Über Generalbass- und Orgelpraktiken
Ueber das sogenannte Generalbass-Spielen bey Aufführung von Kirchen-Musiken, und über würdigere Anwendung der Orgel.
Es ist ein altchristliches Herkommen unter den Kirchen-Componisten, die Instrumental-Bassstimme ihrer Partituren zu beziffern. Wol hat diese Bezifferung ihren Nutzen, wäre es auch nur den, beym Durchspielen die Uebersicht der Partitur das augenblickliche Auffassen der oft in sehr verschiedenartige Stimmen zerstreueten Harmonie zu erleichtern, und zu verhindern, dass der Aufmerksamkeit des Partiturspielers, – des Dirigenten etc. bey der Probe u. dergl. – oder sonst des Lesers, nicht etwa ein unerwarteter Leitton, oder sonst ein entscheidendes Intervall, unbemerkt entschlüpfe, welches vielleicht in einem unwichtig scheinenden Blasinstrumente, in einem ungewöhnlichen Schlüssel, oder sonst versteckt seyn möchte, wo man es nicht leicht gesucht hätte. – Die Nützlichkeit dieses Gebrauchs an sich ist so einleuchtend, dass man sich wol wundern darf, wenn er nicht eben so gut in der profanen Musik Aufnahme findet.
Eine ganz andere Frage bleibt aber: Ist es gut, diesen Zifferbass bey der Aufführung des Stücks abspielen zu lassen?
Man wird mich kurzweg einen Orgelfeind schelten, wenn ich behaupte, dass diese Art von Orgelbegleitung dem Effect der Aufführung schädlich ist: und doch kann ich redlich betheuern, dass es nicht leicht einen wärmern Verehrer dieses vielseitigen Tonwerkzeugs geben mag, als ich es bin. Allein eben, je höher ich den eigenthümlichen Werth der Orgel schätze, desto ärger verdriesst es mich, sie gewöhnlich zu einer Art von Dienst erniedrigt zu sehen, in welchem sie ohne Vergleich mehr schaden muss, als zu nützen vermag. Dies Letztere ist es eben, was ich durch Gegenwärtiges begreiflich machen möchte. ¦
Ich brauche zu dem Ende nicht erst hier die Mangelhaftigkeit, die Unzuverlässigkeit, und die sonstigen Mängel der Tonschrift durch Ziffern überhaupt weitläufig aufzuzählen – sie sind anerkannt: aber eben darum darf man mit Recht schon im Allgemeinen fragen: Warum giebt man sich denn die Mühe, jedem andern Instrumente aufs bestimmteste vorzuschreiben, was es thun soll, und fertigt nur grade die Orgel mit einer so mangelhaft bezeichneten Stimme ab, welche so vieles unbestimmt, so vieles der Willkühr und Divinationsgabe des Spielers überlässt? Ist denn, um nur Einiges anzuführen, die Lage und Höhe, in welcher die Intervalle gegriffen werden sollen, etwas so Gleichgültiges, dass man sich mit einer Bezeichnungsart behilft, welche nicht nur im Allgemeinen die Lage ganz unbestimmt, sondern den nach einer bezifferten Orgelstimme begleitenden Organisten in den Fall kommen lässt, eine Stelle, wie: folgendermassen zu begleiten: und dadurch Fortschreitungen in das Werk zu bringen, die wenigstens nicht besonders wohlklingen, und die er doch, unwissend in welcher Höhe die andern Stimmen liegen, gar nicht voraus errathen und vermeiden konnte? ist es denn so gleichgültig, ob die Begleitung getragen und gebunden, oder ob sie abgestossen, ob sie liegend oder hüpfend und beweglich ob sie arpeggirend oder | mit kleinen Pausen unterbrochen ist? ist dies alles so unwichtig, dass man den Organisten nach einer Stimme spielen lässt, woraus er durchaus hierüber nichts errathen kann? Ja, ist das Abspielen der, über die Bassnoten gesetzten Ziffern nicht sogar unbedingt nachtheilig und von widriger Wirkung, da, wo in den übrigen Stimmen viele durchgehende oder Zwischen-Noten vorkommen, z. B. u. s. w. oder will man alle durchgehende und Zwischen-Noten, so viel möglich, auch durch Ziffern andeuten: welch ein wimmelnder Ameisenhaufen von Ziffern, mit Versetzungs- und Wiederherstellungs-Zeichen kraus durchspickt! welche Schwierigkeit für den Organisten, z. B. in einer Stelle, wie die obige, die Ziffern alle zu lesen, wenn man die 16tel im Generalbass andeuten wollte! und wenn er sie auch zu lesen und zu übersehen vermag, wird er in Stellen, wie etwa folgende: auch immer just den beweglichen Stimmenfluss und die Art von Gesangschweifung, die der Componist den Sing- oder Instrumentalstimmen gegeben hat, errathen, und ihn nicht verdunkeln und verwischen durch eine steife, schwunglose, vielleicht schulgerecht harmonische, aber wenig melodische – oder wenigstens nicht der Art von Stimmenfluss, welche der Tonsetzer beabsichtigte, entsprechende Begleitung auf einem Klumpen beysammen sitzenbleibender Töne ohne Fluss und Beweglichkeit?
Welchen Vortheil kann man nach diesem allen von der Mitwirkung eines Instrumentes erwarten, dessen Thätigkeit (nach der bisherigen Weise nämlich) durch so mangelhafte, unvollständige und unzuverlässige Vorschrift geleitet wird? Ist es nicht offenbar, dass, schon allein als Folge dieser Unvollkommenheit der Bezeichnungsart, auch selbst der geschickteste Spieler (von mittelmässigen oder schlechten gar nicht zu reden) durch seine Orgelbegleitung mehr verderben, als gut machen wird? ¦ Denn nochmals: wie mag man von dem Organisten erwarten, er werde aus dem Stegreif, und blos nach den, nur das Was, nie aber das Wie andeutenden Ziffern, die passendste Orgelbegleitung gleich im Augenblick erfinden und ausführen, wo doch der Componist selbst, wenn er, die Partitur vor ihm liegend, eine Orgelstimme schreiben sollte, über manches mit Musse erst nachdenken, manche geschriebene Note wieder ausstreichen, und anders und zweckmässiger wenden würde! Wer wird die Evidenz von diesem allen verkennen, wenn ein Vogler selbst es gesteht, es sey zu viel vom Organisten gefodert, dass er aus dem Stegreif leiste, wozu der Kapellmeister sich Zeit nehmen würde! (Choral-System, S. 73 fgg.)
Die ganze Bezifferung ist ja an sich nichts anders, als eine Abbreviatur, entstanden im Mittelalter, in eben der Epoche, wo das Abbreviren auch in der Sprachschrift so häufig vorkam, und durchgehends so ganz gewöhnlich war, dass sie sogar noch in die Druckschrift herübergezogen wurde. Damals, wo sich die Musik noch in der Kindheit befand; als es blos darauf ankam, zu einer höchst einfachen u. langsamen Choral-Melodie eine eben so einfache harmonische Begleitung auf der Orgel, und ohne Hinzutritt einer figurirten, vielstimmigen Vocal- und Instrumental-Musik zu spielen, – da konnte eine solche abbrevirte Schreibart wol genügen, da konnten ein paar Ziffern als blosse Denkzeichen wol ihren Zweck erfüllen, dem Organisten das Wenige, was bey einer solchen Begleitung zu bemerken ist, zu bezeichnen. Als aber die Musik sich mehr auszubilden anfing, und complizirter wurde: da bildete sich zwar zugleich mit ihr auch die Bezifferungskunst mehr und mehr aus: aber Schritt halten konnte eine an sich so mangelhafte Sache nicht mit der Kunst selbst; und jetzt, wo die complizirtere Beschaffenheit unsrer Figural-Musik weit mehr Umsicht in Auswahl der Lagen, in der Wahl der Bewegung, im rhythmischen Anschlag und Vermeidung von Härten, Anstössen etc. nöthig macht, wo man also dem Organisten ungleich mehr zu sagen hat, als vor fünfzig oder hundert Jahren – jetzt langt diese unvollkommene Zeichensprache, langen blosse Abbreviaturen nicht mehr, u. so wenig hin, als ägyptische Hieroglyphen, um eine philosophische Abhandlung zu schreiben. – Die Ziffern, so dienlich sie zur Erleichterung der Uebersicht der Harmonie seyn mögen, oder | als Abbreviaturen, um gleichsam mnemonisch oder stenographisch, eine Harmonie zu skizziren – zu gehöriger Bezeichnung von etwas so Verwickeltem, wie unsre heutigen Harmoniegewebe sind, taugt eine solche Hieroglyphen-, Augen-, Blumen-Sprache, taugt solch ein Schrift-Surrogat nicht mehr, und der Ziffer-Spieler kann nicht anders, als grossentheils effectwidrig begleiten, gerade wie auch der beste Declamator, wenn er eine unleserliche Handschrift vorlesen soll, worin kein einziges Wort ausgeschrieben, sondern alle abbrevirt sind, nicht anders, als schlecht und holpernd vortragen kann.
Doch auch abgesehen von der Unvollkommenheit dieses Noten-Surrogats, oder angenommen, jeder Orgelspieler wäre so geschickt, oder vielmehr solch ein Glücks- und Sonntagskind, alles, was die Bezifferung unbestimmt lässt, im Augenblick zu errathen und zu beobachten: selbst dann würden noch immer Nachtheile genug aus dem constanten Aborgeln der bezifferten Bassstimme entstehen.
Ich will hier nicht eben besonders viel Gewicht auf die Thatsache legen, welche doch jeder, der dergleichen Musiken aufmerksam anzuhören pflegt, gewiss schon häufig mit vielem Unwillen bemerkt hat: wie häufig nämlich dieser oder jener Organist, bald aus Unverstand, bald aus Arroganz, oder weil er sich sonst überhaupt gern vorhört, oder auch um sich dadurch, so glaubt er wenigstens, wichtig zu machen, und es nicht aufkommen zu lassen, dass er hier entbehrlich sey, oder sonst um sich recht, wie man sagt, zu zeigen – die übrige Instrumental-Partie nicht nur, (das ginge noch!) sondern selbst den Singchor, übertönt, wenigstens, in Gemeinschaft mit dem übrigen Instrumentalchor, so sehr deckt und drückt, dass die in Kirchen ohnehin oft mager besetzte Vocalpartie – das Gemälde, von dem reichen, schweren, ausgeschnitzten, goldglänzenden Rahmen verdunkelt wird, statt dass es davon hervorgehoben werden sollte – zumal in Kirchen, wo, wie häufig, eine allzuverwirrte Resonanz in den Wölbungen des Gebäudes die Vocalpartie ohnehin schon unverständlich genug macht; so dass am Ende der Zuhörer nichts vernimmt, als einen Schwall unartikulirter Instrumentaltöne ohne Gesang und Text, ohne das belebende Wort, welches doch allein erst die Empfindung und Absicht des Tonstücks erklären soll –: ich will, sage ich, solche Missbräuche nicht der Sache selbst zum Vorwurf machen, wenn ¦ gleich die erstern freylich beynah unzertrennlich im Gefolge der letztern zu seyn pflegen: nein, schmücken wir vielmehr in Gedanken unser obiges Ideal und Sonntagskind auch noch mit der seltenen Tugend aller möglichen Discretion aus: auch dann noch, und immer, wird sein Mitwirken nur verderben, was der Componist und was Sänger und Spieler gut machen.
Die Orgel, dieses reiche Instrument, repräsentirt, und enthält auch wirklich, einen ganzen, mehr oder weniger vollstimmigen Chor von Blasinstrumenten. Die gehaltnen Töne des Generalbassspielers auf der Orgel thun eine Wirkung, welche den gehaltnen Tönen von 4 bis 8 Blasinstrumenten höchst nahe verwandt ist. Wer wollte nun aber ein ganzes Oratorium, eine ganze Messe hindurch unausgesetzt Blasinstrumente mitgehen hören? Wie kann so ein rastloses Pfeifen und Summen anders, als das Gehör ermüden, und abstumpfen für den Effect der Blasinstrumente selbst, wo diese an einer gewissen Stelle mit dem ihnen eigenthümlichen Schmelz eintreten sollen? Wie sorgfältig spart oft der Componist alle Blasinstrumente eine geraume Zeit, um hernach durch deren erfreuliches Wiedereintreten desto angenehmer zu überraschen! Wo bleibt aber nun dieser wohlthunde Contrast, wenn man schon die ganze Zeit über den Pfeifenchor unausgesetzt gehört hat?
So erscheint also der Generalbassspieler mit seiner, meinetwegen grundgelehrt, mit Ziffern bespickten Stimme überall nur als Effectverderber; und ist es also nicht sündhaft, das so effectreiche Instrument als harmonischen Ballast und verdunkelnde Hülle zum Nachtheil des Effects anzuwenden; statt seinen Reichthum an Mitteln zu den imposantesten sowol, als den sanftesten Effecten, auf würdigere Art zu benutzen?
Wäre es mithin nicht Zeit, auch hier einmal zu thun, was die Vernunft und Natur der Sache heischen? Man lasse doch endlich das leidige Generalbassspielen, und begnüge sich fein mit den vom Componisten ausgesetzten Stimmen, welche ja immer schon die vollständige Harmonie enthalten und keiner Nachhülfe durch Orgelpfeifen bedürfen! (wie dies auch Aufführungen von Messen u. dergl. in Concertsälen unwidersprechlich beweisen.) Auf diese Art wird wenigstens durch die Orgel nichts verdorben. Will man aber etwas mehr thun, so setze man für die Stellen, wo man glaubt, der Beytritt der Orgel werde von guter Wirkung seyn, | eine Orgelstimme in Noten auf zwey Zeilen, (oder, wo es auslangt, auf eine) aus, und benutze so das Instrument als, zwar nur zufällige, aber doch zweckmässige, den Effect wenigstens nicht verderbende, und am rechten Ort ihn verstärkende Ripienstimme, mit sorgfältiger Bemerkung der Zahl und Qualität der zu ziehenden Orgel-Register!
Aber das prächtige Instrument, in dem so schön Zartes sich und Starkes paaret, wäre auch wol noch mehr werth als dieses; wäre wol werth, dass man ihm weit öfter, als zu geschehen pflegt, sein Recht als Solo-Instrument wiederfahren liesse, und es in Messen, Te Deum u. dergl. obligat gebrauche, es bald in seiner vollen, erschütternden Pracht donnern und jubeln, bald durch die Zartheit, deren es zugleich fähig ist, wieder sanft zum Herzen sprechen liesse. Wol oft würden eingemischte Orgelsätze in der Kirche von tieferer Wirkung seyn, als eben dieselben von Hoboen, Fagotten, Flöten u. dergl. vorgetragen, und so könnte der Componist durch eine obligate Orgelstimme sämmtliche Blasinstrumente manchmal entweder ganz entbehren und sparen, oder letztere in zweckmässiger Abwechselung gegen den Pfeifenchor benutzen.
Ja, in mancher noch anderen Art könnte die Orgel wohlthätig werden, eben durch ihre Fähigkeit, eine Harmonie von Blasinstrumenten zu repräsentiren und zu ersetzen. Wie oft muss man es nämlich nicht aufgeben, diese oder jene Messe in der Kirche aufzuführen, weil sie zu stark instrumentirt ist, und so viele Blasinstrumentisten sich nur gar zu mühsam zusammenbringen lassen! Hier kann wieder die Orgel ins Mittel treten, und auf angemessenen Registern einen Theil der Blas-Instrumentalpartie ausführen, ja, manche Messe würde vielleicht gar nichts dabey verlieren, wenn man ihre sämmtlichen Blasinstrumente in eine Orgelstimme verwandelte!
Dergleichen Anwendungen der Orgel – nächst ihrem ursprünglichen und eigenthümlichen Zwecke, der Begleitung des Choral-Gesanges und der freyen Phantasie – wären der Würde des Instruments wahrhaft entsprechend. Es ist aber nun einmal ein wahres Unglück, dass, so in, wie ausser der Kirche, gar Manches fortwährend zu unrechten Zwecken dienen muss: und so sitzt denn auch beynahe überall, wo Musik in einer Kirche gegeben wird, so ein Generalbassspieler auf der Orgelbank, und greift mit Fingern und Füssen, und verdirbt ¦ den Effect nach Vermögen; und das liebe Auditorium weiss es nicht anders, glaubt sogar, das müsse nun einmal so seyn, der Organist müsse „die Harmonie ausfüllen” und „das Ganze im Geleise halten,“ und wagt es nicht, einen Zweifel laut werden zu lassen gegen das altlöbliche Herkommen, gegen
das ewig Gestrige,was immer war, und immer wiederkehrt,und morgen gilt, weil’s heute hat gegolten. Gottfried Weber.Apparat
Zusammenfassung
Über Generalbass- und Orgelpraktiken
Entstehung
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Überlieferung
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Textzeuge: Allgemeine Musikalische Zeitung, Jg. 15, Nr. 7 (17. Februar 1813), Sp. 105–112