Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: “Nathan der Weise” von Lessing, 22. Juni 1819 (Teil 1 von 2)

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Dienstag, den 22. Juni. In der Stadt: Nathan der Weise, von Lessing.

Die Aufführung des Lessingischen Nathan ist ein Fest für Schauspieler und Zuschauer, wenn beide sind, was sie seyn sollen. Die deutsche Bühne hat auf dem Standtpunkte der Reflection kaum ein originelleres Drama. Es ist eine dramatische Theodice und Lessings Schwanengesang. Statt zu veralten, geht, da es bei seiner Entstehung dem Zeitalter weit vorauseilte, es erst den Nachgebornen recht in seiner Wahrheit und Herrlichkeit auf. Der gaffenden Lachsucht und der Menge auf immer ungenießbar und unzugänglich, versammelte es auch bei der heutigen Vorstellung nur ein erwähltes Publikum. Aber dieß fand sich auch mit unwiderstehlicher Gewalt angezogen und bis zum Schluß, den lauter, langtönender Beifall krönte, auf’s angenehmste festgehalten. Es hätte während der Vorstellung selbst wohl noch viel lautern Beifall verdient. Wer die erste Vorstellung im vorigen Jahre gesehen hatte, fand dießmal alles weit gerundeter und eingreifender. Denn die Darsteller, das sah man deutlich, spielten sich selbst und der Kunst zur Ehren. Es war ein sehr erfreuliches Ganze. Besonders gewann die Schlußscene, in welcher Lessing im Geist der Antike die Erkennung schnell abthut, durch gutes Zusammenspiel sehr an Klarheit. Da hier nun aber alles abgewogen und nirgends auch nur eine Sylbe zu viel ist, da überall spitze Rede tiefen Sinn verbirgt: so kann vollendetes Gelingen erst durch vielfache Wiederholung möglich seyn. Auch müßten wohl einige Rollen, den Manen Lessings zu Ehren, umgelernt oder an andere Schauspieler vertheilt werden, wo den gegenwärtigen Besitzern der Rollen, bei den eifrigsten Bestrebungen, die wir gern anerkennen, dennoch die Natur selbst die Weihe dazu versagt zu haben scheint. Wie wohlthätig dieß sey, zeigte die dießmalige Besetzung des Klosterbruders. Hoffentlich sehen wir dieß Stück künftigen Winter wenigstens einigemal. Da wird sich dieß und jenes nachtragen lassen. Also nur einige Bemerkungen über die Hauptrollen.

Den Nathan zu spielen ist ein kühnes Unternehmen. Iffland gestand einst dem Schreiber dieser Anzeige, daß er nach der zehnten Vorstellung noch vieles darin auszumalen und nachzubessern gefunden hätte. Ob Hr. Lemm in Berlin nicht vielleicht auch noch ein ähnliches Geständniß machen würde, wiewohl er das Kleine, wie das Große, gewiß schon bei der ersten Vorstellung vortrefflich bedacht haben wird. Darum können wir Hrn. Hellwig unsre Achtung nicht besser beweisen, als indem wir ihm versichern, daß seine dießmalige Darstellung, die des wahrhaft gelungenen schon so viel hatte, uns die sicherste Bürgschaft leistete, es werde diese Rolle einst, wenn er im Durchdenken derselben bis zu den kleinsten Feinheiten nicht ermattet noch abläßt, eine seiner dankbarsten und gepriesensten werden können. Schon das ist ihm anzurechnen, daß er durchaus alle Schminke und falsche Effecte verachtet, nichts als die ruhige Würde und Fassung, die den über alles dieß Treiben und Thun hocherhabenen und doch wieder so menschlichen Weisen zieret, zu geben sucht. Iffland legte, durch einige Anklänge im Dichten selbst verführt, zu viel Ironie in einzelne Reden. Aber Nathan ist kein Sokratiker. Der orientalische Jude spielt in Gleichnissen, spricht in Pa¦rabeln, aber er bestreitet, widerlegt, lehrt in scharf begrenzten Formen. Sein Costüm, der Wurf des Tulars, das Umwickeln des Mantels im ersten Akt, das ruhige Uebereinanderschlagen oder Senken des Vorderarms, die seltenere Handbewegung, alles war in Einklang. Noch größere Milde und Innigkeit der Ueberredung wird sich finden, da sie im Einzelnen mit gewinnender Sänftigung zum Vorschein kam, da Ergründen und Verstehen ganz da ist. Immer hatten indeß die Stellen, wo die kräftigere Tendenz vorherrscht, z. B. in der ersten Unterredung mit Recha, wo er ihr bittre Arzenei gegen den Glauben an Engelerscheinungen giebt, noch den Vorzug. Der die Erzählung von den drei Ringen vorbereitende Monolog wurde meisterhaft gesprochen und gespielt. Das so oft ganz aus der Gleichung hervorgehobene: Das war’s! Das kann mich retten! wurde heute durch Pausen und begleitende Geberden gut eingeleitet. Das zuviel liegt hier weit näher, als das zuwenig. Der erhabne Schluß der Erzählung wurde dießmal weit kräftiger, wir möchten sagen, mit mehr Salbung vorgetragen. Doch verträgt sie noch immer mehr Begeisterung. Denn Nathan wird ja am Ende von eigener Glut entzündet. Ungemein weich und durch angemessenes Geberdenspiel unterstützt war der schöne Moment, wo er eine Thräne auf den Brandfleck des Mantels fallen läßt. Nur war’s noch Spiel. Es wird gewiß einmal noch mehr von innen herauskommen, und auch dem Aufmerksamsten keine Zubereitungen mehr verrathen. In einer solchen Rolle ist nichts unbedeutend. In dem zum Sprichwort unter unter uns gewordenen: kein Mensch muß müssen, an den Derwisch liegt der entscheidende Accent auf müssen. Da wo der Tempelherr im überströmenden Gefühl ihn Vater nennt und der weise Nathan zögert, vermißten wir in der nur freundlichen, nicht herzlichen Steigerung von junger Mann – lieber junger Mann – lieber, lieber Freund! noch zu sehr die Schattirungen des immer traulicher werdenden Tons. So etwas, hört ich einmal einen großen Meister behaupten, könne der Schauspieler durchaus nicht der bloßen Probe auf der Bühne überlassen. Das müsse mit unglaublicher Sorgfalt dem eigenen Gehör lange vorgeübt werden, bis das künstlichste zum natürlichsten geworden sey. Iffland behielt den Mantel über dem Talar auch in den folgenden Akten bei. Es giebt ein reiches Falten- und Mantelspiel. Dennoch schien uns bei der hiesigen Vorstellung die Erscheinung ohne Mantel in den spätern Scenen wahrer und zweckmäßiger. Derselbe Künstler trat in der zweiten Scene mit dem Derwische, als dieser fortläuft und Nathan ihn zurückzurufen nachgegangen ist, wieder zum Proscenium und sprach nun nach einer inhaltschweren Pause, den Kopf in der aufwärtsblickenden Richtung, wie Rafael immer die Contemplation malt, jenen stoischen Satz, der unter allen Zonen gilt: –

Der wahre Bettler istDoch einzig und allein der wahre König.

Hr. Hellwig hob diesen Hauptmoment (sprechend abgebildet im 10ten Heft von Ifflands mimischen Darstellungen, durch die Gebrüder Henschel in Berlin) viel zu wenig heraus. So möchte auch die ebenfalls dort treu wiedergegebene Stellung bei den Worten: der rechte Ring vermuthlich ging verloren, durch das aufwärts, – eine Assignation an den Himmel, – wohl die gewählteste seyn.

(Der Beschluß folgt.)

Editorial

Summary

Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: “Nathan der Weise” von Lessing (Teil 1 von 2). Der zweite Teil folgt in der nächsten Ausgabe.

Creation

Responsibilities

Übertragung
Fukerider, Andreas

Tradition

  • Text Source: Abend-Zeitung, Jg. 3, Nr. 157 (2. Juli 1819), f 2v

Text Constitution

  • “unter”sic!

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