Aufführungsbesprechung Dresden: „Euryanthe“ von Carl Maria von Weber im Herbst 1824

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Die deutsche Oper scheint in ihren Winterschlaf gesunken zu sein, denn sie giebt nichts, als höchst selten einmal die „Euryanthe.“ Dieses wahrhaft große, geniale Werk unseres Weber, das den neuesten Beweis geführt hat, daß die Deutschen sich gleichsam schämen, sich von einem Landsmanne zweimal nach einander entzücken zu lassen, erduldet auch hier, aber (hört! hört!) nicht vom Publikum, sondern vom ausführenden Personale Chikanen; denn es kann bald dieser bald jener Sängerin halber nicht gegeben werden, obgleich das entzückte Publikum fast jedesmal eine oder die andre auf’s ehrenvollste heraus ruft. Das kommt aber daher, daß die jetzigen ersten Sängerinnen durch Rossinische Opern so sehr verwöhnt sind, daß es ihnen zu schwer fällt, eine so tiefgedachte Musik wie diese, sich so ganz zu eigen zu machen, daß sie sie ohne öftere Wiederholung vorzutragen im Stande wären. Diese Oper wird hier von Seiten der | Euryanthe und Eglantine, der Chöre und des Orchesters wahrhaft meisterlich ausgeführt, obwol Lysiart, ja selbst Adolar, Komparsen und Tänzer noch viel zu wünschen übrig lassen. Dessen ungeachtet aber wirkt sie so außerordentlich auf unser etwas kaltes Publikum, daß nicht nur jedesmal das Haus zum Erdrücken voll ist, sondern daß es stets den lautesten Beifall zu erkennen giebt, was eben hier auffallend erscheint, da das hiesige Publikum, man könnte sagen, zu kommode ist, einem Stücke, welches bei der ersten Darstellung beifällig aufgenommen wurde, mehrmals denselben Beifall zu erkennen zu geben. So geht oft eine Darstellung vorüber, die sehr ergreift, ohne daß man eben viel davon merkt. Würde nun diese Oper überall wenigstens so wie bei uns gegeben, so könnte es nicht fehlen, daß sie überall das größte Glück machen müßte. Aber noch nie ist wol eine Oper so vielfach und so falsch beurtheilt worden. Es ist zwar nicht zu läugnen, daß diese Oper ein viel geübteres und verständigeres Gehör, als das eines gewöhnlichen Korrespondenten, (der bei allem guten Willen denn doch nicht Alles verstehen kann) verlangt; es ist aber eine Schande, daß sich noch kein sachverständiger Kunstrichter gefunden, der es übernommen hätte, in einer musikalischen Zeitung den wahren Werth eines so hohen Kunstwerkes auseinander zu setzen. Man wirft dieser Oper Mangel an Melodie vor. Welche Behauptung! Ist die ganze Introduktion von A bis Z nicht ganz Melodie? und welche Melodie! Enthält das Lied „Glöcklein im Thale,“ die Arie: „O mein Leid ist unermeßlich,“ das Duett: „Ja es wallt mein Herz aufs neue,“ das ganze Finale des ersten Akts; Adolars Arie: „Wehen mir Lüfte Ruh,“ das Duett: „Hin nimm die Seele mein,“ der Chor: „Leuchtend füllt die Königshallen“ u. s. w. – enthält, sagen wir, dies Alles nicht die reinste, schönste, wahrhaft dramatisch wirkende Melodie? Ist nicht alles wahrhaft gefühlt, dem Innersten entquollen? – Doch diese alles wissende Korrespondenten behaupten ferner: „es sei zu viel Gesuchtes, zu viel Streben nach Effekt!“ Nun, wir meinen, hat Weber auch (was er wahrlich nicht nöthig hat) gesucht, so hat er doch auch gefunden. Weber ist ein solches Glückskind, daß sich ihm alles von selbst darbietet, ohne daß er nöthig hätte, viel zu suchen. Uns scheint in dem Tadel viel mehr gesuchtes, als in der ganzen Oper. Bemerken jene Herren nun Effekt, so muß ja doch wohl welcher da sein; und ob der nun gesucht ist oder nicht, das kann wohl jedem gleichviel sein. – Anderweit sagen diese Herren: „es sei doch kein Freischütz!“ Da haben diese Herren seltnerweise einmal eine tüchtige Wahrheit gesagt, denn man kann sich nichts verschiedeneres denken, als diese beiden Opern. Adolar soll doch nicht etwa wie Max, Lysiart wie Kaspar, Euryanthe wie Agathe und Eglantine wie Aennchen singen? – Welch ein Unterschied zwischen Personen, Ort und Zeit! – Ein Modeherr in dem sonst so recht achtbaren Weimar’schen Journal ließ sich sogar vernehmen:*Weber habe bei der Euryanthe einen Weg eingeschlagen, welcher ein Abweg sei, da er der Popularität entgegenstrebe; man könne es nur ¦ (wie Weber selbst) für einen Versuch ansehen.“ Neugierig wären wir denn doch, eine Beweisführung dieses Satzes zu hören. Ist es denn so etwas ganz neues und irriges, statt der Zwischenreden Recitative zu setzen, wo doch die Sänger gezwungen sind, richtig zu deklamiren. Oder hat denn irgend eine Nummer eine so neue Form, daß man den nothwendigen Zusammenhang der Ideen-Durchführung und Einheit darin nicht finden könnte? War denn Mozarts Don Juan, zu der Zeit, wo er ihn geschrieben hatte, weniger populär und ein geringeres Meisterstück, weil man es dazumal nicht verstand, als jetzt, wo es als das erste Muster einer Operndichtung gilt und in aller Welt Munde ist? – Hat Weber aber irgendwo in einem vertraulichen Kreise seine Arbeit einen Versuch genannt, so läßt solche Bescheidenheit seine Größe nur noch mehr hervortreten. Unbescheiden aber finden wir es von einem andern*, ein solches Werk, in welches einer unserer größten Geister seine besten und reichsten Ansichten über Kunst (zu denen er sich durch ununterbrochenes ernstes Nachdenken sein Legelang [sic] aufgeschwungen) niedergelegt hat, einen bloßen Versuch zu nennen. Ein Glück für uns, daß Weber groß genug ist, solche modische Ansichten gehörig zu würdigen, und daß er sich dadurch nicht abhalten läßt, aus der unversiegbaren Quelle seines eigenthümlichen Geistes zu schöpfen. Man gebe nur überall mit Fleiß und Liebe diese Oper; wer sie das erstemal noch nicht ganz faßt, höre sie zwei, dreimal an, und das große Publikum wird sehr bald erkennen, was es von gewöhnlichen Korrespondenznachrichten zu halten hat.

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Apparat

Generalvermerk

Marschners Autorschaft ist durch einen autographen Entwurf zu der Publikation (Christian-Weise-Bibliothek Zittau) gesichert, allerdings weicht dieser beträchtlich von der Druckfassung ab. Fraglich bleibt, ob die Überarbeitungen für den Druck (teils wurden komplette Sätze neu eingefügt) von Marschner selbst oder vom Redakteur Adolph Bernhard Marx vorgenommen wurden.

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Bandur, Markus

Überlieferung

  • Textzeuge: Berliner allgemeine musikalische Zeitung, Jg. 1, Nr. 50 (15. Dezember 1824), S. 430f.

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