Sieben auf einen Streich – Neuerwerbung eines Manuskripts für die Berliner Weber-Sammlung

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1922 fand in Berlin eine der größten Auktionen von Weber-Manuskripten statt. Bei Karl Ernst Henrici kamen 25 Handschriften mit Werken des Komponisten aus dem Archiv des Berliner Verlages Schlesinger/Lienau unter den Hammer, darunter (teils fragmentarisch) 19 von Weber selbst an den Verlag gesandte Stichvorlagen, überwiegend mit autographen Korrekturen: zu den drei Kammermusikwerken mit Klarinette (op. 33, 34, 48), zwei Klaviersonaten (op. 39, 70), der Hymne (op. 36), dem Andante und Rondo ungarese für Fagott und Orchester (op. 35), den beiden ersten Heften von Leyer und Schwert (op. 41, 42) sowie etlichen Arien (op. 50, 51, 56), Liedern und Gesängen (op. 46, 47, 68, 71). Nur von neun dieser 19 Stichvorlagen konnte bei den Recherchen im Vorfeld der Weber-Gesamtausgabe der heutige Besitzer ermittelt werden: zwei fanden sich in Wien (op. 48 und 56 in der Wienbibliothek im Rathaus), je eine in Washington (op. 34, Satz I–III, Library of Congress), Kiel (op. 36, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek), Lörrach (Fragment aus op. 39, Museum am Burghof), Dresden (op. 41/1, Sächsische Landesbibliothek), Berlin (op. 46, Staatsbibliothek), New York (op. 47, Pierpont Morgan Library) und Leipzig (op. 51, Universitätsbibliothek). Für die restlichen zehn blieb angesichts des langen Zeitraumes, aus dem keine Informationen über den Verbleib vorlagen, sowie der bewegten Zeitläufte seit 1922 (besonders des Zweiten Weltkriegs) nur wenig Hoffnung – und doch: Bei der Frühjahrsversteigerung von Stargardt in Berlin tauchte völlig unerwartet eine der Vermissten wieder auf! Unter Nr. 648 des Kataloges wurde die Stichvorlage der Gesänge und Lieder op. 71 angezeigt.

Für die Weber-Sammlung der Berliner Staatsbibliothek war dieses Angebot schon wegen des Berlin-Bezuges (Schlesinger-Archiv) äußerst verlockend, doch ein finanzieller Engpass hätte die Erwerbung fast verhindert – wäre bei der Auktion am 20. April nicht die Weber-Gesellschaft helfend eingesprungen. Wie bereits mehrfach hatte sie sich zu einer Vorfinanzierung bereiterklärt, so dass das Manuskript für Berlin gesichert werden konnte und somit in der Zukunft für die Arbeit der Gesamtausgabe zur Verfügung steht.

Webers Stichvorlagen haben sich immer wieder als sehr informative, für die Edition hochrangige Quellen erwiesen. Zwar handelt es sich in der Regel um Kopistenabschriften, aber Weber korrigierte diese Kopien und richtete seine Werke somit für den Druck ein. Viele für ihn selbstverständliche (und daher in den Autographen nicht notierte) Ausführungsbezeichnungen finden sich erstmals in den Stichvorlagen. Als „Vermittler“ zwischen autographer Notierung und Erstdruck sind diese Manuskripte ein wesentliches Bindeglied der Quellenüberlieferung, zumal Komposition und Publikation nicht selten Jahre auseinanderliegen.

Wie den meisten Weberschen Liederheften fehlt auch den Gesängen und Liedern op. 71 eine inhaltliche Klammer. Der Komponist stellte üblicherweise erst nachträglich gemäß den Publikations-Usancen der Zeit Sammlungen von meist sechs Gesängen zusammen, die teils aus verschiedenen Phasen seines Schaffens stammen, so auch hier: Zwei ältere Kompositionen (Umsonst JV 28 vom Oktober 1802 = Nr. 4 sowie Des Künstlers Abschied JV 105 vom Dezember 1810 = Nr. 6) koppelte er mit vier Liedern, die zwischen April 1818 und August 1819 entstanden waren (Lied der Hirtin JV 229 = Nr. 5, Bach, Echo und Kuss JV 243 = Nr. 2, Triolet JV 256 = Nr. 1 sowie Das Mädchen an das erste Schneeglöckchen JV 267 = Nr. 3). Zu dreien der sechs Lieder (JV 28, 105 und 229) sind die Autographen verschollen, so dass die Stichvorlage die einzige authentische Quelle (neben dem im November 1820 erschienenen Erstdruck der Sammlung) ist. Die drei anderen Lieder sind nunmehr in jeweils zwei direkt auf Weber zurückgehenden Manuskripten dokumentiert: Die zusammenhängend notierten Autographen der Lieder JV 243 und 256 hatte 1993 die Sächsische Landesbibliothek erwerben können, jenes von JV 267 gehört seit Schenkung der Jähnsschen Weberiana-Sammlung 1881 zu den Beständen der Berliner Bibliothek.

Bereits am 23. November 1818 erging ein Angebot Webers zur Publikation der Liedersammlung op. 71 an Schlesinger (da waren zwei der Lieder noch gar nicht komponiert); der Verleger akzeptierte die Offerte im August 1819. Dann musste alles ganz schnell gehen: In Webers Tagebuch findet sich am 20. August der Hinweis, dass der „junge Lauterbach“ als Kopist gewonnen wurde; am 25. August wurden dessen Abschriften von Weber bezahlt sowie „Redigirt, corrigirt.“ Einen Tag später erfolgte der Versand nach Berlin. Übrigens dürfte Weber Schlesinger verschwiegen haben, dass zwei der Lieder bereits gedruckt vorlagen: Umsonst (JV 28) war bald nach der Komposition an den Hamburger Verleger Böhme verkauft worden; Bach, Echo und Kuss (JV 243) war Ende 1818 als Notenbeilage im Almanach für Privatbühnen [...] auf das Jahr 1819 erschienen, allerdings in seiner ersten Fassung als Lied zum Kindschen Schauspiel Der Abend am Waldbrunnen (nur mit Gitarre). Für die Schlesinger-Ausgabe schuf Weber, um der Sammlung bezüglich des Begleitinstruments größere Einheitlichkeit zu verleihen, ein zusätzliches Klavier-Accompagnement.

Vergegenwärtigt man sich, dass Weber zwischen dem 20. und 25. August 1819 neben der Liedersammlung zehn weitere Kompositionen bzw. Werkzyklen verlagsfertig bearbeiten musste, so nimmt es nicht wunder, dass seine Korrekturen eher oberflächlich ausfielen. Trotzdem enthält die Stichvorlage von op. 71 zahlreiche Eintragungen des Komponisten: Neben dem Titelblatt, drei Ergänzungen bezüglich der Textdichter zu den Einzeltiteln der Lieder (zu Nr. 2, 3 und 6), einem Nummern-Nachtrag (Nr. 5) und dem Fine-Vermerk auf der letzten Seite finden sich besonders Tempo- und Vortragsbezeichnungen, Zusätze zur Dynamik sowie Akzente, Vorzeichen, crescendo- bzw. decrescendo-Gabeln, Bögen etc. Interessanterweise ist das jüngste Lied (Nr. 3 auf S. 4f.), das Weber erst am 23. August 1819, also während der Zusammenstellung der Verlagsvorlagen, vollendet hatte, am stärksten annotiert; der Kompositionsprozess wirkte also quasi während der Korrektur noch fort. Dass diese aber auch hier nur punktuell war, zeigt der Umstand, dass in T. 47 die Anzahl und Betonung der Noten nicht den Silben der (noch dazu unsinnigen) Textunterlegung entspricht. Aus der Textzeile der Vorlage „Siehst du die heimschen Gluthen himmelwärts“ machte Weber versehentlich „siehst du heimschen Gluthen himmelwärts“, obwohl er für den Beginn („siehst du [die]“) völlig richtig drei Noten vorgesehen hatte. Kopist Lauterbach übernahm den Fehler widerspruchslos; erst der Stecher des Erstdrucks korrigierte, wenn auch in unsinniger Form: Er beließ den falschen Text und ersetzte die erste Note durch eine Pause, um Noten- und Silbenzahl in Übereinstimmung zu bringen.

Wie bei Stichvorlagen üblich, finden sich im Manuskript zahlreiche Verlagszusätze, so die Verlagsnummer (1029) auf dem Titelblatt und der ersten Notenseite sowie Stichel-Eindrücke des Stechers zur Markierung von Akkoladen- bzw. Seitenumbrüchen. Ungewöhnlich ist, dass der gesamte unterlegte Text verdoppelt wurde: Lauterbach hatte den zu singenden Text recht sauber in deutscher Schrift notiert; von unbekannter Hand wurde er meist unter, teils auch zwischen den Klaviersystemen nochmals in lateinischer Schrift wiederholt. War der Schlesingersche Stecher möglicherweise Ausländer und somit mit der deutschen Schrift nicht vertraut? Das würde auch die zwar musikalisch richtige, aber inhaltlich unsinnige Korrektur im Lied Nr. 3 ebenso erklären wie weitere Textabweichungen.

Eine kleine Überraschung hält das Titelblatt bereit: ein Fragment aus einer siebenten Komposition Webers. Lauterbach hatte bei der Kopie der sechs Lieder keinen Platz für einen Gesamttitel gelassen, so dass sich Weber gezwungen sah, ein separates Titelblatt vorzusetzen. Dabei benutzte er Makulatur-Papier aus seiner Münchner Zeit (1811), und zwar ein Blatt aus einem Stimmensatz zur Trauermusik für Franz Xaver Heigel (JV 116 = WeV B.4). Auf der Rückseite des Titels findet sich das Ende der Stimme des Chorbasses mit den 12 Takten der Coda. Dieses Aufführungsmaterial war für die Begräbnisfeierlichkeiten für Heigel von einem Münchner Kopisten ausgeschrieben, aber schließlich aus Nachlässigkeit nicht benutzt worden – die Darbietung unterblieb; Weber hatte die Komposition (eine Bearbeitung einer älteren Trauermusik) somit „für die Schublade“ geschrieben. Bis in seine Dresdner Jahre bewahrte er den Stimmensatz auf, dann vernichtete er ihn, behielt allerdings jene Blätter, die nicht komplett beschrieben waren, als Notizpapier. Spuren des Stimmensatzes finden sich noch mehrfach, generell übrigens in Weber-Manuskripten im Besitz der Berliner Staatsbibliothek: In den Entwürfen zu der Oper Die drei Pintos aus dem Jahr 1821 ist das Ende der Sopranstimme überliefert, in den Entwürfen zur Euryanthe aus den Jahren 1822/23 die komplette Stimme der Flöte, der Beginn jener von Horn 1 sowie das Ende jener des Tenors6. Die Wiederverwendung des Papiers in der Stichvorlage 1819 ist demnach der bislang früheste Nachweis für das „Ausschlachten“ der alten Stimmen. Erstaunlich ist nur, dass Weber solches Notizpapier nicht nur für seine persönlichen Entwürfe (die nicht für Außenstehende bestimmt waren) benutzte, sondern in diesem Fall auch für die Verlags-Vorlage.

Die Mitarbeiter der Staatsbibliothek sowie der Weber-Gesamtausgabe danken der Weber-Gesellschaft herzlich für ihr erneutes Engagement bei der Quellenerwerbung!

Frank Ziegler, Mittwoch, 25. Mai 2011

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