Aufführungsbesprechung Wien, Kärntnertortheater: “Euryanthe” von Carl Maria von Weber am 25. Oktober 1823
Wien. […] Der 25. Oktober war der glückliche Geburtstag von „Euryanthe“ – „große romantische Oper in drei Aufzügen vom Helmine von Chezy, gebornen Freyin von Klencke; Musik von Carl Maria von Weber; die neuen Dekorationen von den Hrn. Janitsch und Gail; das Costüme von Hrn. Ph. von Stubenrauch; die Tänze und Gruppen von Hrn. Balletmeister Taglioni.“ – Der Zulauf war ungeheuer, ungeheurer noch die Erwartung, da tausend Zungen von den Proben außerordentliche Dinge verkündet hatten. Hr. Seipelt war „König Ludwig VI.“; Hr. Heitzinger „Adolar Graf von Nevers und Rathel‡“; Hr. Forti „Lysiart Graf zu Forest und Beaujolois“; Demois. Sonntag „Euryanthe von Savoyen“; Mad. Grünbaum „Eglantine von Puiset“; Hr. Rauscher „Rudolph“; Demois. Teimar‡ „Bertha“. Alle Welt ist – obwohl allerdings der alte jetzt wieder erneuerte Roman (Berlin, Vereinsbuchhandlung) bei weitem unerreicht bleiben mußte – darüber einig, daß die Dichterin sich viele und lobenswerthe Mühe gegeben, ein poetisch gutes Opernbuch zu schreiben und daß einzeln Manches auch sehr schön geschrieben ist; aber alle Welt muß auch bekennen, daß dramatisch große Gebrechen ihm innewohnen, und theatralisch Manches ganz verfehlt istT. Shak[e]speare könnte manche Aufklärung hierüber geben, wenn man sein Drama „Cymbeline“ hätte befragen wollen. Die Fabel ist allbekannt, das Buch selbst auch schon gedruckt; also bin ich wohl einer Erzählung überhoben. Ich begreife übrigens nicht, wie eine so geistreiche Frau noch wenige Tage vor der Darstellung den Meister mit unbescheidenen Forderungen quälen und selbst durch | einen Advokaten (?) von ihm 600 Thaler Silber Pränumeration auf den Gewinn, welchen die Zukunft von den übrigen deutschen Bühnen ihm gewähren wird, recht barsch verlangen konnte (?) – kennt sie denn unser gutes Deutschland so wenig, oder hält sie von ihrem Werk so gar viel?T – Was soll ich von der Musik sagen? Soll ich die faden Späße der Menge: Ennujante statt Euryanthe; viel Weberei und wenig Dessin; Weber schreibt, wie Gott will, und Rossini schreibt, wie wir wollen u. s. w. commentiren und damit den blinden Momus-Priestern Weihrauch streuen? Oder soll ich dem gleich faden Geschrei: Nichts über Weber! Unerhörte Größe! Einzige, unübertrefliche Composition! u. s. w. huldigend, gegen meine Ueberzeugung sprechen? Wie schwer ist es in solchen Fällen, die Mitte zu halten, um beide Theile nimmer unzufrieden zu machen. Um den Standpunkt dieser Composition ohngefähr zu finden, denke ich mir trigonometrisch die Werke „Zamori“*, „Medea“, „Cortez“, „Fidelio“, „Iphigenia“, drei Dreiecke in einem Kreis beschreibend – und mehr gegen die Seite der drei ersten geneigt – die „Euryanthe“ zwischen den fünf Punkten. Nicht als ob ich damit sagen wollte, daß von diesen Werken materiell etwas entlehnt, oder daß mechanisch ihrer Manier gefolgt sey, sondern um die Meinung aus zu sprechen, daß vielleicht der hochgeehrte Meister, den in diesen Werken vorherrschenden Geist für den einzigen und ächten erkennend, ein Werk habe liefern wollen, welches alle geistigen und technischen Vorzüge derselben in sich vereinigen und damit den deutschen Werken die Krone aufsetzen solle. Vielleicht ist es deutlicher, wenn ich den Satz anders stelle und vergleichend zu Werke gehe. Wie Rossini leider sehr oft, die Situation, den Charakter der Personen und die Würde gänzlich vergessend oder absichtlich verschmähend, Alles dem Zauber seines melodischen Vermögens opfert, und überhaupt die selbstständige, unmittelbar aus der Phantasie hervor gehende und die Harmonie erst schaffende Melodie als oberstes Prinzip der Oper aufstellt, so scheint im Gegentheil Weber technische Vollkommenheit, Strenge im Satz, Beachtung des Charakters und der Situation und den harmonischen Bau größtentheils als oberstes Prinzip zu erkennen, und die Melodie nur insofern gelten zu lassen, als sie aus den intellectuell zusammen gefundenen Harmonien von selbst sich ergiebt. – Darum scheinen mir „Euryanthe“ und die Compositionen Rossini’s den schärfsten Gegensatz zu bilden, welchen bis jetzt sämmtliche Werke der Europäer in derselben Gattung hervor bringen konnten, und darum wird es auch geschehen, daß die Menge, je nachdem sie überall gestimmt ist, nur zu einem der beiden Extreme exaltirt sich hinneigen und Widerwillen gegen das andere empfinden wird; und darum entsteht wahrscheinlich auch unter den Schriftstellern abermals ein langer und herber Kampf – wenn nicht, wie es in Wien geschah, sehr schnell ein Werk von Mozart den Kampf entscheidet, oder wenigstens die beiderseitigen Schreier verstummen macht. – Vielleicht entwickelt kein vorhandenes Werk eine solche Masse imposanter Denkkraft und musikalischer Gelehrsamkeit, wie diese „Euryanthe“, worin ohne Zweifel alle möglichen Dissonanzen erscheinen und zwei Drittheile der möglichen Harmonien vorkommen, und zahllose Transitionen die Nüancen bilden oder herbei führen. Wunderherrliche, das Innerste ergreifende Melodien strömen aus der Brust des seltenen Meisters, sie steigen auf gleich Leuchtkugeln; aber kaum bemerkt sie der Meister – husch! bläst er darein und löscht sie aus – und das Auge des Herzens zuckt schmerzlich und das Ohr findet sich nur schwer in andern völlig fremden Tonwelten wieder zurecht; der innere Zusammenhang liegt zu tief verborgen und kann oft selbst dem Kundigen nur mittelst des Blicks in die Partitur klarer werden, da dem Ohr keine Ruhepunkte gegönnt sind und eine nie befriedigte Spannung in sich selbst erschöpft wird. Einzelne Gesangstücke er¦weckten den Enthusiasmus, und vier Mal mußte der stürmisch gerufene Meister erscheinen; dennoch war der Total-Eindruck nicht befriedigend, und würde es auch nie vollkommen seyn können, selbst wenn die Darstellung einiger Parten besser gewesen wäre, als sie es in der That war, und im Verhältniß der Sänger zu dem Vorgeschriebenen seyn konnte. Man suchte den Grund einer gewissen Unbehaglichkeit, genannt Langeweile, in der Länge einzelner Musikstücke und besonders der Recitative – der Meister mußte abkürzen, aufrichtig gesagt, ohne dem Uebel zu steuern; denn die Langeweile entspringt aus dem undramatischen Wesen des Buchs, aus der Unverständlichkeit der Sänger und aus der leidenschaftslosen Stellung der mehrsten Recitative, welche nicht Einleitungs-Recitative zu einem Gesangsstücke bilden – denn diese sind auch größtentheils vortreflich. Weber hat ein Werk geliefert, welches ihm und seiner Nation Ehre macht, und welches gewiß auf späte Enkel übergehen wird – wenn auch weniger auf der Bühne (?), mehr auf dem Pult der Schüler und auf dem Fortepiano der Tonsetzer und Musikfreunde, als ein praktischeres und anschaulicheres Lehrgebäude, wie viele Bücher es seyn können. – Der längstbewährte Hr. Forti und die immer hoffnungsreicher heranblühende Demois. Sonntag errangen die Krone des Abends; Mad. Grünbaum hatte Vieles vortreflich gesungen, wenn sie nur ein Wort von dem, was sie singt, verstehen ließe; Hr. Heitzinger ist ein recht glänzender Bravour-Sänger für die Parten in der schwindelnden Höhe Rossinischer Weise; aber aus der Seele zur Seele zu singen wird schwerlich seine Sache seyn, da auch von ihm nur höchst selten eine Sylbe zu verstehen ist. Hr. Seipelt ist ein tüchtiger Musiker und seine kraftvolle Stimme wirkt treflich in Ensemble-Stücken – aber Könige von Frankreich hat er wahrscheinlich nicht häufig gesehen! Der höchste Ruhm gebührt aber, meines Erachtens, den Chören: nirgends wird dieser Theil der Oper vollkommener gegeben werden; einer ihrer schönsten Vorzüge ist der, daß man beinahe immer die Worte deutlich hört. Das Orchester, welches mit ungeheuern Schwierigkeiten zu kämpfen hat, zeigte Fleiß, Aufmerksamkeit, ja Begeisterung – aber leider auch oft, daß es nicht mehr ist, was es war. Die äußere Ausschmückung war des K. K. Hof-Theaters und des Meisters würdig. Bei jeder Bühne, wo sämmtliche Parten mit Meistern besetzt werden können, wird die Wirkung ohngefähr dieselbe seyn, wie es im Allgemeinen jede durchaus tragisch gehaltene Oper hervor bringen kann; und an solchen Orten dürfte vielleicht gerade der hier stets zwei Mal repetirte Jäger-Chor mehr in den Hintergrund treten. Nach den bei der zweiten Vorstellung* schon statt gehabten Abkürzungen sollen wieder neue Abkürzungen vorgenommen werden; ob diese wohl zum Zweck führen, oder ob, dem Publikum gegenüber, bei einem so besonnen gearbeiteten Werke, sie überhaupt der Klugheit angemessen sind? – will ich zu entscheiden nicht wagen; nur glaube ich bemerken zu dürfen, daß eine Webersche Oper hierin schonender behandelt werden müsse, als es bei italienischen Opern der Fall seyn mag. – Täglich giebt es noch Gedichte, Verse, Trinklieder für den deutschen Meister, und wahrhaft erfreulich ist der Enthusiasmus, womit man an seinem Namen und an seinen Werken hängt. Die unbedeutendsten Lieder von Weber aus alter Zeit beginnen jetzt erst hier gangbare Handels-Artikel zu werden, und seine lieblichen, der Königin von Baiern gewidmeten Canzonen ertönen jetzt am Clavier mancher Dilettanten und Dilettantinnen. – In Berlin wird wahrscheinlich durch die „Euryanthe“ Mad. Seidler, in Dresden Demois. Schröder (Mad. Devrient) sich neue Kränze um die Schläfe winden.
Editorial
Creation
–
Responsibilities
- Übertragung
- Bandur, Markus
Tradition
-
Text Source: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, Jg. 7, Nr. 189 (26. November 1823), pp. 919–920