Aufführungsbesprechung, Theater Lübeck: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber mit Eremitenszenen von Oskar Möricke, November 1893

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Theater und Musik.

Stadt-Theater. "Der Freischütz". So sehr wir am gestrigen Abend der Reactivirung des alten, lieben "Freischütz" in verjüngtem äußeren Gewande zuzustimmen hatten, so wenig sind wir im Allgemeinen von der musikalischen Wiedergabe dieser echt deutschen Volksoper befriedigt worden. Selbst auf die Gefahr hin, von den unselbstständigen Nachbetern jeder, auch noch so wenig berechtigten Neuerung verketzert zu werden, erachten wir es doch für nöthig, unserer Ueberzeugung Ausdruck zu verleihen und Protest einzulegen gegen so manche Verzerrung der Tempi, die, wie angebracht sie auch den neuesten musikalischen Erzeugnissen sich mitunter erweisen mögen, eine rückwirkende Kraft nur in verfehlter Weise auszuüben vermögen. Wir leugnen nicht und haben es niemals geleugnet, daß, so lange Webers Meisterwerk als Lückenbüßer und Anfangsstation für Deputanten zu gelten hatte, Manches gesündigt worden ist, daß gerade dieser Oper gegenüber aus dem angegebenen Grunde ein saloppes Wesen Platz greifen und beflügelte Eile, wie die Angst sie hervorruft, an die Stelle sinngemäßer Zeitmaße treten konnte, es sei nur an das Terzett im zweiten Akte hier erinnert, aber der gestern geübten Reaction auf diesem Gebiete vermögen wir uns denn doch nicht in jeder Richtung hin anzuschließen. Nicht Alles, was uns durch Gewohnheit lieb und theuer geworden, ist leichthin als Schlendrian zu bezeichnen; was mehr als ein Menschenalter durch die Tradition geheiligt ist, verdient es nicht sofort der rasch wechselnden Tagesmeinung und den immerhin doch nur subjectiven Anschauungen des Einzelnen geopfert zu werden. Jedes Kunstwerk, und nicht das musikalische allein, will aus dem Geiste der Zeit, in der es entstanden ist, beurtheilt werden; als Karl Maria von Weber seinen Freischütz schrieb, dachte er sicher nicht an den jetzt so beliebten stetigen Wechsel des Zeitmaßes, noch an die langen Kunstpausen und Verzögerungen im Zeitmaße, die – wir schreiben es nur zögernd hin – statt der Frische, welche die herrliche Ouverture durchweht, ihr wenigstens im Eingange fast den Stempel der Langweiligkeit aufdrückten. Er, der gewissenhafte Künstler, würde sicher nicht Adagio zur Bezeichnung des Zeitmaßes gewählt haben, wenn er Largo gewollt, noch da, wo uns beim Eintritt der Hörner Waldesahnung umfangen soll, eine überbreite Cantilene erfoderlich gehalten haben. Das Tempo des Ländlers so langsam zu nehmen, daß die Paare entschiedene Mühe haben, darnach zu tanzen, entspricht kaum weniger den Intentionen des Componisten als die verfeinerte Wiedergabe des einfachen Brautliedes, selbst wenn für beide Fälle der Hinweis auf bisherige nicht zutreffende Ausführung hinreichend erbracht wäre. Wir haben, um unser Urtheil zu begründen nur einige der markantesten Fälle hervorgehoben und würden noch ein ganze Reihe aufführen, geböte uns der Raum nicht Einhalt. Anderes z. B. der Schluß des Terzetts erschien wiederum dermaßen übereilt, daß es den Sängern nicht leicht gemacht wurde, dem Taktstocke des Dirigenten zu folgen. Wir wollen durchaus nicht leugnen, daß manche ruhigere Tempomaßnahmen uns angenehm berührt haben und sprechen Herrn Capellmeister Thienemann den Dank dafür aus; warnen möchten wir nur den Wagner’schen Cothurnschritt und die durch dessen eigengeartete Polyphonie berechtigte langsamen Zeitmaße auf Opern zu übertragen, die ihrer Natur und Anlage nach, denselben widerstreben. – "Gehorsam seinem Winke" suchte das Orchester dem Leiter zu folgen; weniger günstig waren die Ergebnisse auf der Bühne. Allzumächtig erwiesen sich hier die Segenströmungen des auf Herkommen beruhenden Studiums und Unsicherheiten aller griffen Platz, die sonst selbst bei Anfängern nicht allzuhäufig vorkommen. Fräulein Berard zeigte wiederum in der Ausbildung des Organs bemerkenswerthe Vorzüge; ein vollständiges Versenken in ihre Aufgabe wurde ihr aber erschwert durch die Rücksicht auf die oben geschilderten Maßnahmen; entsprechende Mimik und sonstige Mittel künstlerischer Darstellung blieben der poesieumwobenen Figur der Agathe vorenthalten. Aennchen, das fröhliche Naturkind (Frl. Wehl) tänzelte hier uns doch ein wenig zu sehr, auch gesanglich haben wir von ihr schon Besseres und Gefallwürdigeres gehört. Herr Kaufung als Max sang seine große Arie, die ihm nur in der tiefen Lage einige Beschwerde verursachte, nicht ohne Wirkung. Ob der Sänger das Schuldbewußtsein in den nachfolgenden Akten ausschließlich zur Geltung bringen wollte, können wir freilich nicht wissen, die geübte Zurückhaltung in Wort und Ton ließ fast darauf schließen. Recht zu loben, dämonisch im Gesange und entsprechend in Gesten und Haltung, war die finstere Gestalt des Caspar, der Herr Edner seine besten Kräfte geliehen hatte. Kuno (Herr Schertel) u. Ottokar (Herr Morny) befanden sich in bewährten Händen; Herr Wolter (Kilian) singt und spielt derartige Rollen mit vielem Glück. Von der Nothwendigkeit des Vorspiels "Die Rosen des Eremiten" haben wir uns nicht sonderlich überzeugen können; Weber’s Themen bilden jedenfalls den besten Theil des Inhalts. Herr Gerdes sang den Einsiedler mit wohlklingender Stimme, ohne im Vorspiel den Wechsel der Empfindungen mit ganzer Deutlichkeit darzulegen. Der neuen dekorativen Ausstattung war die größte Sorgfalt gewidmet, schon um ihretwillen sei der fernere Besuch der Freischützvorstellungen dringend empfohlen. Alles Fratzenhafte in der Wolfsschlucht war glücklich beseitigt, mondscheinbeglänzt erschienen Wasserfall und Felsen in magischem Lichte, vom Sturmwinde gefaßt, brachen die Tannen zusammen, Irrlichter hüpften umher, vom Himmel fiel Feuer herab und unter donnerndem Geprassel brach endlich die Schlußkatastrophe herein. Das Ganze ebenso stimmungsvoll gedacht, wie in seiner Ausführung höchst gelungen durchgeführt. Einen fesselnden Anblick gewährte die Dekoration im ersten Akte: Waldschenke mit Ausblick auf ein tiefer liegendes Thal und einer alten auf der Höhe thronenden Burg. Die Costüme der meisten Mitwirkenden suchten sich an die Zeit des 30jährigen Krieges anzulehnen, nur Agathe und Aennchen hatten sich, weniger einheitsvoll, hiervon zurückgehalten. Auf stürmisches Begehren erschienen am Schlusse Herr Direktor Erdmann* und Herr Kapellmeister Thienemann, um neben den Sängern den Dank für ihre große Mühwaltung entgegenzunehmen.

C. Stiehl.

Apparat

Zusammenfassung

Rezension über die Freischütz-Aufführung in Lübeck mit neukomponierten Eremitenszenen von Oskar Möricke

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Schreiter, Solveig

Überlieferung

  • Textzeuge: Lübeckische Anzeigen (Abendblatt), Jg. 143, Nr. 564 (4. November 1893), S. 3

    Einzelstellenerläuterung

    • „… am Schlusse Herr Direktor Erdmann“Friedrich Erdmann-Jesnitzer (1854–1906), 1886 bis 1898 Lübecker Theaterdirektor.

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