## Title: Webers Tagebücher – Anlage, Überlieferung, Edition ## Author: Frank Ziegler ## Version: 4.13.0 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A090212 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Die Tagebuchaufzeichnungen, die Carl Maria von Weber vom 26. Februar 1810 bis zum 3. Juni 1826 (anderthalb Tage vor seinem Tod) unter wechselnden Jahrgangs-Titeln (Tagebuch der Reise … / Tagebuch des Jahres … / Notizen und AusgabeBuch des Jahres … / Tage und Ausgabebuch des Jahres … / Notizen und Ausgaben des Jahres … o. ä.) konsequent führte, sind ein kaum zu überschätzender Glücksfall für die Weber-Forschung, erlauben sie doch einen quasi ungefilterten Blick auf den Alltag eines Künstlers, gleichermaßen auf sein Leben und Schaffen. Hans Schnoor sah in ihnen eine „lebensgeschichtliche Quelle von höchster biographischer Bedeutung“, einen „Rechenschaftsbericht, wie er in dieser Form von keines Meisters Hand existiert“, und Friedrich Herzfeld urteilte etwas überspitzt: „Wir können bis auf Tag und Stunde genau verfolgen, welche Opern Weber nicht nur besucht, sondern auch studiert hat. Webers Lebenslauf läßt sich also bis in alle kleinsten Einzelheiten noch feststellen“. Freilich enthalten die Tagebücher, wie es Webers Sohn Max Maria formulierte, keine „ausführliche[n] Niederschriften im Memoirenstyle, etwa nach der Art der Varnhagen’schen“. Nur für den persönlichen Gebrauch vorgesehen und nicht auf Außenwirkung bedacht, fehlt den Aufzeichnungen jeglicher literarische Anspruch, dafür sind sie gänzlich frei von jeder Form von Selbstdarstellung oder -inszenierung, in ihrer Sachlichkeit und der oft geradezu lakonischen Kürze der Notate sozusagen ,Weber pur‘. Wer in den Tagebuchnotizen umfangreichere ästhetische Äußerungen sucht, wird bei der Lektüre enttäuscht sein; bereits Max Maria von Weber beklagte, dass sich in ihnen neben den von seinem Vater „mit der Genauigkeit eines Staatskassieres geführten Verrechnungen seiner Einnahmen und Ausgaben […], welche die Aufwände für die verschiedenen Branchen des Hausstandes, Kleidung, Wäsche, Bücher &c. nachweisen“, nur „sehr kurze Notizen über die Ereignisse des Lebens“ und extrem selten „eine flüchtige Reflexion“ fänden. Werturteile über besuchte Theatervorstellungen, Konzerte oder die Werke anderer Künstler (Musik wie Literatur) gehen tatsächlich selten über ein oder zwei Worte („äußerst brillant“, „gut“, „glatt“, „elend“ oder ähnlich) hinaus; in dieser Beziehung enthalten Webers Briefe und Schriften wesentlich substantiellere Aussagen. Absolute Ausnahmen bleiben im Tagebuch Selbstreflexionen über das eigene künstlerische Wirken (z. B. am 13. Mai 1812). Umso wichtiger sind die zahllosen Hinweise, die die Entstehung fast aller Kompositionen aus dem genannten Zeitraum bis in Details, wenn auch nur schlaglichtartig, nachvollziehbar machen und die Verbreitung dieser Werke (Drucklegung, Verkauf von Partiturkopien etc.) illustrieren. Zur Anlage der TagebuchnotizenAuslöser für das Tagebuchschreiben war ein für Weber traumatischer biographischer Einschnitt: Am Ende seiner Tätigkeit in Württemberg in dubiose Machenschaften seines Dienstherren verstrickt und selbst hoch verschuldet, begann Weber nach Prozess und Arrest direkt am Tag seiner Landesverweisung mit den Notizen; sie waren ihm sozusagen ein Instrument der (besonders finanziellen) Selbstdisziplinierung, deren Akribie Max Maria von Weber zu Unrecht mit der Pedanterie eines Buchhalters verglich, und der künstlerischen Selbstvergewisserung. Diesen Anspruch verdeutlicht speziell die „Moralische Uebersicht des Jahres 1810“, die den ersten Jahrgang beschließt und in der Weber den 26. Februar 1810 selbst als Beginn „eine[r] neue[n] Lebens Epoche“ bezeichnet. Die ,Selbsttherapie‘ mittels Rechenschaftslegung im Tagebuch war tatsächlich erfolgreich: Bis 1816 gelang es Weber, die nicht unerheblichen Schulden in Stuttgart vollständig zu tilgen. Dass er auch danach am Tagebuchschreiben festhielt, beweist, wie wichtig und selbstverständlich ihm diese Art der persönlichen ,Buchführung‘ inzwischen geworden war: Er behielt auf diese Weise nicht nur einen Überblick über finanzielle Verpflichtungen, noch ausstehende Zahlungseingänge und Geldanlagen bei Bankhäusern, sondern auch über seine umfangreiche Korrespondenz, über Absprachen mit Verlegern und vieles mehr. Zudem dienten ihm die Tagebuchnotizen nicht selten als Vorlagen zum Briefschreiben; besonders in den Briefen an seine Braut und spätere Ehefrau Caroline Brandt / von Weber findet sich nicht selten der Begriff des ,Tagebuch-Referierens‘, gemeint ist das tageweise Beschreiben seiner Erlebnisse und Aktivitäten, sichtlich (bis hin zu Formulierungen) angelehnt an die Tagebuchnotizen, die sozusagen den Erinnerungs-Leitfaden lieferten. So detailliert man Webers Alltag auch nachvollziehen kann, darf man freilich nie – hier muss man Herzfelds Begeisterung über den lückenlosen Einblick in Webers Biographie (siehe oben) zumindest hinsichtlich der Absolutheit widersprechen – von einer Vollständigkeit oder gar Konsequenz der Mitteilungen ausgehen; ihr gänzlich privater Charakter bedingt, dass Weber nur das ihm Wichtige festhielt, zudem in einer für ihn (teilweise nur für ihn) nachvollziehbaren Form (auf andere Leser musste keine Rücksicht genommen werden; vielfach sind Kürzel oder Chiffren verwendet, deren Form immer wieder wechselt und keineswegs konsequent durchgehalten wird). Weder die zahlreichen Korrespondenznachweise noch die Hinweise auf soziale Kontakte sind als komplett anzusehen: Es sind etliche Briefe Webers überliefert, deren Nachweis im Tagebuch fehlt (zudem gibt es zahllose Datumsdiskrepanzen zwischen den Briefen und den dazugehörigen Tagebucheinträgen), und immer wieder sind in Briefen, Erinnerungen von Zeitgenossen oder ähnlichen Quellen Begegnungen mit Weber thematisiert, die er selbst in seinem Tagebuch nicht erwähnte (also die er keiner Erwähnung für wert befand oder schlicht vergaß). Selbst das erste Zusammentreffen Webers mit E. T. A. Hoffmann am 3. März 1811 in Bamberg hinterließ in den Tagebuchnotizen erstaunlicherweise keinerlei Spuren. Und trotzdem ist der Detailreichtum, der uns an Webers Leben und Wirken teilhaben lässt (bis hin zu fast voyeuristischen Einblicken in seine häufig wechselnden Frauenbekanntschaften vor seiner Verlobung mit Caroline Brandt) übergroß. Nicht nur hinsichtlich der Weber-Biographik, seiner beruflichen Tätigkeit als ausübender Musiker bzw. Kapellmeister und der Genese seiner Werke ist das Tagebuch eine Quelle ersten Ranges; auch fachfremde Forscher finden hier ein unerschöpfliches Reservoir an Informationen: Für Soziologen, Historiker, Theaterwissenschaftler, Germanisten u. a. können die Aufzeichnungen einen repräsentativen Informationspool bereithalten. So ist die Prager Theatergeschichte zwischen 1813 und 1816 aufgrund des Fehlens der Theaterzettelüberlieferung und der Lückenhaftigkeit der Presseberichterstattung nur unter Rückgriff auf zwei Weber-Quellen genauer zu rekonstruieren: Neben dem Prager Notizen-Buch (quasi den dienstlichen Protokollen, angelegt für den internen Theatergebrauch) bieten Webers private Tagebücher durch die Hinweise auf Vorstellungen, an denen Weber als Dirigent beteiligt war bzw. die er besuchte, wesentliche Informationen zur Rekonstruktion der Spielpläne. Zur ÜberlieferungEs ist einer glücklichen Fügung zu danken, dass dieser Schatz an Informationen überhaupt bis zum heutigen Tag erhalten blieb, denn der gänzlich private Charakter der Notizen bedingte auch, dass die Tagebücher – so sah es zumindest Weber selbst – nach seinem Tod ihre Relevanz verloren. In seinem quasi testamentarischen Brief vom 10. Februar 1822 hatte Weber seine Frau Caroline ausdrücklich angewiesen: „Meine alten Tagebücher verbrenne ungelesen.“ An diese Weisung fühlte sich die Witwe gebunden. So drohte den Tagebüchern nach einer Zeit der ersten Trauer, in der ein solches ,Autodafé‘ für Caroline von Weber mental noch einen zu großen Kraftakt bedeutet hätte, wenige Jahre nach Webers Tod tatsächlich die Vernichtung. Der junge Friedrich Wilhelm Jähns, der 1829 als glühender Weber-Verehrer erstmals mit der Familie von Weber in Kontakt trat, konnte, glaubt man seinen späteren Berichten, Caroline von Weber davon überzeugen, dem letzten Willen des Verstorbenen nicht zu folgen. Ausführlich beschrieb Jähns mit fast 50 Jahren Abstand – im Brief an Robert Musiol vom 2. April 1877 – seinen Einsatz: Nur durch sein „inständiges Bitten u. Flehen, ja Beschwören, wurde das Damokles-Schwert abgelenkt“, und das zunächst aus reiner Pietät, ohne Kenntnis des Inhalts. Erst später (1836), als ihm die Witwe die Lektüre der Tagebücher gestattete, erkannte er tatsächlich, „welch’ einem Schatz für die Kunstgeschichte der Untergang gedroht hatte“. 1841 bewirkten Anfragen von Seiten des Verlegers Heinrich Schlesinger, dass Caroline von Weber sich nochmals mit der Frage des Umgangs mit den Tagebüchern beschäftigte; wieder drohte die Vernichtung, doch die Aufzeichnungen entgingen erneut diesem Schicksal. Die Tagebuch-Manuskripte blieben bis Mitte des 20. Jahrhunderts in Familienbesitz der Webers und waren für die wissenschaftliche Forschung weitgehend unzugänglich. Zwar werteten Max Maria von Weber (für sein Weber-Lebensbild) und Jähns (für sein Werkverzeichnis) die Notizen aus, doch eine vollständige Publikation eines derart privaten Zeugnisses erachtete die Familie zunächst wohl als Sakrileg. Max Maria von Weber bewertete zudem aufgrund der „abgerissene[n]“ Notizen seines Vaters „auch nicht eine Seite des Tagebuches zum Abdrucke [für] geeignet“ und erkannte ihren „unschätzbare[n]“ Wert lediglich in ihrer Funktion als „Unterlagen für [die] Darstellung von Weber’s sehr genau darin verzeichneter Thätigkeit, das Studium seiner Verbindungen, seiner Correspondenz, und zur Feststellung der Daten“. Auskünfte an Wissenschaftler wurden von der Familie auf Anfrage erteilt (besonders von der Urenkelin Mathilde von Weber ist eine diesbezügliche Korrespondenz dokumentiert), doch nach Jähns, der quasi als ,Familienmitglied‘ betrachtet wurde, wurde – abgesehen von Friedrich Herzfeld, der eine erste kurze inhaltliche Bestandsaufnahme der Tagebücher publizierte, – wohl erst dem Weber-Forscher Hans Schnoor wieder ein umfangreicherer Zugang zum Weber-Archiv gewährt. Das änderte sich erst in den 1950er Jahren, als Mathilde von Weber der Berliner Staatsbibliothek auf Initiative von Wilhelm Virneisel zunächst (spätestens 1954) einen kompletten Mikrofilm der Tagebücher zur Verfügung stellte, nach welchem eine vollständige Fotokopie erstellt werden konnte, und dann speziell 1956, als Mathilde von Weber in Abstimmung mit dem Erben Hans-Jürgen von Weber testamentarisch verfügte, dass der gesamte sogenannte Weber-Familiennachlass (und damit auch die Tagebücher) nach ihrem Tod (1956) als Depositum in der (Ost-)Berliner Deutschen Staatsbibliothek verwahrt werden solle, wo er in der Folge der Forschung zur Verfügung gestellt werden konnte. Per Schenkung von 1986 durch Hans-Jürgen von Weber wurde die Bibliothek dann auch Eigentümer, verbunden mit der Selbstverpflichtung, den Weber-Nachlass wissenschaftlich auszuwerten. EditionsprojekteMit der Schenkung wurde die Idee einer Gesamtpublikation der Tagebücher erneut aufgegriffen. Zweimal waren entsprechende Vorhaben bereits gescheitert: Hans Schnoor wollte gemeinsam mit Hans Joachim Moser und Wilhelm Virneisel in den 1950er Jahren eine Weber-Brief- und -Tagebuchausgabe ins Leben rufen, an der Mathilde von Weber, die bereits handschriftliche Übertragungen zu einigen Teilbereichen zusammengestellt hatte, als Mitherausgeberin mitwirken sollte. Schnoor dienten die Tagebücher besonders zum Erstellen von Briefregesten (als Vorarbeit zur geplanten Briefausgabe). Aufgrund mangelnden Verlagsinteresses blieb es bei diesen noch nicht weiter konkretisierten Plänen und fragmentarischen Vorarbeiten. Einen zweiten ,Anlauf‘ versuchte Franz Zapf in Dresden, der im Zuge seiner Neugestaltung der Weber-Gedenkstätte in Hosterwitz (1957) auf die Tagebücher aufmerksam geworden war und ab 1963 die systematische Vorbereitung einer Edition betrieb. Bei seinem überraschenden Tod 1966 lagen immerhin maschinenschriftliche Übertragungen des Gesamtkorpus vor – ungeachtet zahlreicher Übertragungsfehler eine beachtliche Leistung! Bei der Kommentierung war Zapf allerdings über Vorarbeiten zu den Jahrgängen 1810 bis 1812 und 1817 nicht hinausgekommen. Der Deutsche Verlag für Musik in Leipzig erwarb zwar 1969 ein maschinenschriftliches Manuskript, engagierte sich aber nicht für einen Abschluss der Fragment gebliebenen Arbeit. Bereits im Vorfeld der Nachlass-Schenkung von 1986 initiierte Wolfgang Goldhan, der Leiter der Musikabteilung der Deutschen Staatsbibliothek, in Hinblick auf das Jubiläumsjahr (Webers 200. Geburtstag) etliche Weber-Projekte (gedruckter Autographenkatalog, Edition der Braut-Briefe Webers, Lieder-Edition) und griff schließlich auch den Vorsatz der Tagebuch-Drucklegung erneut auf, der aber erst mit den Planungen für eine neue Weber-Gesamtausgabe Gestalt annahm: Seit 1992 wird dieses Vorhaben – zunächst ,analog‘ geplant und in Angriff genommen, schließlich im Verbund mit der Brief- und Schriftenausgabe als genuin digitale Edition umgesetzt und (nach vorläufigen elektronischen Probe-Editionen ab 2008) seit 2011 auf der Homepage der Weber-Gesamtausgabe für die interessierte Öffentlichkeit in verschiedenen Bearbeitungsstufen frei zugänglich – in der Berliner Arbeitsstelle durch Dagmar Beck betrieben, die eine erneute Gesamt-Übertragung nach den Originalen vorlegte. Seit 2022 wird sie von Frank Ziegler vorrangig bei der Kommentierung unterstützt (Einzelstellen- sowie Themenkommentare; Personen-, Werk- und Ortsauszeichnungen mittels Verlinkungen inklusive Ausbau der entsprechenden Datenbanken; Verweisungen auf inhaltlich ergänzende bzw. in Einzelfällen auch korrigierende Hinweise in Briefen, Dokumenten und Schriften; Querverweise bei inhaltlichen Bezügen von zeitlich voneinander getrennten Tagebuchaufzeichnungen zum selben Sachverhalt). Die Berliner Staatsbibliothek fertigte 2016 von allen Tagebuch-Jahrgängen Digitalisate an, die nicht nur über den stabikat der Bibliothek frei einsehbar sind, sondern auch direkt von der Edition aus (als Faksimileansicht) angesteuert werden können. #lb#Frank Ziegler