Wer kennt Parallelstellen in anderen Klavierwerken des frühen 19. Jahrhunderts?

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Diskussionsdokumentation von Joachim Veit, Detmold

Takte 9–16 aus dem Adagio von Webers C-Dur-Klavierkonzert vom Jahre 1810 (Manuskript). Bei der vorstehenden Stelle handelt es sich um die Takte 9–16 aus dem Adagio von Webers C-Dur-Klavierkonzert vom Jahre 1810. Zur Ausführung dieser Stelle, bei der die oberen Noten der rechten Hand und die tiefsten Baßtöne „normal“ notiert sind, die Zwischenakkorde aber in kleinerer Größe, gibt Weber keinerlei Hinweise. Diese Noten erscheinen im Neudruck (wie bereits in dem von Weber autorisierten Erstdruck) ebenfalls im Kleinstich (die endgültige Notierungsform ist noch nicht festgelegt, denkbar wäre aber z. B. die folgende):  Takte 9–16 aus dem Adagio von Webers C-Dur-Klavierkonzert vom Jahre 1810 (Neuausgabe).

Unser Herausgeber dieses Werkes, Prof. Dr. John Warrack, konnte eine Stelle in Daniel Gottlob Türk’s Clavierschule (Leipzig und Halle 1789, S. 297) ausfindig machen, wonach die kleiner gesetzten Töne mit angeschlagen, dann aber die Finger – als hätte man sich selbige „verbrannt“ – sofort wieder von diesen Tasten aufgehoben werden (vgl. dazu die folgenden ausführlicheren Erläuterungen). Das einzige, was ihn befremdet: In Türks Beispiel sind nur zwei rhythmische Werte, nicht wie hier deren drei notiert. Auch bei Weber gibt es zwei Parallelstellen in anderen Werken, in denen die Melodie entsprechend hervorgehoben und die Begleitakkorde nur kurz „angerissen“ werden – allerdings sind dort diese Begleitakkorde auch mit entsprechend kurzen rhythmischen Werten angegeben (vgl dazu ebenfalls die nachfolgenden Erläuterungen). Auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, als sei hier der gleiche Effekt gemeint, bleibt die Interpretation doch unsicher.

Wir suchen nun dringend Parallelstellen in anderen Klavierwerken des frühen 19. Jahrhunderts (eventuell auch des ausgehenden 18.), die bei der Klärung der Frage nach der adäquaten Ausführung helfen können.

Aktueller Stand 5. Dezember 2004

Vielen Dank an die Kollegen Prof. Dr. Bernhard Appel, Dr. Beate Kraus, Dr. Hans-Werner Küthen, Dr. Salome Reiser, Dr. Michael Struck, Dr. Uwe Wolf und besonders an Herrn Siegbert Rampe für ihre vielfältigen Hinweise und Anregungen! Demnach erweist sich das Problem als durchaus einer ausführlicheren Diskussion würdig. Es wurden deshalb nachfolgend weitere Beispiele aufgenommen und einige der dankenswerterweise eingegangenen Vorschläge vorgestellt.

Wir selbst möchten an dieser Stelle noch auf eine Beobachtung aufmerksam machen, die wir zumindest ansatzweise in der Übertragung wiedergeben woll(t)en: Im Vergleich zur akzentuierten Oberstimme sieht es so aus als seien die Akkorde mit den kleinen Noten gegen diese Oberstimme jeweils etwas nach links versetzt notiert (besonders deutlich im 5./6. Takt der rechten Hand – die in der linken Hand notierten Akkorde scheinen sich dem anzupassen); dagegen scheint auf die tiefsten, „normal“ notierten Baßtöne keine Rücksicht genommen (mal stehen die „kleinnotigen“ Akkorde davor, mal dahinter). Auf die Oberstimme bezogen ist das Prinzip des leicht nach links versetzten Notierens aber durchgängig zu beobachten (vielleicht mit Ausnahme des engen 3. Taktes). Könnte auch dies einen Hinweis zur Lösung geben – so diese denn überhaupt zu finden ist??

Zur Notation dieser Stelle im Kontext anderer Werke und vor dem Hintergrund zeitgenössischer Klavierschulen

Es sei vorab zur Verdeutlichung hervorgehoben, dass die oben angegebene Stelle als rein solistischer Klaviereinsatz auf einen achttaktigen Satzbeginn folgt, in dem Orchester und Klavier dialogisieren. Dabei greift das Solo in T. 9 variierend den delikat instrumentierten Satzbeginn mit solistischen tiefen Streichern auf, wobei die Oberstimme des Violoncellos nun als „Melodie“ übernommen ist und die Baßlinie zunächst der ursprünglichen folgt: Takte 1–4 aus dem Adagio von Webers C-Dur-Klavierkonzert vom Jahre 1810 (Neusatz).

Dem „besonderen“ Satzbeginn (abgebildet sind T. 1–4) soll offensichtlich mit dem Klaviereinsatz eine ebenso „besondere“ Klanglichkeit des Klaviers gegenübergestellt werden, wobei die Oberstimme als Melodiestimme deutlich hervorgehoben werden soll.

In Webers eigenen Klavierwerken finden sich zwei Stellen, die möglicherweise Hinweise auf eine Ausführung der vorliegenden problembeladenen Notation geben könnten. Es handelt sich um den Anfang des II. Satzes seiner As-Dur-Klaviersonate Nr. 2 (JV 199) Beginn des II. Satzes von Webers As-Dur-Klaviersonate Nr. 2 (JV 199) und den Beginn des Soloeinsatzes im Konzertstück für Klavier und Orchester f-Moll (JV 282): Beginn des Soloeinsatzes in Webers Konzertstück für Klavier und Orchester f-Moll (JV 282)

In beiden Fällen wird ebenfalls das Hauptthema, das zunächst in der Oberstimme (in der As-Dur-Sonate später in der Mittelstimme, vgl. T. 9 ff.) liegt, teils durch Akzente, teils durch die zusätzliche Vorschrift ben tenuto bzw. ben tenuto la melodia hervorgehoben und durch Sechzehntel-Akkordschläge begleitet, die im Falle der Sonate zusätzlich durch die Staccato-Punkte als wirklich kurze Schläge gekennzeichnet sind und zu einer Klanglichkeit führen, die entfernt an ein gitarrebegleitetes Lied erinnern mag. Diese beiden Sätze entstanden 1816 bzw. 1821, also deutlich später als das obige problematische Beispiel. Könnte Weber dort also Ähnliches meinen, ohne bereits die spätere Notationsform zu verwenden? (Hans von Bülow hat in seiner Ausgabe der Klavierkonzerte als „Solostücke zum Concertvortrage“ bei Bartholf Senff in Leipzig die Notation der T. 9 ff. an die hier beschriebene Form angepasst und die Rhythmen der Begleitakkorde zu Sechzehnteln vereinheitlicht.)

Bernhard Appel wies auf eine verwandte Stelle in der zweiten der Noveletten op. 21 von Robert Schumann hin:  Beginn der zweiten Novelette op. 21 von Robert Schumann

Die hervorzuhebende „Melodie“ dieser kniffeligen Stelle liegt hier in der Mittelstimme; die jeweils links neben dem höchsten Ton der arpeggierten Akkorde hinzugesetzten Akzente sollen verdeutlichen, dass nur diese Töne als Melodie (und nicht die Akkorde insgesamt) herauszuheben sind, die anderen Töne des Arpeggio verklingen sogleich wieder. Wie in Webers Beispiel ist diese „Melodie“ durchgängig durch Akzente bezeichnet – sollten die Begleitakkorde also auch bei Weber in ähnlich arpeggierter Weise gespielt werden??

Siegbert Rampe plädiert – auch vor dem Hintergrund des von Warrack erwähnten Zitats aus Türks Klavierschule (1789) – für eine arpeggierende Lösung. Türk gibt in der Klavierschule auf S. 297 folgende Beispiele für „gebrochene Griffe“: Ausschnitt aus Türks Klavierschule (1789) „Von gebrochenen Griffen“

Im letzten Beispiel 5) sind die Außenstimmen mit halben, die Mittelstimmen mit kleinen Viertelnoten notiert. Dieses Beispiel gleicht also sehr dem Weberschen, allerdings ist ausdrücklich das Arpeggieren durch ein eigenes Zeichen vorgeschrieben, wodurch das „Abheben“ der Finger hier also eindeutig in Verbindung mit einem sukzessiven Anschlagen der Töne steht – das Fehlen des Arpeggio-Zeichens und die zusätzlich noch abweichende Notation der Unterstimme hebt das Webersche Beispiel aber von dem vorliegenden ab.

Für das Türksche Beispiel finden sich Belege in der zeitgenössischen Musik.

Sowohl Rampe als auch Warrack führen hierzu Beispiele aus den Klavierwerken Wolfgang Amadeus Mozarts an (Warrack dankt Herrn Prof. Dr. Robert Levin für entsprechende Hinweise). Genannt sind Stellen aus dem g-Moll-Klavierquartett KV 478 (Rondo, T. 43–45 oder 135), dem Alla turca der A-Dur-Klaviersonate KV 331 (T. 97 f., 103 f. und 116 f. in der rH, verbunden mit „Vorschlägen“ in der lH)1 oder aus den Klavierkonzerten Es-Dur KV 449 (Satz I, T. 89 f., Satz III, T. 152 ff., T. 235 ff., T. 268) und D-Dur KV 451. Rampe verweist in dem letztgenannten Konzert auf die T. 138 ff. und T. 261 ff. (siehe folgendes Notenbeispiel) des I. Satzes, wo sich gleich dreitaktige Passagen finden, die dem Türkschen Beispiel ähneln: T. 261 ff. des I. Satzes von Mozarts Klavierkonzert D-Dur KV 451.  

Wie im Weberschen Beispiel, so sind auch hier die „besonderen“ Takte zugleich solistische: In T. 258–260 (= T. 1–3 des Beispiels) begleiten Bläser und Streicher das Soloinstrument, das dann in T. 261 allein fortsetzt, bevor in T. 264 (letzter Takt des Beispiels) wieder die Holzbläser hinzutreten.

In allen genannten Mozartschen Beispielen ist kein Arpeggio-Zeichen notiert, Rampe plädiert aber jeweils für eine Ausführung in Gestalt kurzer Arpeggien, wie bei Türk vorgegeben.

Zur Begründung einer möglicherweise ähnlichen Lösung im obigen Weber-Beispiel führt Rampe aus: „Hintergrund Ihrer Notation ist m. E. eine Uebernahme cembalistischer Praktiken auf die leichtgaengige Mechanik Wiener Hammerfluegel; ein solches Instrument befand sich ja auch in Webers Besitz. Hummel (1828, S. 454) stellt eindeutig einen derartigen Zusammenhang her und berichtet, dass man volle Akkorde auf Wiener Hammerklavieren jener Zeit im Unterschied zu solchen mit Englischer Mechanik generell gebrochen hat: Volle Akkorde werden z.B. meist ganz rasch gebrochen vorgetragen, und wirken so weit mehr, als wenn die Toene zusammen auf einmal noch so stark angeschlagen werden. In gleicher Weise aeussert sich der Beethoven-Schueler Czerny im dritten Teil seiner Pianoforte-Schule op. 500 (Wien 1839/1842, S. 40 ff.) im Kapitel Ueber die willkuehrliche Anwendung des Arpeggirens. Seine Lehrbeispiele enthalten nur beim ersten Mal Arpeggio-Zeichen; bei den uebrigen, so gibt er an, koennen volle Akkorde (die von ihm mitgeteilten sind sechs- bis achtstimmig) nach herrschender Praxis generell arpeggiert werden. Das Tempo der Arpeggien, und das ist wohl auch fuer Webers Notation bedeutend, richtet sich nach Tempo und Charakter des Satzes sowie nach der Dauer der Notenwerte.“

Interessant ist laut Rampe auch, dass in späteren Traktaten (er nennt Louis Köhler 1860 und Adolf Kullak 1861) das willkürliche Arpeggieren keine Rolle mehr spielt: „offenbar weil insbesondere Wiener Mechaniken durch Vergroesserung der Hammerkoepfe inzwischen so schwergaengig geworden waren, dass sich derart delikates Arpeggieren verbot.“

Vor diesem Hintergrund und wegen des Vorliegens dreier verschiedener Notenwerte in Webers Notation plädiert Rampe für folgenden Ausführungs-Vorschlag: „Der Diskant soll ausgehalten werden, der Bass kurz erklingen und die Mittelstimmen sollen wohl rasch, aber eben nicht allzu schnell arpeggiert, jedoch nicht ausgehalten werden. Im Falle sehr rascher Arpeggi haette Weber wohl auch die Mittelstimmen in Achteln notiert und dann der Klarheit halber vermutlich Arpeggio-Zeichen hinzugesetzt […].“

Von Hummel abgesehen, blieb ein Blick in verschiedene Klavierschulen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts leider ohne Erfolg. Folgende Klavierschulen wurden von Herrn Rampe bzw. den Mitarbeitern der WeGA bislang ohne entsprechendes Ergebnis durchgesehen:

  • Jan Ladislaus Dussek, Instructions on the Art of Playing the Piano Forte, London 1796
  • Ignaz Pleyel, Nouvelle Méthode de Pianoforte, Paris 1797
  • Johann Peter Milchmeyer, Pianoforte-Schule oder Slg. der besten für dieses Instrument gesetzten Stücke, Dresden 1797/1798
  • Georg Joseph Vogler, Claver-schola med 44 graverade tabeller, Stockholm 1798
  • Daniel Steibelt, Méthode de Piano / Pianoforte-Schule, Leipzig: Breitkopf & Härtel, PN: 3489
  • Johann Baptist Cramer, Anweisung das Pianoforte zu spielen, Leipzig: C. F. Peters, PN: 1087 bzw. J. B. CRAMER’S Instructions for the Piano Forté. Englisch- und deutscher Text, Offenbach: Johann André, PN: 3661
  • Vollständige Klavier Schule von Muzio Clementi, Wien: J. Cappi, PN: 1225 bzw. Clementi’s Einleitung in die Kunst das PianoForte zu spielen, Leipzig: Hoffmeister & Kühnel
  • Carl Czerny, Vollständige theoretisch-practische Pianoforte-Schule op. 500, Wien 1839/1846

Nachtrag 4. März 2005

Herr Warrack macht darauf aufmerksam, dass es sich beim Autograph nicht um eine Stichvorlage, sondern um eine eher hastige Niederschrift des Werkes handelt, man also die Plazierung der Noten nicht überinterpretieren dürfe. In den T. 9–12 ist die Notation so uneinheitlich, dass daraus wenig zu schließen ist (sonst müßte man sogar Zählzeit 4 von T. 9 als Abwärts-Arpeggio auffassen, was sicherlich unsinnig sei). Auffällig sei aber, dass in den T. 13–14 die kleineren Noten wirklich einheitlich links von den Hauptnoten notiert wurden, was tendenziell auch für T. 15/16 gelte. Denkbar wäre also, dass in T. 9–12 die Akkorde simultan gespielt werden, wobei die regulär notierten Noten einen Akzent erhalten, während in den folgenden Takten tatsächlich „Vorschläge“ gemeint sind. Ein Arpeggio-Effekt wäre dann nicht beabsichtigt, vielmehr liegt in den letzten Takten eine „gentle anticipation“ der betonten Terzen der Oberstimme nahe. Die Deutung der Stelle, die etwas vom Charakter einer Improvisation behält – Improvisation mit Klangmöglichkeiten des Klaviers –, bleibt also nach wie vor rätselhaft.

Einzelnachweise

  1. 1Vgl. hierzu Rampe, Mozarts Claviermusik: Klangwelt und Aufführungspraxis. Ein Handbuch, Kassel u. a. 1995, S. 217 f.

Joachim Veit, Samstag, 5. März 2005

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