Aufführungsbesprechung Wien, Hofoperntheater Kärnthnerthore: „Euryanthe“ von Carl Maria von Weber am 25. Oktober 1823 (1 von 2)

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Euryanthe.

(Zweyte Recension.)

Wenn wir bey Beurtheilung dieser Musik – da sie das Werk eines berühmten teutschen Tonsetzers ist, der nach dem Abgange der italienischen Oper von Wien damit debutirte – mit der größten Unpartheylichkeit und möglichsten Umsicht zu Werke gehen wollen, so müssen wir nicht allein ganz offen von dem Eindrucke sprechen, den dasselbe auf die große, in ungewöhnlicher Menge herbeygeeilter Zuhörer am ersten Tage der Vorstellung machte, sondern auch von den Beweisen der Theilnahme Rechenschaft geben, welche dieses Werk in den folgenden erhalten wird. Wenn wir den Hergang der Dinge mit getreuer Wahrheit erzählen, so werden vielleicht die wohlgemeinten Erläuterungen des kritischen, aufmerksa|men Beobachters dem lesenden Publicum, als eine freundliche und das Beste der Sache sowohl, als das Höchste der Kunst fördernde Zugabe, willkommen seyn.

Wenn der prädominirende Sinnenreitz in der italienischen, d. h. nach unserer jetzigen Sprache, in der Rossinischen Musik von der einen Partey der italienischen Oper häufig zum Vorwurf gemacht wird, so hat die andere Partey eben so viel Recht zu sagen, das die teutschen Tonsetzer unserer Zeit der Harmonie auf Unkosten der Melodie sehr häufig einen allzu freyen Spielraum gönnen, und dadurch dem eigentlichen Wesen der Musik den lebendigen Reitz rauben, durch welchen sie nun gerade in ihrer Einwirkung auf die Sinne, und durch diese auf die Seele des Menschen, so mächtig, so bezaubernd wird.

Da alle Musik durch das Ohr, und nicht durch das Auge eingeht, so hatten die Einen eben so viel Recht sich von Rossinis’s Tönen bezaubern zu alssen, als die Andern befugt waren, in der teutschen Musik, besonders in der tragischen und romantischen Oper, eine größere Tiefe, eine gehaltvollere Gediegenheit und künstlerische Vollendung zu fordern.

Manchen falschen Propheten, welche mit ihren Augen allzu nahe vor ihrem beschauten Lieblingsgegenstande stehen, und deßhalb gar nicht fähig sind, einen Augenpunct für den andern, den Gegenstand ihres Streites zu finden, noch weniger das Kriterium zur Vereinigung beyder aufzusuchen – manchen solchen schien es daher eine äußerst schwere, eine höchst gefährliche Aufgabe, nun mit einem neuen Werke hervorzutreten, und diese eiferten auch wirklich auf eine ganz unnöthige Weise über den jetzt herrschenden Zeitgeist. Sie bedachten gar nicht, daß in einer Stadt wie Wien der echte Sinn für Kunst in keiner Periode untergehen kann, sondern daß derselbe als ein Erbtheil der moralischen Bildung von Generation zu Generation übergeht, und durch die immer mehr wachsende Bildung der Edleren in der ausübenden Tonkunst, welche doch im Grunde durch teutsche Geister am meisten genährt wird, immer festere Wurzel faßt.

Der Augenschein bewies es auch ganz deutlich in der ersten Aufführung dieser Oper, daß weder die Virtuosität der italienischen Sänger, noch das Vorurtheil für die vorherrschende Anmuth oder Lieblichkeit der italienischen Musik einen von den Einwohnern der Residenzstadt, welche im Theater die schönsten Freuden des Abends suchen, von dieser teutschen Opernvorstellung zurückgehalten hatte.

Eine unzählige Menge war nach dem Schauspielhause geströmt, und daß diese nicht etwa von einer animosen Ansicht und Absicht dahin gezogen war, verrieth dem unbefangenen Beobachter ganz deutlich der ehrenvolle Empfang, dessen der Tonsetzer bey seinem Eintritte in das Orchester gewürdigt wurde. Der Verfasser des Freyschützen lebte in zu warmem Andenken, als daß nicht jeder gern die Last des langen Aufenthalts in einem überfüllten Hause ertragen hätte.

Wenn nun aber gerade die im Andenken noch zu lebhaft wirkende, obengenannte Oper bey Beurtheilung dieses Werkes einigen Eintrag that; wenn nun gerade der größte Theil der anwesenden Theaterliebhaber in der Euryanthe einen solchen Reichtum gesangreicher, ansprechender Melodien suchte, als der Freyschütze darboth, so hat Webers Genius dazu die natürlichste Veranlassung gegeben und zu dieser Forderung alle Solche berechtigt, welche jede Kunsterscheinung nach dem ersten Eindrucke beurtheilen, und sie überhaupt nehmen wie sie ist, ohne alle Nebenrücksicht.

Wer mit dem BuchT sich vorher vertraut machen konnte, oder der bey’m ersten Anblicke die charakteristische Physiognomie eines ¦ vom Freyschützen ganz verschiedenen Genres zu erkennen im Stande war, der wird auch schnell den höheren Gesichtspunct auffassen, aus welchem Webers productives Genie dieses von einer teutschen Dichterinn gerade so gegebene Sujet aufzufassen genöthigt war. Er wird begreifen, daß der Reitz, welchen Kinds romantisches Colorit, durch Herbeyrufung der Geisterwelt dem Freyschützen verlieh, unmöglich durch die bloße Erzählung von den hinter der Coulisse, also nicht von unserem Ohre gesprochenen, und nicht eben sehr kräftigen Geisterworten – wie sie Frau von Chezy dem Ganzen als einen romantischen Faden untergelegt hat – erweckt werden konnte.

Die bloße Erzählung solcher Dinge, wenn sie vorzüglich nicht einmahl mit der nöthigen tiefen Bedeutung geschieht, kann nie auf die Phantasie des Zuschauers so ernsten Eindruck machen, als das vor unsere Augen gestellte, handelnde dramatische Bild.

Schon hierin liegt ein sehr wesentlicher Unterschied der beyden Textbücher, und also auch eine sehr wichtige Ursache der in beyden Werken beobachteten, verschiedenen Anziehungskraft. Wenn nun aber gar die moralische Wichtigkeit und Wahrheit der Handlung durch Vernachlässigung der Hauptmotive in ihrer Wirkung auf die Seele des Zuschauers geschwächt ist, dann ist es eine um so schwerere Aufgabe, die vom Freyschützen, als der Bürgschaft eines neuen schönen dramatischen Werks, noch begeisterten Zuschauer in dem Grade zu befriedigen, als die öffentliche Meinung von Webers immer nach Höherem strebenden Genius zu erwarten berechtigt war.

Überflüssige Längen, welche der allzu frey waltende lyrische Strom der Dichterinn im Textbuche herbeygeführt hatte, müssen ebenfalls von der Kritik in Erwägung gezogen werden, ehe sie zur ausschließenden Beurtheilung des musikalischen Werthes eines solchen Werkes schreitet, welches seine edle Abstammung vor dem Auge des Kenners in so großen, unverkennbaren Zügen kund thut.

Carl Maria von Webers Genius strebt, wir wir eben sagten, sichtbar nach dem Höheren; dieß beweißt die innere Vollendung, mit welcher sowohl die Anlage des Ganzen entworfen, als auch die Ausführung der einzelnen Theile verfolgt ist; es scheint aber zugleich, daß gerade dieses Streben ihn öfter von dem Wege abgeführt hat, welcher einem Kunstwerke die Glorie der allgemeinen begeisterten Anerkennung verleiht; es scheint nähmlich, daß er zu viel Kunst in manchen Scenen anwendete.

Die fließenden, schönen Melodien, – und diese wollen wir ja in der Musik, wenn wir auch noch so gut musikalisch gebildet wären – die süßen, entzückenden, dem tiefen Gefühle des Herzens abgelauschten Accorde, welche jedes hörende Ohr und jede empfindende Brust durchdringen; die reinen, aus der höchsten Wonne oder dem tiefsten Schmerz wie aus Einer Quelle ohne mühevolles Hinzuthun hervorströmenden Laute sind es, welche uns aus Glucks, Mozarts und anderer unsterblicher Tonsetzer Werken so ansprechen, welche uns aber auch in Webers origineller Musik des Freyschützen sowohl, als in der Euryanthe öfters wie liebliche Geisterstimmen anreden; doch scheint es, daß der Tonkünstler in dem letztgenannten Werke einem größeren Fleiße, einer mühevolleren Ausarbeitung Raum gegeben habe, als nöthig war, als überhaupt der freye Schwung des Genius gestatten soll.

Im ganzen Werke zeugen davon die allzu vielen enharmonischen Verwechslungen und häufigen Verrückungen der Harmonie, welche der Klarheit des Tonsatzes eben so nachtheilig sind, als das allzu viele Accentuiren des Tones bey der Declamation.

(Der Beschluß folgt.)

Apparat

Zusammenfassung

2. Besprechung (1 von 2)

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Jakob, Charlene

Überlieferung

  • Textzeuge: Der Sammler. Ein Unterhaltungsblatt, Jg. 15, Nr. 134 (8. November 1823), S. 535–536

Textkonstitution

  • „… von den Einwohnern der Residenzstadt“Fehlendes Leerzeichen vor „Residenzstadt“

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