Chronik der Königl. Schaubühne zu Dresden vom 15. März 1817
Am 15. März: La Vestale wiederholt. Ohne über die Darstellung Worte zu verschwenden, glauben wir bloß im Allgemeinen bemerken zu dürfen, daß die Chöre der Vestalinnen besonders heute wieder zu kräftig ausgeführt wurden, ohne gehörige Berücksichtigung von Schatten und Licht, wodurch hie und da die Wirkung der obligaten Stimmen leiden mußten. Was über Spiel und Gesang der Mad. Sessi-Neumann bei der ersten Darstellung der Giulia gesagt wurde, dürfte eben sowohl von der Gründlichkeit und Aufmerksamkeit des Referente, als von seiner Unpartheilichkeit zuegen. In Bezug auf jenen Bericht erlauben wir uns daher nur die wenigen Worte: Mad. Sessi schien uns heute nicht dieselbe Sicherheit und Freiheit in Darstellung und Gesang zu haben, wie das vorigemal, ohne daß ihr jedoch daraus ein Vorwurf erwachsen könnte – da sie gleich anfangs von einer Unpäßlichkeit befallen wurde, welche befürchten ließ, daß sie gar nicht würde vollenden können. Gleich beim ersten Erscheinen der Vestalinnen darf sich, unserer Ansicht nach, Giulia vor ihren Schwestern durch kein Hervorrücken aus der Reihe auszeichnen, noch weniger durch ein absichtliches ängstliches Zurückbleiben beim Abgang in den Tempel, denn erst der Ruf der Obervestalin soll sie bemerkbar machen und die Erwartung auf diese junge Priesterin spannen, was auch ¦ Sigr. Sandrini in ihrer seelenvollen Darstellung sehr richtig beachtete. Die Töne der Mad. Sessi von A über die Linie bis Es aufwärts möchten wohl an Reinheit, Wohlklang, Fülle und Biegsamkeit nicht leicht übertroffen werden, und daher immer bei der Seltenheit eigentlicher Soprane eine sehr angenehme Erscheinung bleiben, um so mehr, da eine treffliche Schule und die bocca Romana diesen Vorzug so wohlthuend benutzen lassen. Ihre Mitteltöne haben weniger Klang und Wohllaut und sehr oft, besonders bei Uebergängen, etwas schneidendes. Dieser Mangel an völliger Gleichheit aller Töne nun mag wohl mit eine Ursache gewesen seyn, warum sich das sehr warme Interesse des Publikums nicht zum sogenannten Furore steigern wollte, da die beiden ersten Sängerinnen der hiesigen Oper vorzüglich durch den großen Umfang und eine wohlthuende Gleichheit der Töne sich auszeichnen, und an Reichthum, Leichtigkeit und Fülle in den Verzierungen ihr gewiß nicht nachstehen.
Möge übrigens Mad. Sessi aus der Nähe ihres Aufenthalts einen Grund entnehmen, uns recht bald wieder mit einigen ihrer Darstellungen zu erfreuen. Ihr Talent und ihre Bescheidenheit werden sie überall zur sehr angenehmen Erscheinung machen, und Leipzig ist im Besitz einer solchen Künstlerin für seine künftige Oper zu schönen Hoffnungen berechtigt.
d.Editorial
Creation
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Tradition
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Text Source: Abend-Zeitung, Jg. 1, Nr. 71 (24. März 1817), f 2v