Aufführungsbesprechung Wien, Hofoper: „Euryanthe“ von Carl Maria von Weber am 19. August 1855
Musikalische Wochenlese.
Von L. A. Zellner.
(„Euryanthe“ große Oper von Carl Maria von Weber. – Ihre musikalische Bedeutung. – das Textbuch. – Die Darsteller, als Schauspieler und Sänger. – Wie sie spielten und sangen. – Vom Orchester.)
Sagen wir, daß ein, aller Anerkennung würdiger Fleiß auf das Einstudiren des Werkes verwendet wurde, daß die Einzelnleistungen von viel gutem Willen, das Ensemble von wohlgeleiteten Proben, die Costumes von Treue und Freigebigkeit, die Scenirung von Geschmack und theilweiser Richtigkeit zeigten, so haben wir unser bestes Lob über die Aufführung der Weber’schen „Euryanthe“ ausgesprochen. Höheren Forderungen, die von der, auf unmittelbaren dramatischen Ausdruck unverkennbar hindrängenden Richtung dieses Werkes gebieterisch gestellt werden, wurde nicht genügt. Charaktergestaltung im Einzelnen, das damit nothwendig verbundene Vermeiden des Voranstellens der subjectiven Individualität, so wie künstlerische Belebung des Ganzen wurde hingegen durchgehend vermißt. Wenn einer diesen Bedingungen stellenweise annährend entsprach, so war es Herr Ander; doch auch bei ihm fielen die Schwerpunkte der Leistung fast ausschließlich auf den lyrischen Theil seiner Aufgabe.
Wir wiederholen es, daß an die technische Bewältigung des Werkes von Allen dabei Betheiligten der redlichste Eifer gewendet worden sei, wir betonen unser diesfälliges Lob nachdrücklichst, um später nicht ungerecht zu erscheinen, wenn wir einen Maßstab zur Hand nehmen, der über den engen Kreis der Routine, über die Forderungen, die man an Opernsänger nach gangläufigen Begriffen zu machen gewohnt ist, weit hinausgreift, einen Maßstab, wie ihn eben die, über die Grenze gewöhnlichen Opernstyls ragende Bedeutung der „Euryanthe“ erheischt.
Der Gesichtspunkt, von welchem wir hiebei ausgehen, ist keineswegs ein idealer, sondern vielmehr ein ganz natürlicher, aus den Absichten des Werkes von selbst hervorgehender. Man braucht daher nur dieser sich vollständig bewußt, um die Art und Weise zu erkennen, wie ihnen gerecht zu werden.
Webers reformirende That, welche er mit der „Euryanthe“ unternahm, bestand in dem Vordringen auf dramatisch wahren Ausdruck, auf die bis in die feinsten Beziehungen und Modificationen des Seelenlebens eingehende Charakterzeichnung, auf die Wahrheit des Localcolorits. So weit ihm dies durchzuführen möglich war, hat er es auch vollständig erreicht. Wo es nicht gelang, liegt die Schuld nicht an ihm, sondern an dem spröden, unmusikalischen Stoffe, welchen er mit aller Sinnigkeit und Treue seiner Melodie nicht zu bewältigen im Stande war. Weber fehlte der Dichter, der ihn begeisternd zur Seite gestanden wäre, und so blieb dem Componisten die doppelte gesteigerte Aufgabe, das Drama aus den ihm zu Gebote stehenden, rein musikalischen Mitteln: Melodie und Harmonie, fast ausschließlich construiren zu müssen. Hätte Weber zu dem Verfahren greifen wollen, welches er im „Freischütz“ einschlug, nämlich die lyrischen Momente aus dem Schauspiel hervorzunehmen ¦ und diese zur Grundlage seiner Musik zu verwenden, es würde ihm dieses ein Leichtes gewesen sein. Er aber wollte mit seinen melodischen Kundgebungen das Ganze beherrschen, und dies bereitete ihm große Schwierigkeiten, die ein frivoler Musiker, Rossini etwa, ohne Mühe, freilich aber auch ohne der Wahrheit im geringsten Rechnung zu tragen, überwunden hätte.
Weber aber war ein gewissenhafter Künstler, seine Melodie sollte durchgehends charaktervoll, d. h. wahr, den gegenständlichen Empfindungen angemessen sein.
Um dies auf melodischem Wege zu erreichen, hätte müssen ununterbrochener Anlaß zur breiten, ausführlichen melodischen Entfaltung im Gedichte selbst gegeben werden. Dies ist nicht der Fall.
Der Componist war also (jene vorbesagten Momente ausgenommen, die einen lyrischen Erguß gestatteten) bemüßigt um, der Wahrheit des musikalischen Ausdrucks gerecht zu werden, zur melodischen Phrase Zuflucht zu nehmen, die der augenblicklichen Stimmung seiner Personen und der Situation characteristisch angemessen war. Die Phrase aber, die als solche keine ausgeführte Gesangmelodie sein kann, zur Melodie dennoch zu gestalten, bot sich ihm das vielgestaltige und von seinem Genius zu unendlich reicher Entwicklung gebrachte Tonleben des Orchesters als Mittel dar. Es war der Kitt, der die melodischen Gesangsphrasen zur vollen Melodie zu verbinden, die Lücken auszufüllen, das Begonnene fort- das Angedeutete auszuführen hatte. Doch wie die Sprache des Weber’schen Orchesters unmittelbar aus der dramatischen Situation entsprießt und mit der Charakteristik der Personen in engster Verbindung steht, so muß, um zum Bewußtsein und vollstem Verständniß dieser Sprache vorzudringen, nothwendig ein Element vorausgesetzt werden, das diese Beziehungen zur Evidenz herausstellt und vermittelt. Dieses ist der Act der dramatischen Darstellung, das Wort, das die Handlung, die Gebärde, die das Motiv derselben begründet. Die Beziehung zwischen Gesangston und Wort, zwischen musikalischer und declamatorischer Betonung, zwischen der orchestralen Kundgebung und der Gebärde ist eine so enge und reciproke, daß man kaum entscheiden kann, ob diese jene, oder jene diese zu commentiren die ursprüngliche Bestimmung erhielten.
Da nun aber der Tondichter dieses Alles thatsächlich in seinem Werke ausgesprochen haben muß nachdem es vorhanden ist, so bleibt es natürlich Aufgabe derjenigen, welche sich mit der Versinnlichung dieser Intentionen befassen, die Summe der genannten Beziehungen auf das lebendigste herauszufühlen und zum allgemein verständlichen Ausdrucke zu bringen.
Wir geben gerne zu, daß diese Aufgabe keine geringe sei, besonders für den modernen Opernsänger, der in dem virtuosen und gefühlvollen musikalischen Vortrage der Gesangsmelodie den Culminatio[n]spunct seines künstlerischen Berufes zu erblicken gewohnt ist. In der dramatischen Oper kann dies aber nur einen Theil bilden, mit welchem jedoch die Aufgabe nicht erschöpft ist, deren gewichtige Faktoren nicht minder die Darstellung: Declamation, Spiel, mimischer Ausdruck, bilden. Hier genügt das conventionelle Händespiel | nicht, genügen nicht die Spaziergänge von einer Seite des Souffleurkastens zur andern, und das beliebte Aushalten effectversprechender Töne zu Gunsten der Schaustellung der schönen oder kräftigen Stimme, wobei dem melodischen und nicht minder prosodischen Accente Arm und Beine verrenkt werden, führt eben so wenig zum Ziele. Hier, wo jeder Ton seine bestimmte, auf dramatische Absicht gerichtete Bedeutung hat, obliegt dem Sänger, dieser Bedeutung vollbewußt zu werden.
Er muß die geheimnißvollen Räthsel der Orchestersprache entziffern und mit jener Gebärde in Uebereinstimmung bringen, die ihren Sinn am bezeichnendsten auszudrücken geeignet sind. Er muß die Grundlage des melodischen Gedankens die im Worte sich kundgebende dramatische Handlung zur vollsten Aeußerung erschließen; dies kann aber nur durch die deutlichste declamatorische, sprachliche wie musikalische Betonung, der bei Vernachlässigung dieser Bedingung sogleich unverständlichen, charakteristischen Phrase erzielt werden.
Keine dieser wesentlichen Erfordernisse kann erlassen werden, wenn von einem charakteristischen Erfassen solcher Rollen, wie sie Webers Euryanthe bietet, die Rede sein soll, wobei von der höhern Durchgeistigung der Aufgabe, von dem poetischen Walten, welches der technisch erschöpften, ja selbst in den innersten Beziehungen richtig aufgefaßte Lösung erst das Siegel künstlerischer Vollendung aufdrückt.
Daß die Aufführung der Euryanthe diesem Bilde nicht entfernt gleichkam, wird jeder, der sich des, streng genommen, unkünstlerischen Standpunctes, welchen die moderne Opernbühne mit ihren Vetretern heute einnimt, bewußt ist, und so viel künstlerische Empfindung besitzt, um von der, in den Kundgebungen der Opernsänger als Erscheinung eines allgemeinen beklagenswerthen Zustandes herrschenden naturalistischen Rohheit, Geschmacklosigkeit und Einseitigkeit verletzt zu werden, von vorne herein zugeben.
Soll daher der gewünschte höhere Standpunkt in der angedeuteten Richtung gewonnen werden, so müßte jener Umschwung der künstlerischen Begriffe stattfinden, deren Grundzüge in den Forderungen enthalten sind, die im Verlaufe dieses Aufsatzes, wenn auch nur im Kurzen, doch hinlänglich bestimmt ausgesprochen wurden.
Kein Schritt aber scheint uns geeigneter, diesen Umschwung anzubahnen, als der, welchen mit der Vornahme der Euryanthe die Administration that, den wir mithin auch auf das freudigste begrüßen. Möge er nicht vereinzelt bleiben, sondern vielmehr den, einer gleichen Richtung angehörenden Tonschöpfungen Glucks die Wege bereiten, um seinerseits den durch Ueberreizung blasirten allgemeinen Geschmack auf eine natürliche Basis zurückzuführen, anderseits jene Schranken zu durchbrechen, die, solchen Principien analog geschaffenen Werken der Neuzeit dermalen schon zu erschließen, Verhältnisse (?) noch nicht gestatten.
Wir wünschen es eben so sehr, als wir nicht daran zweifeln, daß die folgenden Vorstellungen der beregten Oper zur besseren, eingehenderen Erkenntniß ihrer eigentlich dramatischen Schönheiten im Publikum beitragen werden, welches der ersten Aufführung mit rühmenswerther Aufmerksamkeit gefolgt war, sich aber, wie dies bei der Ungewohntheit des Genre’s sehr begreiflich und nicht zu verdenken ist, an die Aeußerlichkeiten, an das sogleich in’s Gehör fallende absolut musikalische Element hielt, weshalb auch die abgeschlossenen, auf bekannte musikalische Formen fußenden Theile des Werkes am lebhaftesten aufgenommen wurden. Um auch den übrigen Inhalt des Werkes der gleich eingehenden Würdigung zuzuführen, wird, wie gesagt, die höhere dramatische Aufgabe der Darsteller und ihres Bestrebens in die Tiefen geistigen Erfassens einzudringen bilden, wozu Deutlichkeit der Sprache, Richtigkeit der declamatorischen Betonung, aus der musikalischen Charakteristik unmittelbar hervorgehendes Spiel und eine nach poetischer, edler Anschauung hingewendete Kundgebung des Geschmackes gefordert werden. Daß diesen Bedingungen bei den folgenden Aufführungen schon in Folge der gewonnenen Sicherheit in der technischen Bewältigung der Aufgaben, immer mehr und mehr entsprochen werden wird, ist eine Erwartung, die wir an so bildungsfähige Künstler, wie die Herren Ander und Beck zu stellen berechtigt sind. In dieser Hoffnung beschränken wir uns diesmal auf die wenigen Bemerkungen, die wir schließlich folgen lassen.
Hr. Ander gab den Adolar im Ganzen der dramatischen In¦tention gemäß. Sein Spiel, seine Declamation war größtentheils ausdrucksvoll. Was an der Durchführung des musikalischen Theiles stellenweise noch mangelhaft schien, muß auf Rechnung der Schwierigkeiten der Partie gebracht werden, deren unser Sänger in der Folge wohl Herr werden dürfte. Die Betonung im ersten Recitative war oft ganz vorzüglich, der Sprachaccent gelangte größtentheils zur richtigen Geltung. Durchdacht angelegt, mit hohem Geschmack durchgeführt war die Steigerung im Ausdruck, wie hinsichtlich der Kraft in der Romance, desgleichen verdient der Vortrag der Arie und des (vielleicht etwas wärmer zu färbenden) Duetts Beifall. Herr Beck hat dem sonst sehr deutlichen und gut declamirten Vortrage der Recitation dadurch theilweise geschadet, daß er in sie zu viel rein musikalischen Ausdruck zu legen bemüht war. Das ofte Anbringen schwellender Portament’s und auf Stimmeffecte abzielender Haltetöne geschah, wie natürlich, auf Kosten prosodischer Richtigkeit. Seine Arie im 2. Act und das wunderreiche Duett mit Eglantine, hat er vom absolut musikalischen Gesichtspuncte aufgefaßt und diesen allerdings zu schöner Geltung gebracht; ein genaueres Eingehen in das Wesen dieser Aufgaben wird aber hoffentlich den geschätzten und fleißigen Sänger von selbst auf die Einseitigkeit seiner Auffassung, und die Unzulänglichkeit ausschließlich musikalischer Hebel hinführen. – Frau Herrmann-Csillag zeigte sichtliches Bestreben, ihrer Partie in beiden Richtungen, sowohl als Sängerin wie Darstellerin gerecht zu werden – und in der That nicht ohne erfreulichen Erfolg. Besondere Anerkennung verdient die Lebendigkeit und Energie des deklamatorischen Ausdruckes, wie das Maßhalten im Gesange. Auch das Spiel war stellenweise nicht unwirksam, manchmal aber gänzlich vernachlässigt, wie z. B. bei jenem merkwürdigen „Hinweg“ (im Monologe), welches ohne vorangehenden, den plötzlichen Umschwung der Stimmung erklärenden Gebärdenspiel, ganz unmotivirt erscheint. Vorzüglich im Ausdrucke gelang das „ich war’s“ im letzten Acte. – An Frln. Tietjens (Euryanthe) darf man leider keinerlei Forderung stellen, die irgend nur mit Geschmack in Zusammenhang stehen; daß sie ihr[e] Rolle gut memorirt, fleißig geübt und ohne äußere Fehler gesungen, ist wohl Alles, was wir loben können. Von Deklamation, selbst von blos verständlicher Aussprache des Textes, wie von einem im geringsten nur angemessenen Spiele war selbstverständlich keine Rede. Daß in Folge dieser Mängel die visionäre Erzählung Euryanthe’s, worin sie Eglantinen das verhängnißvolle Geheimniß enthüllt, so wie die Begründung ihrer erst im letzten Augenblicke erfolgenden Rechtfertigung, dadurch aber die Motivirung ihres Gesammtcharakters verloren geht und dieser für den Zuhörer gänzlich unverständlich bleibt, bedarf wohl keiner weitern Erläuterung. Nebenbei bemerkt, dünkt uns das erste Costüm wenig geschmackvoll, wenigstens nicht so viel, um eine Erscheinung zu bilden, welche dem Chor der Ritter unwillkürlich ein Beifallsgemurmel entlockt.
Entschieden unglücklich war Hr. Mayerhofer in der Darstellung seiner Rolle (König), die sowohl Anstand als Würde vermissen ließ. Auch im Uebrigen bot seine Leistung nichts Bemerkenswerthes. Die Chöre müssen theilweise noch präciser gehen, und sollte auf reinere Intonation überhaupt gesehen werden; in den Gruppen herrschte hingegen angemessene Beweglichkeit. Das Orchester hielt sich unter der Leitung des Hrn. Esser sehr tüchtig. Das Pianissimo (con sordini) in der Ouverture dürfte um ein weniges stärker, manche Begleitungsstelle um ein weniges schwächer sein.
Der Scenierung haben wir bereits Eingangs mit Anerkennung gedacht, nur scheint uns die Waldgegend im dritten Acte ein wenig zu freundlich-romantisch um mit der verzweiflungsvollen That, deren Schauplatz sie abgeben soll, übereinzustimmen.
Apparat
Entstehung
–
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Amiryan-Stein, Aida
Überlieferung
-
Textzeuge: Blätter für Musik, Theater und Kunst, Jg. 1, Nr. 58 (21. August 1855), S. 229–230