Karl von Decker: Der Freischütz in Paris (Teil 6), 1826

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Der Freischütz in Paris.

Dramatische Analyse, von Adalbert vom Thale.

(Schluß.)

Man kann aus dieser Analyse allerhand lernen, z. B. daß die Franzosen von einem deutschen Volksmärchen auch nicht die Spur eines Begriffs haben, daß sie nur in der Tragödie ernst seyn können, alle übrigen dramatischen Dichtungen aber über einerlei Leisten schlagen, d. h. mit Späschen oder Frivolitäten durchflechten, dadurch aus dem ernsten Scherz recht zur Unzeit eine Buffonerie, oder aus dem heitern Ernst eine Karrikatur machen. Ferner, daß der Sinn für die romantische Dichtung, eben weil sie mit einem gewissen Ernst behandelt seyn will, ihnen völlig abgeht; das beweiset die Verlegung der Handlung unseres Freischützen in ein unromantisches Land, und die abgeschmackte Variation, aus Annchen und Kilian eine Liebschaft gemacht zu haben. Ich möchte wohl wissen, was die Franzosen mit unsrer „Präziosa“, dieser lieblichen im ächt romantischen Gewande gehaltenen Dichtung, anfangen würden? Aus der Präziosa würden sie wahrscheinlich ein Kammermädchen und aus dem Grafen Alonzo einen ordinairen Guitarrenspieler machen.

Ferner lernen wir, wie wenig die Französische Sprache der Musik im Allgemeinen und der deutschen insbesondere zusagt. Von dem Refrain im Trinkliede, wo die Philosophie wie ein aufgetrieselter Strumpf hinterher fibrirt, ist schon gesprochen worden, aber noch deutlicher sprach sich jede Wahrheit in dem herrlichen Jägerchor aus, wo sie die schöne, ganz angemessene Versbildung:

„Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen“ durch chasseur di-li-gent, quel ardeur te devore gegeben haben, mehrerer anderer holprigen Uebertragungen gar nicht zu gedenken.

Alles was sie nicht verstanden, haben sie gradezu weggelassen, z. B. die Scene mit der Todtenkrone, das Kugelgießen, die weißen Rosen u. s. w.; aus der frommen (vielleicht auch blos frömmelnden) Agathe haben sie eine ordinaire Liebhaberin, aus dem Annchen eine französische Soubrette gemacht. Rechnet man nun das totale Vergreifen alles Scenischen mit hinzu, | so ist erklärlich, weshalb der französische Freischütz das deutsche Auge und Ohr anwidern muß, und daß durch diese Uebertragung den Franzosen freilich kein klarer Begriff von dem Sinn und Geist dieser unsrer leider nicht genug kultivirten Dichtungen beigebracht werden konnte. Der Freischütz ist auf fast allen Bühnen der bekannten Welt mit Glück aufgeführt worden, selbst an den Ufern des Hoango, wie uns noch neuerdings ausländische Blätter meldeten; großen unbestreitbaren Antheil hat der Komponist daran, und Ehre, Lob und Preis dem deutschen Meister dafür, aber wir wollen nicht undankbar seyn, und uns nicht verhehlen, daß auch die Dichtung ihren redlichen und rühmlichen Antheil daran hat. Wäre dem nicht so, würde der Pariser Freischütz, wo die Dichtung nicht umgestoßen, sondern blos ein wenig gehudelt wurde, würde der Pariser Freischütz, frage ich, wohl einen so widerlichen Eindruck machen, wenn die Musik Alles, die Dichtung nichts zu dem Effekt thäte? Wenn gleich als Erfahrungssatz fest steht, daß auch die abgeschmacktesten Dichtungen von der Meisterhand des Komponisten mit durchgeschleppt werden können, und wobei man nur an die Zauberflöte und Euryanthe denken darf, so scheint mir doch ein verjährter Irrthum in der Folgerung zu liegen, daß eine gute Dichtung zu einer guten Musik gar nicht nöthig sey; ja es scheint mir sogar gefährlich und schädlich, diesen Irrthum festzuhalten, und dadurch manchen wackern Dichter zu verscheuchen, der – wenn die guten Operntexte mehr Anerkennung fänden – eben so eine Ehre darein setzen würde, – sie zu liefern, als ein gutes Lustspiel zu schreiben.

Darum noch einmal: Ehre, Lob und Preis unserm deutschen Meister Weber, aber auch rühmliche Anerkennung dem Verdienste unsers wackern deutschen Dichters Kind!

Apparat

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Frank Ziegler
Korrektur
Eveline Bartlitz

Überlieferung

  • Textzeuge: Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit, Jg. 1, Nr. 17 (8. Februar 1826), S. 65–66

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