Aufführungsbesprechung der Oper Euryanthe von Carl Maria von Weber in Berlin (Teil 2/2)

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Webers Euryanthe in Berlin.

(Schluß aus No. 1.)

Im Obigen haben wir uns den Einfluß der Fabel auf die Karakterentwicklung der Personen auseinander gesetzt; jetzt ist noch die Disposition der Handlung zu betrachten. Auch hier vermißt man ein stetiges Ineinandergreifen wodurch jede vorangehende Scene das Gemüth auf das Folgende vorbereitete und alle eng und innig an einander geschlossen zum Ziele führten.

Das Drama beginnt (wie ein Erzähler etwa anheben könnte: „bei dem Friedensfeste geschah es, daß“ u. s. w.) mit einem heitern Feste zur Feier des Friedens, das nur in sofern zur Sache gehört, als es zufällig den bekannten Streit und die Wette herbeiführte. Das Minnelied Adolar’s hat keine andre Tendenz. Episch breit wird uns der Zank Lysiarts mit Adolar von seinem ersten, ziemlich unbedeutenden und einflußlosen Beginnen an vorgeführt und in dieser ersten Hälfte des ersten Aktes haben wir keine Materialien erhalten, als die entfernte Veranlassung des Vorganges. Hierauf finden wir Euryanthe einsam im Burggarten. Ihre Stimmung erkennen wir in der Kavatine: „Glöcklein im Thale;“ mehr war an dem durchaus leidenden Karakter nicht zu exponiren. Recitative, Arie und Duett legen uns Eglantinens heuchlerischen Karakter dar und setzen sie in Besitz des Geheimnisses, dessen Verrath Euryanthe als Treubruch büßen soll. Lysiarts Erscheinen, das wir aus den ersten Scenen voraus wußten und der erste sehr unschuldige Versuch einen lebhaftern Galanterie, die uns nur an seine Absicht erinnern, auf die Hauptsache unmöglich Einfluß haben kann, sind eine geringe Förderung der Sache und sein festlicher Empfang, Euryanthe’s Freude auf das bevorstehende Wiedersehen mit Adolar machen von da den Inhalt des Aktschlußes aus.

Wie weit sind wir nun noch von dem Hauptvorgange entfernt! Die Verwickelung vorzubereiten hat es eines Aktes bedurft, und noch können wir nicht in das Interesse der Hauptpersonen gezogen sein; denn wieviel fehlt noch, um die Gefahr dringend, gegenwärtig zu machen! Diese Betrachtung ließe sich durch die ganze Oper durchführen. Finden wir auch den zweiten und dritten Akt reicher an wichtigen Vorgängen, so sind es eben nur Vorgänge, nicht Handlungen – und dabei nicht selten Stimmungen, deren Tilgung wir aus dem Bisherigen vorauswissen, die uns also nicht so tief ergreifen können, als sonst geschehen müßte. So muß die Auflösung der wichtigsten Handlung in eine zufällige Begebenheit fast schmerzlich berühren. Adolar hat (zu Anfange des dritten Aktes) Euryanthe in den Wald geführt und steht als ihr Richter vor ihr. Es ist der höchste Punkt im Karakter und der Stimmung beider und er löst sich in Nichts auf; die drohende Schlange unterbricht und ändert plötzlich alles. Wenn wir nachher Adolar in Trauer und Verzweiflung versenkt sehen, so wissen wir Euryanthe schon gerettet – denn wer könnte sie im Drama todt wähnen, wie in der Erzählung wohl glaubhaft zu machen wäre? – Jenes Walten | des Zufalls, jenes Begebenheitsspiel durchdringt sogar den letzten Moment. Das bäuerliche Hochzeitsfest ist nichts, als eine mit der Hauptsache unzusammenhängende Begebenheit, die blos zufällige Veranlassung zur Entdeckung wird, und muß auf das Gemüth der Zuhörer in Bezug auf Hauptpersonen und Hauptsache zerstreuend wirken.

Eine solche Disposition würde jedem Drama nachtheilig sein, keinem aber mehr, als einem musikalischen und sogar durchkomponirten. Denn jede Scene nimmt vor allem unsere Sinnlichkeit, dann unser Gefühl in Anspruch, entzieht uns, in höherm Grade als jede andre Kunstleistung, physische und psychische Kraft und benachtheiligt darum das Folgende, sobald es ihm nicht förderlich wird. Und in dieser natürlichen Nothwendigkeit scheint die unerwartete Aufnahme der Oper an dem und jenem Orte vornehmlich gegründet. Die herrliche, hoch anregende Musik des ersten Aktes nahm die frische, beste Theilnahme hinweg, ohne daß dieser Akt seine Bestimmung, in das Interesse der Personen und der Handlung zu ziehen, hinlänglich erfüllt hätte. Nicht die Musik ermattet – sie erhebt sich vielmehr immer kräftiger und höher – sondern die Hörer gingen mit einer stets nothwendigen, hier aber fruchtlosen und darum fühlbar werdenden Abspannung dem Folgenden entgegen. Gleiche Wirkung mußte auch ein Theil des Inhalts der folgenden Akte für den andern haben. – Vergegenwärtigen wir uns namentlich die Wiener in ihrer gegenwärtigen, nur Zerstreuung und Sinnenlust erzielenden Tendenz – in ihrem Rossinismus: stellen wir uns vor, wie eben sie der liebliche Inhalt des ersten Aktes und besonders der innig warme und lieblich kokettirende Schluß desselben sympathetisch anziehen mußte: so ist begreiflich, wie schroff der hochernste, wilde Anfang des zweiten Aktes und großer Theil alles Folgenden, durch den ersten Akt so wenig vorbereitet, ihre Erwartung täuschten, sie zurückweisen mußte. Eher wären sie bei der bestehenden Vorliebe für Weber, in einer Erinnerung an Don Juan, auf ein durchweg ern¦steres, in seinen Theilen streng ineinandergreifendes Drama eingegangen, als auf diese Verlockung und Täuschung. Sie hätten sich einem fremden Wesen gewinnen lassen, aber man mußte sie ihr bisheriges Treiben vergessen machen; auch der Schein desselben mußte vermieden werden, um sie nicht selbst in der neuen Intention zu irren.

Eben dadurch aber, wodurch die Fabel der Euryanthe sich zu einer vollendeten, in ihrer Ganzheit vollkommen wirksamen dramatischen Bildung ungeeignet erwiesen, hat sie ihrem Komponisten gewähren können, was er bei vielen dramatischern Gegenständen nicht in solcher Fülle gefunden haben möchte: eine reiche Folge der mannigfaltigsten Scenen, aus denen er eine Reihe der treffendsten Gemälde jener Zeit und Verhältnisse genommen hat. Man hätte aus dem Freischützen, aus Preziosa, aus Kampf und Sieg, ja aus allen größern Gesang- und Instrumentalwerken Webers voraussagen können, daß ihm nach jenen Werken eines nothwendig werden müsse, in dem sein Geist und seine Phantasie sich an so individuellen und abgeschlossenen Schilderungen ersättigen könne; und wer das Gedicht der Euryanthe vor der Komposition kennen gelernt hätte, der müßte erkannt haben, daß es für Weber geschrieben und für ihn in der Zeitfolge nach jenen Werken das geeignetste sei.

Hiermit hat aber der Unterzeichnete angedeutet, was ihm an der neuen Oper das Werthvollste, dasjenige zu sein scheint, was sie von allen bisherigen Opern karakteristisch unterscheidet: das ist die getreue Auffassung der Zeit und des Orts, in denen sich die Begebenheit ereignet. Das südlichere Frankreich in der Blüte der Ritterzeit – das ist der Inhalt der Musik, wie des Gedichts. Der Liederton im Beginn der Introduktion, der wie eine „Blüthen- oder Frühlingsweis’“ anspricht, und der ernste Reigen vor dem Throne des Königs, in dem sich Ritterstolz und Kourtoisie mit adlicher Zier verbinden und wie in freudigen Wogen aufschlagen: beide heften unsere Vorstellungen an jenen bestimmten Punkt; und die Minneweis’ Adolar’s macht uns | dort heimisch. In dieser Romanze wehen die weichen Lüfte der Loire und überraschend zart, fremd und doch verwandt spricht aus ihr die schwärmerische Innigkeit, jene fast abgöttische Empfindung für Minne, die sich wunderbar neben dem kräftigen, oft wilden und rohen Ritterwesen jener Zeit, ja aus ihm gestaltet. – Aus diesem Gesichtspunkte glaubt der Unterzeichnete die Oper allein ganz verständlich, und die Zweifel, die sich über die Auffassung einzelner Momente haben erheben wollen, gelöst. So erscheint ihm jene Melodie in der vierten Scene des ersten Aktes (S. 39 des steinerschen Klavierauszuges:)

Ich bau’ auf Gott und meine Euryanth’

nicht eben als nothwendiger Ausdruck der Empfindungen Adolar’s, oder dieses Verses an sich: sondern in ihrer ganzen Ausdehnung, in ihrem chevaleresken Karakter gleichsam wie eine Stammesweise Adolar’s, die fast unwillkürlich von seinen Lippen tönt, wo Streit, Kampf und Entscheidung bevorstehen. Ritterlich erscheint es, daß Adolar die Verunglimpfung der Frauen und Euryanthe’s mit dem Schwerdte strafen will; ritterlich, daß er auf jeden Vorschlag, auf die Wette eingeht, wo ihm nach Verhinderung des Zweikampfes nichts zu thun blieb, als seine feste Zuversicht zum Pfande für Euryanthe’s Ehre einzusetzen: ritterlich gestaltet sich auch der Gesang. – Eben so richtig erfunden scheint dem Ref. der Jägerchor, von dem man hin und wieder wol vernimmt: er sei schön, aber eben kein Jagdchor. Freilich muß der Jagdgesang höher klingen, als in gemeinen Forsten, wenn der ritterliche Herrscher von Frankreich seine königliche Jagd, gleich einem ausschließlichen Majestätsrechte, ausübt; und so scheint dem Unterzeichneten in jenem Jagdchor der Einklang des Ritterthums und der Hoheit mit der Jagdlust wahr und gelungen.

Hier ist nun der Ort, wo den Lesern die nachstehende, genauer in das Einzelne eingehende Beurtheilung willkommen sein wird, an die der Unterzeichnete die Ausführung seiner ¦ im Eingange vorausgeschickten Meinungen und den Bericht über die hiesige Darstellung anzuschließen gedenkt.

Marx.

Editorial

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Responsibilities

Übertragung
Bandur, Markus

Tradition

  • Text Source: Berliner allgemeine musikalische Zeitung, Jg. 3, Nr. 2 (11. Januar 1826), pp. 9–12

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