Hinrich Lichtenstein an Carl Maria von Weber in Gotha (Fragment)
Berlin, Samstag, 7. November 1812

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Eben da ich zu Hause komme, um Dir mein bester Weber einige Worte (aus Gründen und in Angelegenheiten, die nachher berührt werden sollen) zu schreiben, finde ich Deinen Brief aus Weimar vom 1sten und sehe das allerdings als eine Aufmunterung mehr zum Schreiben an. Nur wollte ich allerdings wieder, Du wärst mir etwas vergnügter und lebenslustiger, denn es kann mich ärgern, daß einer der der Kunst so im Schooße sitzt, wie Du, sich noch von den prosaischen Lebensplagen kann irre machen lassen. Traurige Erfahrungen? Je nun die sind vorüber und haben uns weise gemacht. Mitten im höchsten Glauben? Da liegt eigentlich der Fehler, warum glaubt man, wenn man ein so kluger Mensch ist, der wissen müßte, daß man wohl etwas glauben soll, aber nicht an etwas glauben darf. Will man glücklich sein, so muß man das Leben mit allem was drin ist, wie Naturerscheinungen betrachten, die vorübergehen und an deren keiner man seinen Glauben, sein Glück, seine Existenz hängen darf, wenn man auf den Füßen bleiben will, wie nahe man sich auch mit ihnen verwandt fühle. Selbstständigkeit ist nicht Egoismus. Man kann lieben, glauben, vertrauen und Vertrauen und Liebe erwerben und doch frei bleiben, vorAllem wenn man einen solchen innersten Rückhalt hat, wie die Kunst oder die Wissenschaft und NB wenn nicht das physische Bedürfniß oder Sorgen der Leibesnahrung und Nothdurft drängen, von denen wir beiden ja Gottlob frei sind, die wir wenig bedürfen. Da habe ich aber jetzt so einen braven rechtlichen Menschen hier, den Seckendorf (der über die Kunst, besonders über die darstellende viel und tief gedacht und geschrieben hat) der ist hieher gekommen, um sich und seine Ansichten mitzutheilen, glühend für seinen Gegenstand und eingetaucht in die Berliner Welt wie in kaltes Wasser, misverstanden wo man ihn hört; wegen seines Aeußern (das doch nicht übel ist) bekrittelt, wo man ihn sieht, kurz zerdrückt und zerknickt bis ins Innerste. Und der hat daheim eine Frau und sieben Kinder und kein Brod für sie und keine Austellungsicht zu einer Anstellung* und hier Niemand als mich und hält doch den Kopf immer über dem Wasser und sinkt nicht und wenn Gott will, bringen wirs mit gutem Muth dahin, daß die Berliner ihn erst hören, dann sich an ihm freuen, ihn ferner bewundern wie er’s verdient und endlich vielleicht in den Himmel erheben wie er’s nicht verdient und wie sie’s des Gegensatzes willen, schon mit so vielen gemacht haben. |

Drum mein Freund sei nicht verdrießlich und grämlich und bedenke, daß Du der Welt einen heitern Sinn zu bewahren hast, der sich noch in manchem Werke offenbaren muß, wenn Deine Kunst und Dein Wissen nicht umsonst gebildet und gesammelt sein sollen. Du stehst nicht allein, das leugne ich Dir und wenn Du nur willst, kannst du tausend Herzen dein eigen machen und unter den tausend, werden doch an jedem Ort wohl zwei zu finden sein, die es werth sind, daß Du Dich ihnen wieder hingiebst und die Freude am Leben und am Schönen mit ihnen theilst. — Ich will es gleich versuchen, ob ich eine solche Verbindung zu Stande bringen kann und lege Dir deshalb einen Brief ein an meine zarte und verständige Freundin Sylvie von Ziegesar, die eben in diesen Tagen nach Gotha kommen wird und der ich einen rechten Dienst zu thun hoffe, indem ich Dich zu ihr treibe. Um Euer Verhältniß gleich recht leicht zu machen lege ich in ihren Brief wieder ein Paar scherzhafte Zeilen an Dich ein, die sie lesen mag, um unser beider Verhältniß besser beurtheilen zu können. — Sowie sie vor 12–13 Jahren war, als ich mich ein klein wenig in sie verliebt hatte, ist sie nun wohl nicht mehr, aber sehr liebenswürdig, klug-verständig, gefühlvoll ist sie gewiß noch und vielleicht mehr als damals. Vor Allem wenn [Du] in der Gegend bleiben oder nach Jena kommen solltest [Text bricht hier ab]Hinrich Lichtenstein

Apparat

Zusammenfassung

hat Webers Brief vom 1. Nov. aus Weimar erhalten; möchte, dass er sich von den „prosaischen Lebensplagen“ nicht irre machen lasse, Privates; erwähnt Besuch von Seckendorf und schildert dessen priv. Lage; will Brief an Sylvie von Ziegesar beilegen

Incipit

Eben da ich zu Hause komme, um dir mein bester Weber

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Eveline Bartlitz; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Leipzig (D), Leipziger Stadtbibliothek – Musikbibliothek (D-LEm)
    Signatur: PB 37 (Nr. 3a)

    Quellenbeschreibung

    • 1 Bl. (2 b. S. o. Adr.)
    • Unterschrift mit Bleistift nachgetragen

    Dazugehörige Textwiedergaben

    • Rudorff: Westermanns illustrierte deutsche Monats-Hefte, 44. Jg. (1899), 87. Bd., S. 26–27 (Vermerk: „Unvollendeter nicht abgesandter Brief“)
    • Rudorff 1900, S. 25–28 (unvollendet, nicht abgesandt)

Textkonstitution

  • „… für seinen Gegenstand und eingetaucht“unlesbarer gestrichener Wortbeginn
  • „tellung“durchgestrichen
  • „sicht“über der Zeile hinzugefügt

Einzelstellenerläuterung

  • „… tellung sicht zu einer Anstellung“Gustav Anton von Seckendorff war verheiratet mit Maria Elisabeth, geb. Lechler; aus der Ehe gingen zehn Söhne (darunter William, Robert, Edwin und Harri) und vier Töchter hervor. Er war ab dem Sommersemester 1812 als Privatdozent in Göttingen tätig; vgl. Johannes Tütken, Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta. Zur älteren Privatdozentur (1734 bis 1831), Teil II, Göttingen 2005, S. 906–915. Im Winter 1812/13 hielt er in Berlin Vorlesungen über Deklamation und Mimik mit praktischen Vorführungen und Rezitationen; vgl. Therese Huber, Briefe, hg. von Magdalene Heuser und Petra Wulbusch, Bd. 5, Tübingen 2005, S. 717.

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