Rezension zu 9 Variationen über “Schöne Minka” op. 40 sowie 7 Variationen über ein “Thema russo” / “Zigeunerlied” op. 55

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Die [Berliner allgemeine] musikal. Zeitung ist noch aus einer frühern Nummer eine Genugthuung schuldig; nämlich der Variationform, die bei Gelegenheit einer Erwähnung von Virtuosenkompositionen*) kurzweg als die rechte Form für leichte Waare karakterisirt wurde. Wenn man, nach Art mancher Komponisten, ein Thema nur als eine Reihe von Noten in einem gewissen melodischen und harmonischen Zusammenhange ansieht, so ist mit einiger Kenntnis und geringem Witz nichts leichter, als daraus eine mäßige Anzahl Variationen abzuziehen. Nichts ist handwerksmäßig leichter, als einen Akkord auf mannigfache Art zu zergliedern, zwei Akkorde mittels durchgehender Noten und dergleichen zu verknüpfen, einer Melodie an dieser und jener Stelle oder überall Nebennoten – so und so viel auf einmal – einzupropfen. Wer die Handgriffe kennt, wundert sich nicht über die Menge Variationen, die es giebt, sondern eher darüber, daß nicht noch viel mehr fabrizirt und gedruckt werden, oder daß man nicht aufhört, überhaupt welche zu drucken und jeder sich seinen Hausbedarf selbst schnitzelt in der Stunde nach Tische, oder vor dem Schlafengehn, oder in kattharralischem Befinden.

So kann zwar ein Spiel bewußtloser Kräfte eine lebenähnliche und innerlich todte Form hervorbringen – wie den sandsteinernen Reiter*, der schon seit Wochen die allzeit bewunderungsfertigen Pariser beschäftigt, – und man habe Acht, daß man nicht todtes für lebendes, Schein für Sein nehme. Wäre aber jenes Spiel auch noch so häufig vorgekommen, so ist darum die Form nicht todt geschlagen, und daß dies namentlich der Variationenform in der neuesten Zeit nicht widerfahren, beweisen unter andern:

  1. Sieben Variationen über ein Zigeunerlied, für das Pianoforte komponirt von Karl Maria v. Weber, Op. 55. Preis 10 gr.
  2. Air russe varié pour le Pianoforte etc. par Charles Marie de Weber. Op. 40. No. 9 des Variations – Preis 20 gr.

Beide herausgegeben bei Schlesinger in Berlin.

Um dem belesenen Publikum mit Einem Zuge deutlich zu machen, wie ihm unser geistreichster Komponist, Karl Maria von Weber, im Fach der Variationen erscheint, erinnert | Referent an van der Velde. Dieser neueste Lieblingserzähler erwählt sich vor allem eine interessante Person, um die oder um deren Begebenheiten sich alles unterwürfig, wie der Hintergrund eines historischen Gemäldes um die Figuren, stellt. Das Leben des Helden nun wird uns nicht mit psychologischer Einsicht und epischer Kunst aus seiner Grundidee, in seiner unerläßlichen Konsequent entfaltet, es wächst nicht vor unsern Augen, wie die Aussicht auf eine weite Landschaft vor den Augen des immer höher steigenden Wanderers; sondern der Dichter führt uns durch dicht belaubte Gänge, auch wohl mit verbundenen Augen, und bald hier, bald da, öffnet sich eine Durchsicht; stets erblicken wir einen interessanten Punkt, stets sind wir von dem erblickten erfreut, erkennen die vorgesehene Gegend und geben zu: hier müsse sie sich so, hier so ausnehmen, wenn wir auch den Zusammenhang nicht durchschauen.

So Weber in seinen Variationen. Sein Name verbietet schon, an jene geistlose Handthierung, die wir oben bezeichneten, zu denken. Seine Themata sind interessant und eigenthümlich gestaltet. Sie stehen in bestimmt gezeichneter Persönlichkeit vor uns und in jeder Variation wird uns eine neue Seite ihres Karakters, aus ihrem Leben eine neue bezeichnende Lage gezeigt. Ob die Variationenform noch etwas anderes und gleich werthvolles, oder auch etwas höheres leisten kann, darf hier unerörtert bleiben; jene Tendenz derselben hat unser Weber wohl unter allen Komponisten (Beethovens neueste Variationen, z. B. in seiner unsterblichen 111te Sonate gehören in eine andere Klasse) selbst Mozart und Haidn nicht ausgenommen, am gelungensten erfüllt.

Die oben unter

No. 1. angezeigten Variationen sind eine geniale Skizze, dem Zigeunerleben abgewonnen. Dem Schreiber dieses baut sich vor dem innern Auge bald eine mondhelle Waldwiese in sommerlicher Ueppigkeit auf, von Nachtvögeln und leuchtenden Käfern durchschwirrt und in der Mitte am lustigen Feuer die kleine Horde – da hinter den weißen Buchenstämmen lauscht wol, den Griffel in der Hand, der Zeichner und der säuselnde Nachtwind weht ihm neckend das Blatt um. – Gemüthvoll, aber frei und kek, bis zur Seltsamkeit und Rohheit, sorglos spielend, eigensinnig jede Laune durchsetzend und doch wieder aus gutem Willen und List so schmiegsam und fein sehen wir den Sohn der Freiheit im Thema und den ersten Variationen. Wie trippelt und flattert in der dritten so leicht und luftig die Nymphe des Waldes, daß ihr zuletzt der braune Vater, herzlich der Tochter froh, nacheilt – diesen Tanz aller Glieder, diese natürliche Anmuth, diese fantastische Beweglichkeit sucht mir nicht in den städtischen Sälen! – Nun wird in No. 4. Chorus gemacht, freilich ein wenig wild und roh, nach Art der Nachtgesellen. Die leichterregten Weiber voran, das störrigere Mannsvolk zu spät, jedes singt für sich und nach seiner Weise eigensinnig fort. Wenn auch die Männer später und tiefer einsetzten: es klingt doch, als wärs dazu gemacht – und in der That ist es auch ein Kanon erst in der Unter-Quinte und dann in der Oktave. – Da hebt sich (No. 5.) aus dunkeln Hüllen Altmutter heraus und redet gar nachdenklich drein. Die zierliche Enkelin schmiegt sich begütigend und liebkosend an und alle loben es halblaut, so seltsam rührt sie das Bild der Pietät. Jetzt schwebt (No. 6.) Grazioso, seinem Namen Ehre zu machen; blickt er zärtlich nach der Kleinen? Wilder heben sich Sohlen und Arme der brüderlichen Gesellen und froh bricht der Chor an und knettern schallende Becken dazwischen.

In No. 2 ist das allbekannte, hundertmal variirte „Schöne Minka, ich muß scheiden,“ zum Grunde gelegt. Man glaube aber darum ja nicht, etwas altes zu kaufen und nur die mögen Weber unberührt lassen, die jene Wassersuppen gekocht haben. Um diese Versicherung sogleich außer Zweifel zu setzen, vergleiche | man den ersten Theil des Thema nach der allgemein angenommenen Ueberlieferung mit Webers Auffassung

Wer freilich auf dem Notenblatte nur Noten sieht, dem wird diese Melodie so viel gelten, wie jene. Andre werden aber im vierten Takte die weich verlangende Sexte, im letzten die ihr entsprechende Oktave, den weit markigern Auftritt vom ersten zum zweiten und vom fünften zum sechsten Takte, so wie von h zu g (ohne Vermittlung des d) im siebenten Takte als Züge eines wahren und tiefen Gefühls erkennen und gern die ärmliche Bewegung im ersten, dritten und fünften Takte der gewöhnlichen Weise, so wie die Wiederholung des zweiten Taktes im vierten darangeben.

Dem Thema geht eine Introduktion voran, die aus den Figuren der verschiedenen Variationen gewebt ist, die auf etwas sehr ernstes, ja das Gemüth belastendes vorbereitet und deßwegen dem Referenten fast als unangemessen erscheint. Doch ist der Eindruck nicht so tief, daß man ihn nicht über die natürliche, sehnsüchtig wehmüthige Klage des Kriegers beim Abschiede von der Geliebten (Thema) vergäße. Dieses Thema nun von mannigfachen Gesichtspunkten zu zeigen, ist die Bestimmung der neun Variationen.

Die erste ist der Ausdruck wehmüthiger, aber sich ruhig erhaltender Erwägung, die nur einmal (beim Anfange des zweiten Theils) von einer heftigern Aufwallung gestört zu werden droht. Nr. 2. folgt gebeugt unter den Schlägen und der Last des Geschickes und im zweiten Takte des zweiten Theiles glaubt man den Aufschrei der schmerzlichen Klage zu vernehmen. Wild stürmend, knirschend vor Zorn, drängt No. 3. nach; in No. 4. gesellen sich zu dem Thema in der Oberstimme drei (im Anfang nachahmende) mitklagende Stimmen, worauf Nr. 5. in wilder kriegerischer Pracht mehr den Schmerz bekämpft, als trägt. Mild begütigend klingt sich No. 6. (zum ersten Male Dur), wie ein Gruß aus der Ferne in die Heimath hinein, der frohlockend von den Freunden wird weiter getragen.

No. 7 und 8 sind dem Sinne (nicht den Figuren) nach tragisch gesteigerte Wiederholungen von No. 1 und 3, dann aber beschließt Nr. 9. wie die seltsame Mähr vom fernen, sonnhellen, abentheuerlichen Lande, in dem die Natur wie zauberisch fremd die Lüfte mit goldnen Sängern und die Haine mit süssem Wiederhall und die Seele mit neuen Gluten erfüllt hat. Dieses Tongedicht, mit allen Kräften des glücklichsten Talentes ausgestattet, mit der Kunstgewandheit des reifen Meisters weit ausgeführt, schwebt über dem Ganzen, als dessen Schluß, gleich einer herrlich schimmernden und duftenden Blumenkrone.

Die Ausführung beider Kompositionen fodert einen nicht geringen Grad technischer Ausbildung. Doch wird selbst die größte Fertigkeit ungenügend bleiben, wenn der Spieler nicht die Fähigkeit hat, den geistreichen Komponisten überall zu verstehen.

[Original Footnotes]

  • *) Ztg., No. 30. S. 260 . *

Editorial

Summary

Rezension: 9 Variationen über “Schöne Minka” (WeV R.10) und 7 Variationen über ein “Thema russo” / “Zigeunerlied” op. 55 (WeV R.11) von Carl Maria von Weber

Creation

Responsibilities

Übertragung
Bandur, Markus

Tradition

  • Text Source: Berliner allgemeine musikalische Zeitung, Jg. 1, Nr. 42 (20. Oktober 1824), pp. 361–363

    Commentary

    • “… No. 30. S. 260 .”Berliner allgemeine musikalische Zeitung, Jg. 1, Nr. 30 (28. Juli 1824), S. 260.
    • “… – wie den sandsteinernen Reiter”Bei dem „sandsteinernen Reiter“ handelt es sich um den Fund einer Steinmasse in den Felsen des Waldes bei Fontainebleau, die aufgrund ihrer Form anfänglich als Versteinerung eines Reiters mit einem Teil seines Pferdes angesehen wurde (vgl. beispielsweise die anonyme Rezension über J. J. N. Huot, Notice géologique sur le prétendu fossile humain, trouvé près de Moret, au lieu dit le Long Rocher, Paris 1824, in: Literarisches Conversations-Blatt, Jg. 8, Bd. 2, Nr. 254, 4. November 1824, S. 1015f. ).

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