Aufführungsbesprechung Wien, Kärntnertor-Theater: Euryanthe am 12. Dezember 1823

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Tagebuch der Wiener-Bühnen.
December 1823.

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Den 12. […] Kärnth. Heute wurde abermahls "Euryanthe" aufgeführt. Sowohl in diesem als in anderen Unterhaltungsblättern dieser Hauptstadt hatte man mehrere Panegyren gelesen, welche bald darauf ganz sonderbare Erörterungen rücksichtlich des Textes veranlaßten, dem man blos allein das Mißlingen eines allgemeinen unbedingten Beyfalls aufbürden wollte. Das Publikum sah und hörte die Oper, es las die Lobeserhebungen über Musik und den Tadel des Textes, es kennt nun auch schon die Apologien der als Dichterinn rühmlich bekannten Verfasserinn. Dem Referenten, der sich durch keine Parthey hinreißen ließ, bleibt nun nichts mehr übrig, als den Eindruck darzustellen, welchen dieses Kunstwerk nach mehrmahliger Aufführung auf das kunstliebende Publikum macht. Der Zulauf hat aufgehört, der Reitz der Neuheit schwand, die Coryphäen der Partheyen sind bereits gesättiget. Eine mäßige Anzahl von größtentheils unparthey’schen Kunstfreunden ist versammelt, jeder erwartet vom Componisten des "Freyschützen" Vorzügliches. Die Ouverture beginnt kräftig, originell und brillant, weicht aber in der Mitte in unharmonische, befremdende Pianos aus, bis ein herrlich fugirter Satz die Cadanzen herbeyführt, deren Effect unwillkührlich zum Beyfalle hinreißt. Die Introduktion, ein Wechselchor der Frauen und Ritter vom herrlichsten Costume, Decoration und Arrangement unterstützt, entzückt den Zuschauer; schade, daß die darauf folgende Tanzmusik mit dem ernsten Reigen die Wirkung lähmt. Herrn von Webers Recitative weichen ihrer Form nach von von jenen der italienischen und auch der deutschen Meister ab, sie erschweren das Sprechen und machen ganz natürlich das Wort undeutlich, eine Entschuldigung für die singenden Künstlerinnen, denen man Unverständlichkeit vorwerfen wollte. Adolars Cavantine: „Unter blühenden Mandelbäumen“ wurde, wie immer, ohne Applaus gelassen, weil lyrische Poesie in einer zu künstlichen Weise vorgetragen noch mehr an Verständlichkeit verliert und eben darum den Zuhörer, welcher Verstand und Gefühl angeregt haben will, kalt lassen muß. Besser erging es dem Schluße dieser Scene, denn der Streit zwischen Adolar, Lysiart, dem Könige und den Rittern ist dramatisch und effektvoll gehalten. Die Cavatine der Euryanthe: „Glöcklein im Thale“ ging ruhig vorüber, eben so die ganze dritte Scene, in welcher nach einer schwierigen Cavatine der Eglantine Euryanthens sonderbare Entwicklung des Geheimnißes folgt. Diese gewichtige Kunde wird vom Publikum hart verstanden, und darum | weiß auch kein Mensch von diesem Augenblicke an, wenn er nicht das Buch lieset, woran er sey. Den Schluß dieser Scene bildet ein allerliebstes Duettino, das den auf die Folter, während den langen Recitativen, gespannten Zuhörer einigermassen entschädigt. – In der vierten Scene entwickelt Eglantine in einer Arie viel Bravour. Die fünfte und sechste Scene, in welchen die Landleute von den Brautleuten Bertha und Rudolf (eine nicht genug motivirte Episode) angeführt, Lysiart und seine Ritter empfangen, zu denen sich auch später Euryanthe und Eglantine gesellen, ist mit großem Kunstaufwande, wohl für den Effect berechnet, durchgeführt, und darum endet auch der erste Act mit allgemeiner Zufriedenheit und Bewunderung. Stiller wird es im zweyten Akte, obschon man Lysiarts anstrengendere Arie: „So weih’ ich mich den Rachgewalten“ und seinem Duette mit Eglantinen einer der kräftigsten Compositionen den lautesten Beyfall nicht versagen kann; denn die dritte und vierte Scene, in welcher Euryanthe mit Adolar zusammen kommen, sind auf die vorgehenden kräftigen Gemählde eine viel zu weichliche Erscheinung und werden von dem Auftritte, in welchem der König mit den Rittern erscheint, und in denen auch Lysiart die Heldinn des Stückes weiblicher Untreue anklagt, verschlungen; Lysiart wird mit Adolars Gütern belehnt, und hier beginnt erst wieder v. Webers spiritus familiaris Wunder zu wirken, denn die Imprecation des Chors: „Ha, die Verrätherinn!“ zeigt wieder, daß ein Gott in ihm wohne, und so endet auch der zweyte Akt nachdem alle: „Du gleißend Bild, du bist enthüllt“ ergreifend gesungen haben, mit Anerkennung des waltenden Talentes. Die ersten Scenen des dritten Aufzuges, in denen Adolar seine Geliebte in der Einöde tödten will, werden kein richtig fühlendes Gemüth ansprechen, die ganze Behandlung einer ungetreuen Geliebten ist unpsychologisch, unritterlich, und wird trotz des Kampfes mit der Schlange empörend, weil Euryanthe nach wiederholtem Bekenntnisse der Unschuld verlassen wird. Der König kommt mit seinen, ein schönes Morgenlied singenden Jägern – vor Anbruch des Tages – an die Stelle, wo Euryanthe verlassen liegt. Die Jäger, welche wirklich ein schön gedachtes Lied – eine Seltenheit in den Compositionen der modernen Accordenjäger – singen, werden vom Publikum immer aufgefordert das überraschende Tonstück zu wiederholen. Nach diesem erwacht Euryanthe aus ihrem Ohnmachtschlummer, und erschöpft in einer unwidersprechlich genialischen kleinen Cavatine zum zweyten Mahle ihre Kräfte, worauf sie für todt weg getragen wird. Die Scene ändert sich vor dem Schloße Nevers, und Maylieder erschallen von Landleuten, welche die erwähnten Brautleute anführen. Der Chor erkennt Adolar, der in seiner schwarzen Rüstung sich auf eine Bank niederläßt, und bringt ihm Kunde, daß Eglantine mit Lysiart im Bunde ihm ungerecht um sein Erbe brachten. Die fünfte Scene, in welcher Lysiart Eglantinen zur Hochzeit führt, ist des originell mittelalterlichen Marsches wegen interessant. – Eglantine und Lysiart treten vor, und hier muß der Wahnsinn der ersteren dazu dienen, das schreckliche Geheimniß und das Verbrechen zu enthüllen. Die Vasallen erkennen in Adolar ihren vorigen Herrn, und als der König erscheint, um den entstandenen Kampf zu hemmen, und den Tod Euryanthens verkündet, da enthüllt Eglantine ihre Rache und den Verrath. Lysiart durchbohrt sie. Nun wird Euryanthe wieder lebend herbeygebracht, und der König vereint die Liebenden, worauf ein dem großen Werke nicht ganz angemessener Schlußchor folgt, und den Zuschauer nicht ganz befriedigt läßt. In dieser ganzen Scene zeichnet sich der Chor: „Trotze nicht Vermessene“ ganz vorzüglich aus. Diese Oper wird der angeführten herrlichen Stellen wegen immer eins der geschätztesten Kunstwerke bleiben, und seitdem man manche Recitative und Wiederholungen gestrichen hatte, gewann sie auch an Rundung; weil das Melodiöse nicht mehr so sehr von einander entfernt liegt. Der erste Act wird aber immer stärker besucht bleiben, als die zwey folgenden. […]

Editorial

Creation

Responsibilities

Übertragung
Solveig Schreiter

Tradition

  • Text Source: Allgemeine Theaterzeitung und Unterhaltungsblatt für Freunde der Kunst, Literatur und des geselligen Lebens, Jg. 16, Nr. 153 (23. Dezember 1823), pp. 619–620

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