Aufführungsbesprechung Wien, Kärntnertor-Theater: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber am 9. September 1822

Zurück

Zeige Markierungen im Text

Novellistik

K. K. Theater nächst dem Kärnthner-Thore

Carl Maria v. Weber’s schönes Originalwerk: „der Freyschütze“, das in diesem heissen, zum Verderben aller Theatercassen gar zu schönen Sommer eben so wenig die Theater zu füllen im Stande war, als andere neue oder alte dramatische Werke, ist für einige Zeit in Ruhe versetzt und dadurch im Stande gewesen, neue Kräfte zu schöpfen um das Interesse des Publicums in Anspruch zu nehmen.

So wie uns Freunde nach einiger Abwesenheit, trotz ihrer unveränderten Gesichtszüge, doch immer auch in ihrem Äussern interessanter erscheinen, und die Lust erregen, die uns wohlbekannten Züge zu prüfen und mit unserer Erinnerung zu vergleichen, eben so verhält es sich mit Geisterwerken, die wir in die Zahl unserer Freunde gleichsam aufgenommen haben. Oft wohl verändern sich unsere Gesinnungen, unser Urtheil, oder wir werden auch bisweilen kälter, und empfangen den wiederkehrenden Freund nicht mit der Wärme und Herzlichkeit, mit welcher wir ihn entliessen, indess er staunt, dass die in ihm rege gebliebene Gluth der Empfindung nicht mit demselben Feuer erwiedert wird. Oft vergessen wir in der Abwesenheit die uns Theuren, weil wir sie nicht vor Augen sehen und schenken unsere Neigung neuen Bekanntschaften.

Was das Vergessen betrifft, so wäre diess bey Weber’s Werk, und wenn es auch wirklich den ganzen Sommer geruht hätte, nicht leicht möglich. Denn wenn eine Oper im Theater viele Vorstellungen erlebt, muss sie auch gewöhnlich einer Art von Seelenwanderung unterliegen, und ordentlich von oben herab die ganze Stufenleiter der Schöpfung durchwandern, bis sie sich endlich bey den ¦ untersten Thiergattungen wieder im All verliert und verschwindet.

Weber’s romantische Melodien saugten sich zuerst durch den anmuthsvollen Vortrag der Opernsänger in Wien, in den Herzen aller Schönen fest, wo sie gleichsam verklärt oft die schönsten Körper bewohnten, und nicht selten Wunder wirkten, besonders unter dem gefühl- und liebevollen Männergeschlecht.

Durch die Auen, durch die Felder! Wie oft hat nicht diess Lied von schönen Lippen gesungen, im geselligen Zirkel ein ganzes Dutzend Männerherzen auf einmahl zu Gefangenen gemacht und so bezaubert, dass sie nun den Sirenengesang, dem sie ihr bittersüsses Schicksal verdankten, auch unaufhörlich nachsangen, bald am Fortepiano, bald zur Guitarre, oder es bald auf dem Czákan, bald auf der Flöte spielten.

Musik erweckt schnell dieselben Gefühle im Herzen des Hörers, welche bey ihrer Production im Herzen des Schaffenden oder Executirenden lebendig waren. Also gingen die Melodien schon wieder in andere Herzen über, welche sich das alte romantische Jagdschloss des Erbförsters Kuhno im Geiste dazu dachten, bey der Erinnerung an das alte, zur Abendzeit spuckende Portrait des Stammvaters ein ordentliches Grauen bekamen, und mit Hülfe ihrer Phantasie den braven Max in allerhand Gestalten vor sich erscheinen liessen, dem als einem tugendhaften und nur ein klein wenig irregeführten Jünglinge, doch am Ende die Braut zu Theil werden muss.

Denn man glaubt nicht, wie sehr das schöne Geschlecht die poetische Gerechtigkeit, auch ohne Lessings dramaturgische Gesetze studiert zu haben, schon von Kindesbeinen an im Herzen trägt, und nach den Grundsätzen derselben oft in ganzer Strenge über den Werth mancher Stücke entscheidet. So wanderte also diess Lied schon durch | manche Million von Herzen, und blieb also auch aus diesem Grunde immer in unserm Gedächtniss.

Der Psycholog und Geschichtsforscher aber wird unsere Behauptung gewiss höchst wahrscheinlich finden, wenn wir die Wunderkraft des Brautjungferchors – den auch wir als Musiker trotz seiner Einfachheit sehr schätzen – noch weit wirksamer auf das schöne Geschlecht fanden. Dieser war den Gesetzen der Seelenwanderung in einer unzähligen Verzweigung unterworfen.

Von den Schönen Wiens ging die Wanderung durch die Laden und Gewölbe der Notenhändler.

Diese Trefflichen, denen die Tonsetzer ihre Unsterblichkeit verdanken, verfahren zwar grössten Theils mit ihren Verlagsartikeln, wie manche Türken, die ihre Sclaven, wenn sie sie nicht verkaufen können, umbringen, d. h., wenn ein Artikel etwas flau wird, so werfen sie ihn unter die Maculatur, und schmelzen die Platten um. Allein diess geschieht grössten Theils nur, um mit der Saison zu gehen, und alles Frische, was die Jahrezeit mit sich bringt, schön verräthig zu haben. Auch hier erfreute sich Weber’s schöne Musik einer recht grossen Celebrität. Sie wanderte durch das Fortepiano, Guitarre, Violine, Czákan und erschien in allerley ernsten und lustigen Gestalten.

Ganz natürlich wurden nun die Melodien wieder in tausend Lippen verklärt oder auch in eben so viel Stimmen verkörpert. Diess ist nun das Loos alles Schönen in der Musik, und der grosse Vorzug der Mahlerey und Bildhauerkunst hierin ist beneidenswerth.

Ja Weber’s Genius musste sich’s auch gefallen lassen, in jenes Gastbett gelegt zu werden, in welchem lange Körper abgekürzt, und kurze in die Länge gezogen wurden, denn es wurden sogar deutsche Tänze alla Freyschütz verfasst.

Wahr ist’s dass diese verdeutschten Freyschütz-Melodien ebenfalls gleichsam wie mit Freybolzen aus der blauen Luft herabgeschossen waren, denn ganz mit rechten Dingen ging es dabey doch nicht zu. Trotz der Bekanntschaft welche der edle Weber mit seiner eigen Wolfsschlucht nothwendig haben muss, würde ihm aber doch vor dem Wolfszahn solcher Tonsetzer ein wenig Grauen ankommen, welche eine Arie, einen Marsch oder ein Duett in kleine Stücke zerreissen und mit Tanzbegeisterung diess alles wieder vereinigen, um einen deutschen Tanz daraus zu machen. ¦

Ja sogar in einem recht vielbesuchten und dem Komus geweihten Theater, wo auch die meisten Opern getanzt werden, mussten die Freyschütz-deutschen einige Mahle von dem Publicum als ein Bissen pour la bonne bouche verschluckt werden.

Da in demselben gewöhnlich die heitere Parodie ihre Pastetenminen springen lässt, und die Zuschauer des Frohsinns wegen und ohne Prätension an die ernste Kunst, den Saal betreten, so wurde dieser etwas seltsame Leckerbissen auch ziemlich vergnügt verschluckt und verdaut.

Die Ballsäle nahmen endlich auch eine Freyschützenmiene an. Man führte auch da auf, wie folgende Annonçe zeigt: Heute werden die neuen Freyschütz-Deutschen, mit derWolfsschlucht, sammt einer Schluss-Coda aufgeführt werden.

Obgleich mancher wahre Verehrer des Tonsetzers bedenklich seinen Kopf über diesen neuen Grad der Seelenwanderung schüttelte, dem Weber’s Musik unterworfen wurde, so liess er sich’s doch endlich gefallen, nahm seine Schöne in den Arm, und tanzte ganz rüstig den im Zweyvierteltact gebenden Jägerchor, oder den Lachchor im Dreyvierteltact.

Ächt musikalische kamen schlecht dabey weg, denn es war ihnen doch sehr oft, als ob sie Jemand bey manchem Viertel am Arme zupfte.

Das Heer der ambulanten Harmonien, wie sie zu Hunderten in Wien an einem Tage von Wirthshaus zu Wirthshaus gehen, erbarmte sich endlich auch über die schönen Lieder und transponirte sie mit unbarmherziger Freyheit nicht selten in ganz wunderbare Formen. Da diese ambulanten Harmonien oft sehr disharmonisch zu nenne sind, und eigentlich eine wahre Abart der Peripathetiker vorstellen, welche auch während dem Spatzierengehen lehrten und lernten, so konnte es nicht fehlen, dass bey dem Wandern von einem Wirthshaus in das andere endlich doch eine Art Melodie herauskam, welche mit Ausnahme einiger Mancando’s doch etwas Ähnlichkeit mit Webers Tonsatz hatte.

Der Wiener ist das á piacere-Singen von manchen Sängern so gewohnt, dass er sich ein á piacere von so einem poripathetischen Waldhornisten oder Fagottisten auch gefallen lässt, und sich wenigstens denkt, wie es eigentlich klingen könnte oder sollte.

Jedoch eine noch weit schmerzhaftere Wanderung war dem braven Freyschützen verbehalten. |

Die zum Heile der Kinder und ihrer Muhmen erfundenen Drehorgeln, welche besonders an den Individuen des weiblichen Geschlechts, die in jeder Hausverwaltung das heilige Feuer der Vesta mit der Feuerzange bewachen müssen, hochherzige Beschützerinnen finden – nahmen endlich auch in ihre Walzen diese Musik auf.

Freylich geht es manchem solchen Werke, wenn die obere Octave fehlt und die Töne unten genommen werden müssen, auch nicht besser, als manchen Sängern. Der Drehorgelfabrikant weiss sich in diesem Falle zu helfen, und puncirt sein Tonstück als ob er ein Capellmeister wäre. Sein Grundsatz ist auch der nähmliche, denn er sagt: Oben geht’s nicht, also muss man’s Unten anbringen.

Das Orgelnheer setzte sich also ganz pathetisch in Bewegung, und wusste mit einer Stauen erregenden Standfaftigkeit den edlen Freyschützen so zu tractiren, dass nicht leicht ein Individuum der untersten Volksclassen jetzt aufzufinden wäre, welches den Brautjungfernchor nicht wachend und träumend im Herzen – was sage ich, auf der Zunge trüge.

Trotz dem Übelstande, der sich auch bey den Werken der alten Römer und Griechen vorfindet, dass sich auf solche Art bisweilen verschiedene Lesarten einschleichen, so bleiben diese Orgler doch in ihrer angebornen Seelenruhe, und pfelgen nicht etwa antiquarische Streitigkeiten anzuknüpfen, wie diess bey den Forschern des Alterthums über die varias lectiones der Fall ist.

Wer kann dafür? Der den Gesängen des Freyschützen innerwohnende Wohllauf übt auch hier seine Macht, und bezaubert seine Welt in allerhand Formen und Farben. Die Welt nimmt nach ihrer Weise davon so viel, als ihr gutdünkt.

Konnte man auf diese Art wohl Webers Oper vergessen, wenn sie auch noch einige Monathe nicht auf dem Repertoire erschienen wäre? Sie ist in das Herz des Volks schon eingedrungen und hat bleibende Wurzel gefasst.

Fast sollte man glauben, dass die Lust der Liebhaber der Musik durch die der Weberschen Oper zu Theil gewordene Seelenwanderung schon gesättigt wäre, dass vielleicht gar der Enthusiasmus dafür erkaltet wäre?

Mit nichten! Diess bewiess genügend die nach langer Zeit wieder Statt gehabte Aufführung dersel¦ben. Das Parterre und die Gallerien bothen ein recht lebendes Bild dem Auge, und die ausserordentlich heiss Temperatur würde sonst nicht leicht Jemand gern lang ertragen.

Jedoch wir dürfen auch nicht vergessen, dass einige Gegenstände hier einwirkten, deren Einfluss nicht unbedeutend zu nennen ist.

Mad. Seidler, für die, wie wir aus dem Zettel erfahren, die Rolle der Agathe vom Tonsetzer ursprünglich geschrieben ist, trat in derselben auf.

Nachdem wir Gelegenheit hatten, die kunstvolle Sängerinn in mehreren Rollen zu sehen und zu hören – zwey Dinge, welche bey ihr von gleicher Wichtigkeit sind – so waren wir um so begieriger, eine Rolle von ihr vortragen zu hören, in welcher fast durchgebends ein gleichss Portamento herrscht und deren Charakter in jeder Scene eine gleiche tragische oder vielmehr sentimentale Stimmung und vielen Ernst verräth.

Wirklich, Mad. Seidler hat diese Aufgabe im Spiel und Gesang grössten Theils recht glücklich gelösst. Ihr schöner, nicht etwa durch Rouladen überladener Vortrag zeigte immer Webers romantische Melodien in ihrer schönen Verklärung, und drang wegen dieser ernsten und doch anmuthsvollen Haltung tief in das Gemüth der Zuhörer.

Sie sang das Gebeth so schön, so rührend, dass die Herzen der Zuhörer mit ihr die hohe Stimmung der Seele theilten. Sie spielte die Scene am Fenster vortrefflich und bewährte auf’s Neue die schon oft gemachte Erfahrung, dass eine und dieselbe Rolle von verschiedenen Individuen Nüançirungen gehoben werden kann, welche, wenn sie zu schöner Einheit verschmelzen, immer wieder ein schönes dramatisches Bild gewährten.

Allgemeiner Beyfall krönte ihre Leistung und bewies der Sängerinn, dass das Publicum ihre schönen Fähigkeiten in jeder Form mit besonderem Interesse wahrnimmt, und mit unparteyischer Geneigtheit für alles Schöne, die Anstrengungen mehrerer in dieser Rolle debutirenden Sängerinnen genau zu würdigen wusste.

Herr Jäger gab den Max mit eben so schönem Vortrag im Gesang als richtigem, effectvollem Spiele. Der einfache, dle Styl, welcher Webers Composition als ein ächtes, der Kunst angehöriges Werk auszeichnet, wurde treu von ihm wieder gegeben, und so glücklich durch eine gewisse Öko|nomie in der Kraftanwendung hervorgehoben, dass man auch dieses Sängers Darstellung als eine recht gelungene Kunstleistung betrachten muss.

Gerade bey Max ist das Spiel so mit dem Strome des Gesanges verschmolzen, dass ein recht ernstes Studium dazu gehört, um den Charakter als ein ganzes, in einem Gusse geschaffenes, und in Wahrheit und Leben dargestelltes Bild wiederzugeben.

Herr Jäger gebrauchte seine glänzende Höhe bey den vom Tonsetzer vorgeschriebenen Stellen mit grosser Sicherheit und eintschiedenem Glück.

Auch ihm wurde der Beyfall des Publicums in vollem Maasse. Freude und Rührung theilten sich dem Zuhörer in der Kraft und Wahrheit lebendig mit, mit welchen das Spiel und der Gesang aus dem genannten Sänger frey hervorgingen.

Dlle. Thekla Demmer verdient in dieser Rolle ebenfalls ein recht aufrichtiges Lob. Der Charakter dürfte mancher Sängerinn sehr schwer werden, die nicht zugleich ein so überwiegendes Genie für das Spiel hat.

Herr Mosevius gab den Caspar ziemlich brav, nur bleibt es hierin bey unserer früheren Behauptung, dass er auch diesen zu wenig tragisch hielt, sondern seinem Spiel zu viel komische Farbe gab. Das Trinklied wurde gut von ihm vorgetragen, und wir glauben, dass bey etwas mehr Bekanntschaft mit dem Sinne der Wiener Welt für das Theater, würde derselbe in manchen Rollen recht nützlich zu verwenden seyn.

Die Vorstellung war übrigens in vieler Hinsicht eine sehr vollendete, und gewährte im Ganzen ein schönes Bild voll Einheit und treffliche Gesammtwirkung. Webers ganze melodische Kraft und harmonische Romantik drang tief in die Herzen der erfreuten Zuhörer.

Apparat

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Ran Mo

Überlieferung

Textkonstitution

  • „spuckende“sic!

      XML

      Wenn Ihnen auf dieser Seite ein Fehler oder eine Ungenauigkeit aufgefallen ist,
      so bitten wir um eine kurze Nachricht an bugs [@] weber-gesamtausgabe.de.