Rezension: “Der Freischütz” von Carl Maria von Weber (Teil 5 von 5)
(Beschluß.)
Leider aber müssen wir gestehen, daß von nun an, von dieser Lichthöhe des Ganzen, die Musik sich senkt, und daß der Schluß, das Finale der Oper, den frühern Eindruck schwächt. Wir wollen es uns gefallen lassen, daß der Fürst Ottokar so spät auftritt, da wir ihn doch wenigstens schon aus der Exposition kennen; wir wollen es hingehen lassen, daß der alte Erbförster bis zu Ende des Stücks nichts von sich hören lässt: aber rügen müssen wir’s, daß Kilian, der das Stück eröffnet, nicht wieder zum Vorschein, und dagegen im lezten Finale eine Person, die wir nicht die Ehre haben zu kennen, ein Eremit, angegangen kommt und eigentlich nichts thut, als was der Fürst Ottokar auch ohne ihn hätte thun können. Rügen müssen wir auch, daß dieser Ehrfurcht erregen sollende Klausner, der mit Posaunenschall auf die Scene geführt wird, kurz nachher bey tanzartiger Flötenbegleitung singt. Rügen müssen wir es, daß man nicht weiß, ob es dieser Deus es machina ist, der Agathe rettet. Der Dichter zeigt es nicht durch die That; im Gegentheil, er lässt früher den Samiel sagen: „Er oder Du,“ und so ist denn dieser grausenhafte Samiel im Grunde ein ganz guter Teufel, da er mit einer Seele vorlieb nimmt, wo ihm doch schon zwey anheim gefallen waren. Ja, ja! Es ist schwer, aus einem Mährchen mit tragischem Ausgang eine Oper mit lustigem Ende zu machen! Eben so schwer ist es, ein Final zu dichten, d. h. eine Scene voller Handlung zu erfinden, aber solcher Handlungen voll, die sich zur Komposition eignen und vorher so klar motivirt sind, daß sie, ohne daß man auf die Worte genau zu merken braucht, verstanden werden, gleichwie man ein Ballet versteht. Ein solches an Handlung reiches Finale ge¦hört aber in die früheren Akte und nicht zu Ende der Oper, wo die Auflösung vorbereitet und sich leicht und gleichsam von selbst machen soll. Abgesehen davon, daß Agathe, man weiß nicht warum, so mal a propos beim Geliebten in den Schuß kommt, und daß ihr Fallen und Wiedererwachen keinen rechten Sinn gibt, und daß man so Vielerley zu gleicher Zeit sehen muß, daß man nicht weiß, wo man zuerst hinschauen soll; abgesehen davon, so fragen wir, ob sich das Ende der Oper nicht gewaltsam überstürzt, da in den lezten zwölf Minuten so viel Neues vorgeht, als kaum in allen vorhergehenden Scenen? Wie konnte der Musiker so Viel und Vielerley noch ganz geschwind setzen? Darunter mußte die Musik leiden, und sie hat darunter gelitten, wie dieses am geeigneteren Orte gezeigt werden kann. Bis dahin bleibt es wahr, daß keiner der mannigfaltigen Gesänge dieses Finales von so ergreifender und dramatischer Wirkung ist, wie es z. B. Stücke aus den Finalen des Figaro, des Don Juan, der Zauberflöte oder auch nur des unterbrochenen Opferfestes sind.
Sollte nun ein wohlwollender Freund der Kunst, der diese ausführlichen Betrachtungen gelesen hat, uns entgegnen, oder auch nur zu sich selbst Folgendes sagen: "Ich will es annehmen,"ich will, ob dem ernsten Ton, der in dieser Kritik herrscht, es"sogar glauben, daß sie eben so unpartheyisch und ohne Neben-"absicht, als sich und rücksichtslos sprach. Ich will es ihr auch"zugestehen, daß sie, ihrem Zwecke gemäß, über die anerkann-"ten Schönheiten des beurtheilten Werkes leicht hinweg schlü-"pfen, und gerade bey den Mängeln und dessen Ursachen ver-"weilen mußte – ich frage aber: Wie konnte diese hier so viel-"fältig getadelte Oper einen so tiefen Eindruck machen, eine so"lebendige Theilnahme erregen und zu einem Ruhme gelangen,"der von einem Ende Deutschlands bis zum andern wiederhallt?" Darauf erwiedern wir: Es wäre ungerecht, wenn wir diese Theilnahme und diesen Ruhm als Folgen der früher erwähnten Apologien ausgeben wollten; es wäre platt, wenn wir sagten: Et libella habent sua fata. Nein ganz im Gegentheil, wir sagen mit Voltaire: On ne trompe ni toute une nation ni tout un siècle. Ganz Deutschland hat einen lauten und einstimmigen, einen seltenen Antheil an diesem Werke genommen; und die eigentlichste Grundursache dieses Antheils ist ein Kunstvermögen des Komponisten, dessen Gebrauch für die Oper eben so neu als lobenswerth ist. Dieses Vermögen hat der lyrisch-dramatischen Kunst eine neue Bahn eröffnet, und dem Musiker den Namen eines genialen Künstlers mit Recht erworben, wenn gleich unbedingte Lobpreiser vergessen haben, uns zu sagen, worin seine Genialität besteht, und obschon sie ihn dem Neide zur Schau mit Mozart, dem Universal-Genie, auf gleiche Stufe stellen. Die genialische Kraft des neuen Meisters bestehet in dem Vermögen, Gesangstücke zu erfinden, die den Charakter deutscher Nationalität unläugbar und jedem Ohre vernehmbar tragen. Bisher verstand man unter deutscher Musik, Musik die man nicht verstand, und die man daher gelehrt hieß. Unser Meister hat ächten populären Nationalgesang auf die Bühne gebracht; was Wunder, daß die Nation begeistert aufjauchzt, und daß sie den Komponisten der Lützower Jagd, des Brautjungfern-Chors und anderer krönt und vorzugsweise ihren Sänger nennt? Hier liegt der wahre Grund des ungemeinen Aufsehens, das dieser Musiker jezt macht. – Fern sey es von uns, zu behaupten, daß er nicht auch in andern Gattungen Schönes hervorzubringen vermag; aber die Sphäre des National-Gesangs bleibt sein schönstes, wohl erworbenes Eigenthum. Möchte es daher einen Dichter finden, der ihm eine Oper verfertigte, die streng in dieser Sphäre bliebe. Möchte es der Dichter des Freyschützen selber seyn, der ein solches Singspiel erfände. Beyden Künstlern würde dann höchster Ruhm und der Dank aller Deutschen zu Theil werden.
Editorial
Summary
Rezension: “Der Freischütz” von Carl Maria von Weber (Teil 5 von 5). Teil 1 und 2 erschienen in den Nummern 108 und 109, dritter und vierter Teil erschienen in den beiden vorigen Ausgaben.
Creation
–
Responsibilities
- Übertragung
- Fukerider, Andreas
Tradition
-
Text Source: Morgenblatt für gebildete Stände, Jg. 16, Nr. 114 (13. Mai 1822), pp. 456