Aufführungsbesprechung Prag, Ständisches Theater, Clavigo von J. W. von Goethe am 1. Juli 1814
Ständisches Theater in Prag.
Der wahre Kunstfreund so wie der wahre Künstler selbst wissen es Hrn. Dir. Liebich Dank, daß uns sein geläuterter Kunstsinn die meisten classischen Werke unserer ältern dramatischen Literatur auf dem Repertoir erhält. Nichts ehrt eine Bühne mehr als diese Kunstdarstellungen, besonders wenn sie sie, wie die unsrige, durch Künstler zu verherrlichen vermag. – Göthe’s Clavigo wurde in diesem Jahre am 1. Juli zum dritten Mal gegeben. – Hr. Polawsky war Clavigo. Das seltene und daher um so schätzbarere Talent dieses Künstlers die Darstellung jedes innern Gefühls lebendig, mit erhöhtem Ausdruck der Wahrheit zu steigern, und bis zum höchsten Enthusiasmus aufzuschwingen, befeuerte besonders die reuevolle Scene mit Maria im dritten Act: | „Ja sie ist’s! Sie ist’s! Und ich bin Clavigo![“] – und setzte bei diesem treflichen Spiele die Inconsequenz des Charakters in das hellste Licht. Diesem liebeglühenden rückkehrenden Verräther können wir seinen endlichen Abfall nie verzeihen – und dieß ist die Absicht des Dichters. Ein mattes Gefühl läßt uns den Heuchler ahnden, und Clavigo ist nur ein Unglücklicher, den beispiellose Schwäche ins Verderben zieht. Steht nun diesem gelehrten Weltmann, wie dieß so oft auf unsern Bühnen der Fall ist, ein kalt raisonirender Pedant als Carlos gegenüber, der diesem Charakter den Anstrich der Intrigue geben zu müssen glaubt, so können wir Clavigos Wankelmuth noch weniger begreifen. Ist Carlos aber, wie in Hrn. Wilhelmi’s Spiele der geschliffenste Weltling selbst, der seine Sophistereien mit Leichtigkeit und lächelnder Miene dem schwachen Freund in die hingebende Seele haucht, so finden wir psychologischen Grund und Zweck in diesem Menschengemälde. Beseelt endlich Beaumarchais berechnetes Einwirken einer gewaltsam unterdrückten Rache die Scene so wahr und ergreifend, so fein und anstandsvoll, wie es Hrn. Bayers verdienstliche Darstellung dieses Charakters vermochte, so entsteht ein Ensemble, welches sich durch das Theilnahme erweckende innige Spiel der leidenden Marie (Mad. Brunetti) zu einem Kunstwerk vollendete, wie es Talent und Fleiß auf der deutschen Bühne nur äußerst selten noch neben den flachen Tagsgeburten unserer undramatischen Zeit mit hohem Kunstsinn aufzustellen bemüht ist. – Nächstens werden wir Merope von Mad. Schröder dargestellt sehen.
Editorial
Creation
–
Responsibilities
- Übertragung
- Klare, Ina
Tradition
-
Text Source: Allgemeiner Deutscher Theater-Anzeiger, Jg. 4 (1814), Nr. 35, pp. 139–140