Rezension und Erstaufführungsbesprechung Hamburg: „Preciosa“ von Carl Maria von Weber am 8. Oktober 1821 (Teil 1 von 2)

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Preciosa,

romantisches Schauspiel in 4 Aufzügen, von P. A. Wolf. Mit Chören und Tänzen, componirt von C. M. von Weber.

(Zum erstenmale den 8ten Oktober!)

Cervantes, der Dichter des Don Quixote, gab, als er schon sein fünf und sechzigstes Lebensjahr erreicht hatte, noch eine Sammlung lehrreicher Novellen (Novelas exemplares*) heraus, zwölf anmuthige Erzählungen, in denen die Liebe, mit Zartheit geschildert, der Hauptinhalt ist und seltsame Abenteuer den leidenschaftlichen Gefühlen zur Einfassung dienen. Cervantes bereicherte dadurch die Litteratur Spaniens mit einer Gattung, die bis dahin ihr fremd geblieben war, und ob er schon durch die Form an die Novellen Bacaccio’s erinnerte, so entfernte er sich von diesem doch gar weit durch Behandlung und Einkleidung, so wie durch den practischen Sinn, der in diesen Erzählungen vorherrschet.

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Gleich die erste dieser Novellen, la Gitanella oder die Zigeunerin betitelt, giebt uns eine mit Treue und Lebendigkeit geschriebene Schilderung der Lebensweise dieser ehedem durch ganz Europa verbreiteten Menschenraçe. Ungefähr gegen die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, und besonders seit 1417 wurde dieses unstet wandernde Volk zuerst bekannt in der Moldau, Wallachey und Ungarn, von wo aus es so sich immer weiter verbreitete. Man nannte sie abwechselnd Cingarier, Aegyptier, Böhmen &c. Ihre mannigfaltige Aehnlichkeit mit hindostanischen Stämmen hat es wahrscheinlich gemacht, daß sie ein durch die Revolution, welche Timurs Kriege in Indien verursachten, verdrängter Stamm der Pareias gewesen seyen, der durch das nachherige Vordrängen der Osmanen weiter zu gehen genöthiget wurde. *) Seitdem haben sie bis auf die neuesten Zeiten fortgefahren, unter den Völkern herumzuschweifen, unbekümmert um die gesellschaftlichen Gesetze der Verfassungen, sich nährend von kleinen Betrügereyen, vom Aberglauben der Völker oder durch Ergötzung bey Spielen und Festen. Allmählig sind sie aus Deutschland, wo noch vor dreißig Jahren kleinere Gesellschaften herumzogen, durch die strenger gewordene Polizey verschwunden, eben so aus Frankreich und Italien. In zahlreicher Menge sind sie noch in einzelnen Theilen Englands, häufig in Pohlen, Ungarn und Rußland. Viele lebten in Spanien, wo die Milde des südlichen Himmels, die grosse Menge unangebaueter Gegenden das freye, nomadische Leben, welches diese Menschen aus dem Morgenlande mitgebracht haben, wohlthätig begünstigten. Die Schilderung, die Cervantes von ihnen macht, ist höchst anziehend, und um so frischer und vollständiger, je freyer | damahls der Charakter dieser Gesellschaften, die zahlreicher und zwangloser lebten, sich dem Beobachter zeigte.

„Wir sind Herren der Felder[“], – so heißt es in der Schilderung, welche der Zigeuner-Vater bey der Aufnahme des Ritters, der um Preciosa’s Liebe willen zu der Gesellschaft tritt, von ihrer Lebensart entwirft, – „wir sind Herren der Saaten, der Wälder, der Berge, der Quellen und der Flüsse. Unentgeldlich liefern uns die Berge Brennholz, die Bäume Früchte, die Reben Trauben, die Gärten Gemüse, die Quellen Wasser, die Flüsse Fische und die Forste Wildpret, Schatten die Felsen, kühle Luft die Klüfte und Wohnung die Grotten. Für uns ist die Ungunst des Himmels ein Zephyr, Kühlung der Schnee, der Regen ein Bad, der Donner Musik und der Blitz eine Leuchte. Für uns ist der harte Erdboden ein weicher Federpfühl, die abgehärtete Haut unseres Körpers dient uns zum undurchdringlichen Panzer, der uns beschirmt; unsere Behendigkeit hemmen keine Gitter, hindern keine Gräben, versperren keine Mauern; unsern Muth bindet kein Strick, mindert keine Schraube, erstickt keine Folter, bezwingt keine Marter. Zwischen Ja und Nein machen wir keinen Unterschied, wenn es uns zusagt; immer finden wir es rühmlicher, Martyrer, als Beichtiger zu seyn.“ – „Zu Sternkundigen hat uns die Natur gemacht; denn da wir unter freyem Himmel schlafen zu allen Stunden, so wissen wir auch, wie weit es am Tage oder bey der Nacht ist.“ – Als der Ritter hinzugeht, stellt ihm der Vater noch frey, unter den Mädchen zu wählen die, welche ihm am meisten gefalle. „Aber du mußt wissen, – fährt er fort, – daß, wenn du einmal gewählt hast, du sie nicht für eine andere hingeben darfst; auch darfst du nicht mit den Frauen noch mit den Mädchen dich in heimliche Einverständnisse einlassen. Unverbrüchlich halten wir das Gesetz der Freundschaft; keiner begehrt das Eigenthum des andern; wir | leben frei von der herben Pest der Eifersucht unter uns, denn es giebt, so wenig wir auch keusch sind, keinen Ehebruch bey uns; und wenn sich dergleichen findet bey unserem eigenen Weibe oder ein Trug bey der Freundin, so gehen wir nicht vor Gericht, Bestrafung zu verlangen; wir selbst sind die Richter und Bestrafer unserer Frauen oder Freundinnen; mit gleicher Leichtigkeit bringen wir sie um, und begraben sie in den Gebirgen und Wüsteneyen, als wären es schädliche Thiere; kein Verwandter rächt sie, kein Vater fodert Rechenschaft über ihren Tod. Um dieser Furcht und Besorgniß willen bemühen sie sich, keusch zu seyn, und wir, wie ich schon gesagt habe, leben sicher. Wenige Dinge haben wir, die nicht allen gemeinsam wären: nur nicht das Weib oder die Freundin.“ –

Unter diesem seltsamen Haufen war nun, nach Cervantes Erzählung, Preciosa, eine funfzehnjährige Schönheit, die mit drey anderen jungen Mädchen gleichen Alters von einer Alten geführt wurde. Sie kam täglich in die Straßen von Madrid, an die öffentlichen Orte, um zur baskischen Trommel zu tanzen und durch ihre Gesänge und improvisirten Reimzeilen so Herren als Damen zu belustigen. Ihr feiner Anstand, der sie von ihren Gespielinnen auszeichnete, die Fertigkeit und muntere, witzige Laune in ihren Antworten gewannen ihr die Zuneigung Aller. Selbst bey frommen Festen erschien sie und sang Verse ab zu Ehren der Heiligen und der Jungfrau Maria. Da gewann ihre Artigkeit das Herz eines jungen, liebenswürdigen Ritters, ausgezeichnet durch Gestalt und Reichthum: aber sie schlug ihn aus, wenn er sich nicht durch zweyjährige Prüfung, die er unter den Zigeunern selbst verleben müsse, das Recht auf ihr Herz erkaufen könne. – Da sich endlich findet, daß sie die Tochter einer vornehmen Familie ist, wird sie anerkannt und heirathet ihren Liebhaber. |

Es konnte nicht fehlen, daß diese anmuthige Novelle voll ächt romantischen Lebens mancherley Nachklänge und Nachbildungen finden würde, wie wir schon in unserer vaterländischen Litteratur dergleichen erhalten haben. Wem muß nicht die kleine Zigeunerin Lassarilla* dabey ins Gedächtnis kommen? Noch lieblicher und phantastischer ist das „schöne Kordelchen,“ mit welcher uns der phantsiereiche Ernst Wagner in seinen reisenden Mahlern bekannt gemacht hat*. Herr P. A. Wolf, früherhin Mitglied der Bühne zu Weimar, jetzt der zu Berlin, hat den eigentlichen Inhalt der spanischen Novelle mit allen ursprünglichen Eigenthümlichkeiten bereits vor einigen Jahren in ein Schauspiel gebracht gehabt, das damahls auch auf hiesiger Bühne gegeben worden ist*, ohne sonderlichen Beyfall zu erhalten. Jetzt erscheint es in einer ganz neuen Gestalt in Anlage und Einkleidung*, und mit unterstützenden Mitteln ausgerüstet*, an welche früherhin nicht gedacht worden war. Mit diesen letztern kann es nirgends des Beyfalls, zumahls gemischter Zuschauer verlustig gehen, wo irgend einige Sorgfalt in scenischer Ausstattung und Zurüstung auf das Stück verwandt wird, und es ist zu glauben, daß es auch hier eine Zeitlang eine Art von Cassenstück bleiben werde.

Mit dem Gedichte darf es in solchen Fällen die Kritik nicht sehr genau nehmen. Wie der Inhalt der Fabel an sich da liegt, ist weder das Interesse bedeutend genug, noch auch die Verwickelung der Ereignisse so anziehend, daß dadurch die Aufmerksamkeit in besonderer Stärke beschäftiget werden könnte. Alles wird da auf die Ausstattung der Hauptheldin selbst ankommen, welche Ausstattung wohl mehr im Aeusseren, als in der psychologischen Darstellung anzubringen war. Die Handlung ist nur einfach: Erscheinung der Preciosa, die Liebe des Ritters zu ihr, endlich ihre Wiedererkennung – das ist sie die Angel, um welche sich das Ganze dreht. Die Phantasie kann hie und da nur aus|staffiren; hinzuthun, was zum Wesen der Sache gehörte, was die poetische Gestalt erhöhete und veredelte, kann sie nichts. Darum ist der Inhalt der Dichtung mager, die geistige Thätigkeit wenig, oder nur sehr oberflächlich beschäftigend, – nüchtern und leicht vergänglich.

Dagegen verbleiben der Arbeit manche andere, sehr schätzenswerthe Eigenschaften unbestreitbar. Zunächst ist der romantische Geist der Novelle mit allen fein schattirten Zügen mit einer sehr zarten Empfänglichkeit aufgefaßt und rein und unverfälscht wiedergegeben: das bunte, wirre Treiben der unsteten Truppe, das Halbdunkel ihrer Lebensart, das Mysteriöse und Abenteuerliche, das sich in Gestalten, Worten und Handlungen so eigenthümlich ausdrückt: – das Ahndungsvolle dieser eigenen Gattung der Poesie, das bey weitem weniger in klaren bestimmten Worten sich bezeichnen, als nur mit gleicher Reizbarkeit der Seele empfinden läßt. Zudem hat der Dichter ein Verdienst für sich, das auch in einem anderen Zweige der Poesie, als in dem der Romantik, ja in jenem noch vorzüglicher geschätzt wird, das einer reinen, correcten Sprache, eines sehr regelrechten Versbaues und eines sorgfältigen Fleißes in Beachtung der Reinheit und Harmonie der Metaphern, wozu nun, hier an der rechten Stelle, das Bemühen hinzugekommen ist, in der Bildersprache selbst den Charakter der südlich-spanischen Poesie so getreu, als möglich, auszudrücken. Das konnte auch einem poetisch-fühlenden Gemüthe, nach dem Vorbilde der epischen Dichtung des Cervantes, nicht entgehen. Endlich durfte vorausgesetzt werden, bey einem Manne, der, wie der Verfasser, als genauer und sorgsamer Bühnenkenner und Bühnenleiter bekannt ist, daß er auf theatralische Eintheilung und Wirksamkeit verständige Rücksicht genommen haben werde. Und davon giebt jede Abtheilung dieses Schauspiels die achtungswerthesten Belege.

Wohl aber muß der zu dieser Dichtung hinzugekom|menen Musik von dem geistreichen Tonsetzer Carl Maria von Weber für das Gelingen des ganzen Stücks mit Erkenntlichkeit gedacht werden. – Der romantische Charakter scheint überhaupt die eigentliche Sphäre zu sein, in welcher dieser Componist mit Freyheit und Wohlgefallen sich bewegt. Nichts kann in innigerer Harmonie stehen, als diese Dichtung mit ihrer musikalischen Begleitung, bey welcher man es gern vergißt, daß letztere ihres eigenen Adels vergessend, einer nicht eben vorherschenden Kraft sich unterordnet und dienend ihr zur Seite gehet. Die Ouverture deutet in einer klaren und vollständigen Uebersicht den Inhalt des folgenden Ganzen an. Die melodramatische Behandlung der Monologe, die Preciosa spricht, ist meisterhaft instrumentirt und herrlich gedacht und empfunden; eben so sind auch die Zigeuner-Chöre, besonders im zweyten Acte, charakteristisch, tief gefühlt, reich und lebenvoll ausgeführt, wahrhaft genial. Die spanischen Tänze sind leicht, gefällig, und durchaus nationell. Die Dichtung erhält durch diese Musik ihre eigentliche Stütze and Tragung.

Was sonst zu bemerken, läßt sich auf die kurze Uebersicht der Darstellung mit beschränken. Dabey ist im Allgemeinen zu erinnern, daß für die äussere Zurüstung, Scenerie, Costumirung u. dgl. das hier Mögliche und Anwendbare geleistet worden ist. Das Zigeunerlager im zweyten Acte ist gut und sehr charakteristisch angeordnet und nimmt sich vortheilhaft aus. Das erleuchtete Schloß im letzten Acte ist gleichfalls nach Maaßgabe des Raumes verständig ausgeführt und macht Herrn Maubert Ehre. An dem Prospect des Schlosses im dritten Acte fällt ein Mangel in der Zeichnung der Thürme störend in die Augen, die auf der einen Seite durch unten weggefallene Mauer dem Einsturz drohen. – In der Costumirung ist Manches zu loben. Doch wäre schon die Kleidung der Preciosa, so geschmackvoll sie seyn mag, phantastischer | zu wünschen. Demnächst begreift man nicht, warum ausser der einzigen Zigeuner-Mutter – die von Mad. Mentschel ganz meisterhaft repräsentirt wird, – alle übrigen Zigeuner und Zigeunerinnen die eigentlich ihnen zukommende Färbung der Gesichter verschmähet haben, die sich immer so einrichten läßt, daß die natürliche Schönheit sich noch geltend machen kann? So ein „gefärbtes, schlankes, schwarzäugiges Ding“, als Wagner fein Cordelchen mahlt, (die reisenden Mahler, Th. I. S. 10. ff.) hat auch in der Nachbildung seine ehrenwerthen Reize! –

In der Anordnung der Tänze hat Herr Weidner abermals seine Kenntniß eben sowohl des Charakteristischen und des Schicklichen, als des musikalischen Rhythmus bewährt und mit den Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, das mit irgend einiger Billigkeit zu fodernde geleistet. Die Tänze sind national, dem Inhalte angemessen, und recht gut eingeübt, wie die wirkliche Ausführung beweiset. Es geschieht nichts über die Gebühr, wie da, wo die Balletwuth zu Hause ist: es geschieht aber auch eben genug, um die Darstellung in ihrer kunstgerechten Würde zu erhalten. – Unter den einzelnen Tänzerinnen zeichnet sich in den beyden letzten Acten die junge Julie Lichtenheld abermahls sehr vortheilhaft aus.

Die Chöre sind recht fertig einstudirt und werden, was wir jetzt so selten hören, mit einer Art von Präcision gesungen. Ist das bloß der Reiz der Neuheit, der eine so außerordentliche Erscheinung zu bewirken im Stande ist? –

Preciosa wird von Madame Lebrun gegeben. Im Ganzen sehr gut! Die treffliche Künstlerin, deren Gemüth sich gerade in diesen romantischen Gebilden immer reiner und offener entfaltet, weiß sich ganz in diese Charaktere zu versetzen und daher trägt ihre Darstellung durchaus das Gepräge der Innigkeit und Wahrheit tiefer, ergreifender Leidenschaft, sanfter Schwärmerey und der ächten Anmuth, der Zeichnung getreu, wie sie schon von Cervantes entworfen war.

(Der Beschluß folgt.)

[Originale Fußnoten]

  • *) Novelas Exemplares. Mad. 1613. 4. und öfter. Eine neue Ausgabe verlegte Antonio Sancha. Madrid 1783. Sie sind in alle Sprachen übersetzt, S. die Litteratur dieser Uebersetzungen in Blankenburgs Zusätzen* &c. Th. I. S. 514.
  • *) S. Grellmann’s histor. Versuch über die Zigeuner &c. Göttingen, 1787. 8. nebst einem Aufsatz von Kraus in der Berliner Monatsschrift, 1793. Februar und Aprilheft.

Apparat

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Amiryan-Stein, Aida

Überlieferung

Textkonstitution

Einzelstellenerläuterung

  • „… dieser Uebersetzungen in Blankenburgs Zusätzen“Christian Friedrich von Blankenburg, Litterarische Zusätze zu Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste, 3 Bd., Leipzig 1796–1798.
  • „… nicht die kleine Zigeunerin Lassarilla“Lasarilla ist die Titelfigur von Kotzebues Schauspiel Die kleine Zigeunerin.
  • „… reisenden Mahlern bekannt gemacht hat“Ernst Wagner, Die reisenden Maler. Ein Roman, 2 Bd., Leipzig 1806.
  • „… hiesiger Bühne gegeben worden ist“Die erste Fassung von Wolffs Preciosa (UA Leipzig 7. Mai 1812) erlebte ihre Hamburger Erstaufführung am 17. September 1813.
  • „… Gestalt in Anlage und Einkleidung“Die erste Fassung ist fünfaktig angelegt und weitgehend in Prosa (mit einigen Vers-Einlagen) abgefasst.
  • „… und mit unterstützenden Mitteln ausgerüstet“Gemeint ist die Schauspielmusik Webers; der Komponist bzw. Arrangeur der bei der Hamburger Preciosa-Aufführung 1813 verwendeten Schauspielmusik ist unbekannt.

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