Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: “Die Famile Anglade” von Karl Theodor Winkler am 28. April 1818 (Teil 1 von 2)

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Den 28. April. Die Familie Anglade, Schauspiel in 3 Akten, nachbearbeitet von Theodor Hell.

Das Stück erfreute sich sogleich bei seiner ersten Aufführung einer so regen und allgemeinen Theilnahme und behauptete denselben Beifall bei einem vollen Hause auch bei dieser Wiederholung, daß es wohl am Orte seyn mag, den Ursachen dieser Erscheinungen bei einer bloßen Uebertragung aus dem Französischen, die, da sie schon im Druck erschien, auch sonst noch des Reizes der Neuheit ermangelte, etwas genauer nachzuspüren. Sie liegen ganz klar am Tage. Der Inhalt erregt ungewöhnliche Theilnahme, ¦ und erhält das Gemüth der Zuschauer bis zum Schluß in steigernder Spannung. Einzelne Längen und Unwahrscheinlichkeiten wurden durch das musterhafte Zusammenspiel unsers ganzen, dieses Stücks mit besondrer Liebe erfassenden Künstler-Vereins weniger bemerkt. Eine solche Aufführung muß immer ein sehr erfreuliches Resultat gewähren.

Der Mensch ist – wen kennt nicht jene alte Definition – ein politisches Geschöpf. Was spielen die Kinder lieber, als das Königsspiel: Basilinda, wie es die Griechen nennen? Darum interessirten auch von jeher die merkwürdigen Rechtshändel; blickt nicht ganz Europa jetzt nach Rhodoz und Alby? Jedermann fühlt sich durch dergleichen angezogen, sowohl in Erzählungen – man denke an die zu früh vergessenen | Skizzen von Meißner – als auf der Bühne. Eines der erhabensten Trauerspiele des großen Aeschylus, die Eumeinden, führt uns eine Blutschuld vors Auge, einen Rechtshandel, wo Götter anklagen und vertheidigen. Ein großer Theil des Wohlgefallens, den die Athener den Trauerspielen des Euripides schenkten, verdanken diese der gerichtlichen Zwiesprache (alteroatio, wie sie die Römer benannten) selbst da, wo kein eigentlicher Rechtshandel geschlichtet wird. Und so sind auch auf unsern neuern Bühnen gerichtliche Verhöre, Verbrechen, die vor unsern Augen begangen und gerichtlich verurtheilt worden, stets wohlgelitten und aufgenommen gewesen. Selbst in der rohesten Unform – man denke an die Vehmgerichte in mehrern Ritterschauspielen, die noch vor 20 Jahren auf unsern Bühnen lärmten – gefielen sie noch der Mehrzahl. Das, fragt man nach Charakterwahrheit und kunstgerechter Entwickelung, ganz gehaltlose Stück: die Partheienwuth, fand dadurch mehr noch, als durch die Kieselherzigkeit des Cooke, überall Gunst. Diesen Umstand haben denn auch die Pariser Schauspieldichter, durch Entlehnung manches Stoffs aus den causes célèbres, recht wohl zu benutzen gewußt, wie wir aus Salomons Urtheil, die Waise und der Mörder, die Elster u. s. w., die sich noch lange auf unserm Repertorium befinden werden, recht wohl wissen. Und ein solches Stück ist auch la familie d’Anglade, ou le Vol. Melodrame à spectacle tiré des causes célèbres par Fournier et Frederic, welches auf dem Theater Porte St. Martin ein Neujahrsgeschenk für 1816 machte, und lange Zeit großen Zulauf hatte. Unser auch durch Verpflanzung aus fremdem Boden sich um die deutsche Bühne sehr verdient machende Theodor Hell bereicherte durch eine zweckmäßige Bearbeitung desselben das vaterländische Theater. Es muß überall Beifall erndten, wo ihm durch die Darstellung, wie hier, sein volles recht angethan wird. Indeß wollen dergeleichen Stücke überall mit feinem Urtheil behandelt seyn, wenn sie nicht in die plattesten und langweiligsten Abgeschmacktheiten ausarten sollen. Wohl aber dürfte es zu bemerken seyn, daß seit dem aristophanischen Possenspiel (man denke an die Scenen in den Wolken, Fröschen und Wespen) sich in diesen zur Parodie benutzten Rechtshändeln auch heut noch ein wenig gebannter Stoff zum Scherzspiel und zur Farce auf der Bühne darbietet. Gozzi ist ein Meister darin.

Was nun das vorliegende Stück selbst anbelangt, so bedarf es hier, da es Jedermann gedruckt lesen kann, (das Haus Anglade, oder die Vorsehung wacht. Leipzig, Kollmann 1818) keiner ausführlichen Exposition. Wir sind keineswegs gesonnen, die Erfindung und die hier und da etwas gedehnte Behandlung unbedingt zu empfehlen. Es hängt alles flach und locker an einem sehr losen Faden. Darüber ist schon in einer von Cassel kommenden Anzeige in diesen Blättern sehr verständig abgesprochen worden (in No. 24 dieses Jahrgangs). Nur möchten wir’s dem Franzosen, den die möglichste Beibehaltung der Einheit des Orts schon vor diesem Fehlgriff bewahrt, noch immer anrechnen, daß er uns nicht selbst mit einkerkerte, das heißt, uns nöthigte, eine empfindsame Scene zwischen Gatten und Gattinn im Stadtgefängnisse selbst mit aushalten zu müssen. Ein deutscher dramatischer Dutzendmaler hätte sich diesen Effect, der alle ruhige Entwicklung zerstören würde, schwerlich entgehen lassen. Sehr lobenswerth aber ist die Kunst, womit der Franzos in dies Intriguenstück eine mannigfach abgestufte Charakterzeichnung einzuweben und in der Hauptfigur des Ganzen, von Olsan, und ein fortschreitendes Seelengemälde, wie sich das Verbrechen bis zum Selbstmord steigern läßt, vor’s Auge bringt. Auch zeigt sich in der richtigen Abstufung der drei Bösewichter, die hier den Bund ¦ zum Verderben des edeln Mannes schließen, so wie der drei Biedermänner, die sich für ihn interessiren, ein gutes Talent zur psychologischen Beobachtung und zur Benutzung des Contrastes. – Die Uebersetzung ist, wie sie von der Gewandheit und Einsicht eines vielversuchten Meisters in diesem Fache zu erwarten ist. Lobenswerth ist manche Abkürzung gegen das Ende. Die ganze Entdeckungsscene, mit den unter den Stufen verborgenen Staatsscheinen, ist etwas frostig und unwahrscheinlich. Sie noch mehr abzukürzen, wie einige verlangt haben, würde der Klarheit in der Entwicklung schaden. Auch muß Olsan sich tödten. Der Richter kann nicht verzeihen, die Flucht nicht versöhnen. Sehr passen ist der Gärtner Marcel, mit seinen patois de Limousin, in einen ehrlichen deutschen Michel (so sollte wohl Marcel auch heißen) umgetauft worden, und seine biedere Gutherzigkeit gefällt nun um so mehr.

Das Beste indeß that bei der Sache die in allen Theilen gelungene und bis auf die kleinen Nebenrollen untadelhaft durchgeführte Darstellung. Macht das Stück an andern Orten weniger Glück, so ist die Schuld lediglich den Darstellenden beizumessen. Hierin gerade zeigt sich der Vorzug unsrer Bühne, die durch ihr zahlreiches, männliches Personal auch solche Rollen, die nur in wenig Scenen auftreten, gut besetzen kann. So spielt Herr Schirmer den alten, treuen Bertrand, besonders in der Scene, wo Anglade ihn als treues Hausinventarium zu behalten verspricht, bieder, Herr Metzner den ehrlichen Gärtner treuherzig, (nur muß er gleich anfangs dem bübischen René, als dieser ihm das Trinkgeld unterschlägt, seine Verachtung noch stärker zu erkennen geben), Herr Zwick, den Juwelier, ächt bürgerlich, und Herr Werdy den Justizbeamten mit gerade so viel Kälte und Festigkeit, als seine Pflicht gebietet, ohne doch den Mann von Gefühl und feiner Lebensart gegen die Frauen zu verläugnen. Nichts ist widriger, als wie gewöhnlich diese Art von Rollen durch falsche Grandezza oder niedrige Spaßmacherei herabgewürdigt werden. Daß Herr Hellwig der edlen Anstandsrolle des Adolph von Anglade durch sein würdevolles Spiel alle Gerechtigkeit widerfahren ließ, bedarf kaum eine Erwähnung. Bei der untergeordneten Stellung dieser Rolle, ist das große Verdienst nur darein zu setzen, daß der verständige Schauspieler nicht mehr hineinlegen, vordringlich sich zeigen wollte. Die höchste Zartheit und Feinheit liegt offenbar in der Rede, womit er seiner Lina den Trauring zum zweitenmal an den Finger steckt. Je weniger Tirade, je mehr Herz, desto besser! – Doch auch in diesem Stücke ist die Characteristik der Schlechtheit und des Lasters das ausgeführteste. Hier allein kann sich der Künstler, der es versteht ein Seelenmaler zu seyn, zeigen. Dieß that auch Herr Julius, als Olsan, mit großer Vollkommenheit. Sein Verbrechen entwickelt und bestraft sich vor unsern Augen in kunstgerechter Steigerung. Es wäre Fehlgriff, einen abgefeimten Lüstling aus den Liaisons dangereuses aus ihm zu machen. Er ist ja noch einer wahren Liebe fähig. Ein schleichender Bube von Kammerdiener hat ihn umstrickt und bläst Rachsucht in seine Leidenschaft. Daher die häufigen Rückfälle zur Tugend und die folternden Gewissensbisse. Daher aber auch die der Declamation und Mimik in dieser Rolle so dankbar zu sagende Leidenschaftlichkeit, die bei einem abgehärteten, glatten Bösewicht mit dem, was man die Virtuosität des Lasters nennen möchte, gar nicht mehr zur Oberfläche vordringt. Ein solcher Bube ist der ihm gegenüberstehende Kammerdiener René, etwa in demselben Verhältniß, wie in Ifflands Spieler der allen Gefühl abgestorbene Posert zu dem Baron steht.

(Der Beschluß folgt.)

Editorial

Summary

Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: “Die Famile Anglade” von Karl Theodor Winkler (Teil 1 von 2), der zweite Teil folgt in der nächsten Ausgabe.

Creation

Responsibilities

Übertragung
Albrecht, Christoph; Fukerider, Andreas

Tradition

  • Text Source: Abend-Zeitung, Jg. 2, Nr. 111 (11. Mai 1818), f 2r

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