## Title: Reaktion Müllners auf Webers 1. Aufsatz zum Lied der Brunhilde in “König Yngurd” ## Author: Adolph Müllner ## Version: 4.11.0 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A031065 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Der Sinn einer Rede kann durch Betonung verändert werden. Die Schrift hat für die Betonung keine sichern Zeichen. In einer geschriebenen Rede kann also der Leser gar leicht einen andern Sinn finden, als der Autor hineingelegt hat. In den geschriebenen Worten: Sein Leichenstein will ich seyn (je serai sa tombe) kann der zweifache Sinn gesucht werden: c’est moi qui sera sa tombe, und c’est sa tombe que je serai. Jener würde nicht viel mehr sagen, als was Brunhilde früher viel deutlicher zu erkennen giebt: daß es der Schmerz um Oscars Verlust ist, der sie wahnsinnig macht, z. B. S. 289. »Ach Gott! Ich weiß nicht wo er ist geblieben,Und seit er fort ist, weiß ich alles schlecht.«Der zweite Sinn setzt diesen Umstand als bekannt voraus, und giebt dem Leser ein Bild, welches durch diesen Umstand in der zerrütteten Einbildungskraft Brunhildens entsteht: sie will Oscars Leichenstein seyn, der dem Todten immer nah, und ihm immer treu ist. Sie nimmt auch unmittelbar nach dem Liede S. 297. (der Göscheschen, nicht der Schaumburgschen Ausgabe) eine Stellung [ein], welche dieser ausschweifenden Vorstellung gemäß ist. Die Musik erweckt unmittelbar nur Gefühle. Bilder zur Anschauung der Phantasie kann sie nur mittelbar (durch Verbindung der Erfahrungen im Gedächtnisse) hervorbringen, ohngefähr wie wir den Tamino und die Schlange im Geiste sehen, wenn wir die Musik hören, welche diese Opernerscheinung stets begleitet. Hier also muß sie, nach meinem Dafürhalten, ihre Macht bezähmen, um die Wirkung der bildlichen Anschauung nicht zu stören, welche die Absicht dieser drei Verse ist. Dies thut unfehlbar eine solche Eintheilung des chromischen Notengewichtes, welche den ursprünglichen Sinn der Rede unkenntlich macht. Was mit dem Reize des Tones dieser Noten zu wirken ist, muß, sollte ich meinen, auch dann gewirkt werden können, wenn ich und ihm, gegen die vorangehenden Wörtchen will, bei und treu gehalten, die kürzeren Noten bekommen. Ueberhaupt scheint es wenig gekannt zu seyn, und wenig bedacht zu werden, daß alle musikalischen Verhältnisse der Noten, der Töne, und der Tonarten geometrische Verhältnisse, (wie die sogenannten Brüche ½, ¼, 1/8, 1/16 u. s. f.) die Verhältnisse der Sylben, Betonungen und Modulationen in der Rede aber arithmetische sind, d. h. Differenzen, wie a/a – x, a – x + y u. s. f. Daher kommt es, daß die Musik den prosodischen Gang der Verse, wie er in guter, sinngemäßer Recitation hervortritt, nicht genau begleiten kann; denn sie hat zur Begleitung der Sylbenquantität nur Brüche, deren Exponent die 2 ist (eine 1/3, 1/5 Note z. B. giebt es nicht), während der Redende die Zeitverhältnisse der Sylben viel feiner und unmerklicher abstufen kann. Aber umkehren darf sie diese Zeitverhältnisse darum keinesweges, und was in der Rede wie 1 zu 1 + x sich verhält, darf in der Musik nicht wie 1 zu 1/x sich verhalten. Das Recht der Wiederholungen, im Allgemeinen scheint mir tief in der Natur des Gesanges, zumal eines Wiegenliedes, gegründet, und hier dünkt mir die Wiederholung bei: »Mutter singt,« auch in der Rede am Platze, weil dieselbe eben in Gesang übergeht. Sonst aber halte ich dieses Hülfsmittel der Musik großen Mißbrauchs fähig. Es ist eines von denen, wodurch die Göttlichkeit der Kunst um den Ruhm einer handwerksthümlichen Zunftmeisterschaft schnöde verhandelt zu werden pflegt.“