Hauptmann Lehmann, als scheinbar Betrunkener seine Hüther überlistend, einen Augenblick benützt, um mit seiner Tochter ein paar Worte unbemerkt zu wechseln, und, kaum nachdem er diesen Zweck erreicht, mit tobendem Ungestüm wieder zum Trinkliede anstimmt, in welches dann gleich die arglosen Soldaten, welche, statt ihren Gefangenen betrunken zu machen, sich mittlerweile selbst benebelt haben, aus Leibeskräften mit einstimmen. Es ist wohl kaum möglich, glücklicher einen Effekt hervorzubringen, als d'Alairac durch dieses fortissimo, in diesem Momente angebracht, gethan hat. Herr Singer als Lehmann gab diese Szene mit Wahrheit und vielem Feuer, und eben dies Lob verdiente er in der Szene, wo er mit dem noch unerkannten Prinzen konfrontirt wird, bei Lebensstrafe nichts sprechen darf, und endlich, da der Prinz sich selbst zu verrathen eben im Begriffe steht, dennoch hervorbricht, und durch scheinbare Anklage ihn rettet. Dieser Ausdruck von Feuer gelang ihm eben so sehr, als die Maske des alten geistesschwachen Jägers, durch welche Lehmann sich seinen Feinden unkenntlich macht. Weniger glücklich war sein Spiel bei der Arie des 1sten Aktes. (Es. ¾) vielleicht eben weil er sich zu sehr bemühte hier schon lebhaftes Spiel anzubringen, hier, wo edle Ruhe mehr an ihrem Platze gewesen wäre als Lebhaftigkeit. Ueber Herrn Singers Gesang hat Ref. sein Urtheil im Allgemeinen schon früher ausgesprochen. Die Rolle Lehmanns ist übrigens mehr berechnet auf richtiges kräftiges Eingreifen und Mitwirken zu den Ensembles, als sie geeignet ist, die Virtuosität des Sängers einzeln glänzen zu lassen. Jene Aufgabe erfüllte Herr Singer vollkommen, vorzüglich bei dem 2ten Terzette und der Trinkszene. Die Chöre (durch welche auch die schon früher belobte Tenor-Rabenstimme heute wieder hervorstach) waren heute gut einstudirt, und weniger sparsam besetzt, als sonst häufig der Fall ist; auch spielten sie mit gehöriger Lebhaftigkeit, und wurden (es sind blos Männerstimmen –) rein intonirt, mit Ausnahme des ersten im 3ten Akte. Schade, daß mehrere Tempi so sehr geschleppt wurden, wie z.B. der allererste Chor des östreichischen Kommando. Das Süjet des Stückes ist anziehend und interessant, und nicht ohne dramatischen Werth. Nur zu sehr schlagen und verfolgen sich unausgesetzt Gefahren und Befreiungen, und wieder neue Gefahren u. s. w. Dieser zu anhaltende Wechsel, dieses unausgesetzte Ondoiement zu vielfältiger kleiner Haupt-Epochen mußte es dem Komponisten schwer machen, einen Total-Effekt glücklich zu erreichen, namentlich die einzelnen Akte als für sich abgerundete Haupttheile einer ganzen Handlung darzustellen: füglich hätte der Verfasser einen oder den andern Akt ein paar Szenen früher oder später anfangen oder schließen lassen können; nirgends erscheint ein Hauptabschnitt als in sich selbst begründet, nirgends die Handlung in Hauptepochen eingetheilt, deren Catastrophe den Stoff zu einem bündigen, den Schluß eines Aktes bündig krönenden Finale darböte. Auch noch ein Nebenumstand trug vielleicht nicht wenig bei, den Effekt der hiesigen Darstellung zu schwächen; es waren die modernen österreichischen Uniformen. Des Anachronismus gar nicht zu erwähnen, so ist schon überhaupt in der Oper, (wenigstens in der nicht komischen) alle Beziehung auf moderne Zeit, und wirkliche jetzige Welt, möglichst zu vermeiden, damit es dem Zuhörer desto weniger schwer werden möge, sich in jene ideale Welt zu versetzen, wo Sprache Gesang ist. Eben darum eignen sich Geschichten der Ur- und Fabelwelt, der Griechen- und Römerzeiten, vorzüglich zur Oper: und eben darum ist es wichtig, daß wenn auch eine Oper in spätern unserm Zeitalter näher liegenden Zeiten spielt, doch der verschönernde Schleier der Vergangenheit nie ganz hinweggezogen, daß vielmehr jeder Nebenumstand vermieden werde, welcher den Zuhörer in die kalte wirkliche jetzige Zeit zurückversetzt. #lb#G. Giusto