Carl Baermann sen. an Friedrich Wilhelm Jähns in Berlin
München, Freitag, 18. Oktober 1878
Settings
Show markers in text
Context
Absolute Chronology
Preceding
- 1877-11-22: to Jähns
- 1868-05-15: from Jähns
Following
- 1878-12-10: to Jähns
- 1879-05-14: from Jähns
Direct Context
Preceding
- 1877-11-22: to Jähns
- 1868-05-15: from Jähns
Following
- 1878-12-10: to Jähns
- 1879-05-14: from Jähns
Es war mir unmöglich Ihnen beifolgendes Blatt früher zu senden, da wir hier in München, wie Sie vielleicht gelesen haben, das hundertjährige Jubiläum unseres k: Hof und Nationaltheaters gefeiert haben*, und zwar recht großartig. Hiedurch waren alle Kräfte u. Köpfe so angestrengt, daß weder Zeit noch Möglichkeit für etwas anderes übrig blieb, und somit folgt erst heute das Gewünschte.
Ob dasselbe in Bezug auf Silvana u. Abu Hassan ganz richtig ist, ist leider nicht mehr zu ermitteln, da, wie ich schon öfter geschrieben habe, durch den großen Theaterbrand, die ganze Bibliotheck verbrannt ist. Nun wer die Henne nicht haben kann muß eben mit dem Ei vorlieb nehmen.
So sehr es mich freut daß Ihre lieben geehrten
Söhne eine so schöne Carrière machen, so bedauere
ich zugleich daß es mir durch mein Unwohlsein nicht vergönnt war Ihre liebe Familie und Ihr Haus kennen zu lernen, wobei ich wohl am Meisten
verloren habe. Auch bedauere ich recht sehr daß es mit Ihren Füßen nicht beßer gehen
will; nun wenn es nur noch gut mit dem Kopf steht, dann geht es immer noch an. Ich
will Ihnen eine kleine Beschreibung von dem Meinen
machen, und ich bin überzeugt Ihr Fußleiden wird Ihnen erträglicher erscheinen. Im
vergangenen Februar überfiel mich plötzlich ein Ohrenleiden, welches damit begann daß
ich alle hohen Töne zu tief hörte. In ein paar Tagen bildete sich dasselbe dergestalt
aus, daß ich nicht mehr im Stande war die Töne unterscheiden zu können, und war mir
gleich ob Jemand einen reinen Accord auf dem Claviere anschlug, oder mit den beiden Ärmen alle Tasten
niederdrück[te], dazu hörte ich auf dem rechten Ohr
immer: und auf dem linken Ohr die Eisenbahn pfeifen, oder beßer gesagt das
Locomotif, denn die Eisenbahn pfeift nicht. Gestehen Sie
lieber Freund daß wenn man obiges Concert über 3 Monate
ununterbrochen Tag u. Nacht hört, es hinreichend ist einen Menschen wahnsinnig zu
machen*, dazu ist mein
Steinleiden eben auch da, und meine Füße sind noch schlechter als die Ihrigen. Sie
sehen daher, daß die gütige Natur hinlänglich für Unterhaltung u. Zeitvertreib
gesorgt hat, denn während ich diese paar Zeilen schreibe, reißt es mich in den Füßen
dermaßen, daß mir alle feineren Gefühle, Worte u. Gedanken durch die Füße
weg[g]erißen werden, und wenn es nicht so schmerzlich
wäre, so wäre es fast lächerlich.
Mit den Ohren geht es seit ein paar Monaten beßer, ich bin doch wieder im Stande die Töne wieder vollkom[m]en unterscheiden zu können, nachdem mir der Ohrenarzt mit einem silbernen Katheder welcher durch die Nase bis in den Gaumen hineingesteckt hat einige hundertmal comprimirte Luft eingepumpt hat, welches auch ein ganz angenehmes Gefühl ist, und so erwarte ich denn was der Winter noch bringt. Meiner Frau geht es Gottlob so gut als möglich, und ebenso ist meine Familie gesund und so glücklich als möglich.
Was die letzten politischen Ereigniße oder Schandthaten in unserm gelobten deutschen Reiche betrifft, so gestehe ich ganz offen daß ich die jetzige Zeit nicht verstehe, die so schonend mit Mörder‡, Räuber‡ und Hochverräther‡ umgeht, und ihre Abgesandten als gleichberechtigt mit andern politischen Partheien im Reichstag sitzen und wüthen läßt. Diese Art Liberalismus ist mir so unverständlich als wenn es erlaubt würde, daß alle Spitzbuben sich im Reichstag vertreten laßen wollten. Bismark hat ganz recht, wenn er die ganze Rotte, als Räuber, Mörder u. Banditen bezeichnet. Und welche Kämpfe kostet es dem Staate die Erlaubniß zu erhalten sich gegen dieses Gesindel nur zur nothdürftigen Wehre setzen zu dürfen. Bei Gott ich komme auf den Ausdruck eines hiesigen Pfaffen u. Reacktionär, Pfarrer Westermaier zurück nämlich: den Teufel hole einen solchen Fortschritt!* –
Doch genug davon; Fußreißen u. politische Galle ist zu viel auf einmal; laßen
Sie recht bald von sich hören, denn ich nehme ja an Allen was Sie u. Ihre Familie betrifft den innigsten Antheil und
bin immer Ihr alter treuer Freund
Carl Baermann
Editorial
Summary
Übersendet J. offensichtlich einen beantworteten Fragezettel und gibt zu bedenken, ob das Mitgeteilte in Bezug auf Abu Hassan und Silvana richtig sei. Berichtet über seinen schlechten Gesundheitszustand (Gehörleiden) u. politische Situation
Incipit
“Es war mir unmöglich Ihnen beifolgendes Blatt früher zu senden”
Responsibilities
- Übertragung
- Eveline Bartlitz; Joachim Veit
Tradition
-
Text Source: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
Shelf mark: Weberiana Cl. X, Nr. 34Physical Description
- 1 DBl. u. 1 Bl. (5 b. S. o. Adr.)
Corresponding sources
-
“Ich habe das Schicksal stets lange Briefe zu schreiben …”. Der Brief-Nachlaß von Friedrich Wilhelm Jähns in der Staatsbibliothek zu Berlin – PK. Die Briefe Carl Baermanns an Friedrich Wilhelm Jähns, in: Weberiana. Mitteilungen der Internationalen Carl-Maria-von-Weber-Gesellschaft e. V., issue 8 (1999), pp. 42–44 ,
Text Constitution
-
“Mörder”sic!
-
“Räuber”sic!
-
“Hochverräther”sic!
Commentary
-
“… Hof und Nationaltheaters gefeiert haben”Kurfürst Carl Theodor von der Pfalz hatte 1777 die kurfürstlich deutsche Schaubühne unter Theobald Marchand in seine Dienste genommen. Bei Regierungsantritt hatte der Kurfürst die Truppe mit nach München genommen und verfügt, daß eine National-Schaubühne errichtet werden sollte. Am 6. Oktober 1778 hatte sie im alten Salvator-Opernhaus ihr Debüt und begründete somit das spätere Hof- und National-Theater.
-
“… Teufel hole einen solchen Fortschritt!”Baermann, der ganz offensichtlich zu den Konservativen gehörte, nimmt Bezug auf die beiden Kaiser-Attentate am 11. Mai und 2. Juni 1878 sowie auf die neue politische Parteienlandschaft, insonderheit die Deutsche sozialistische Arbeiterpartei unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht (spätere SPD), die Bismarck für eine große Gefahr hielt. Er versuchte, eine Verbindung zwischen den Attentätern und der mißliebigen Partei herzustellen. Nach dem zweiten Kaiser-Attentat gelang es Bismarck, ein Ausnahmegesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialisten im Parlament durchzubringen, das berüchtigte „Sozialistengesetz“, das vom 21. Oktober 1878 bis 1890 in Kraft blieb. Anton Westermayer (1816–1884), kathol. Geistlicher und Schriftsteller, Dom- und Hofprediger in Regensburg und München, bayr. Landtagsabgeordneter, 1879-1884 Mitglied des Reichstags als Zentrumsabgeordneter. Seine Schriften zeichnen sich durch konfessionelle Polemik aus.