Johann Gänsbacher an die Mitglieder des Harmonischen Vereins
Zwischen Freitag, 8. März 1811 und Freitag, 24. Mai 1811

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Ich beantworte zugleich Melos intereßantes liebes Schreiben. Mit wahrer innigster Theilnahme vernahm ich den sehnlichst erwarteten klingenden Erfolg des Großherzogs, wodurch meiner Meinung nach der Grund zum Glücke eines Mannes gelegt wird, dessen herrliches Talent in der musikal: Welt noch viel Aufsehen machen wird; ich hätte mich dessen kaum mehr freuen können, wenn mir so was selbst wiederfahren wäre; nun wandert der gute Melos herum und sucht und sammelt nun für die Kunst, die ihn hoffentlich einst für so viel Aufopferungen, Kasteyungen, und Bekämpfung der vielerlei Hindernisse belohnen wird; wenigstens ist es mein herzlichster Wunsch, und der triftigste Vorsatz, nach Kräften dazu mitzuwirken; leider, daß bey gegenwärtigen traurigen FinanzUmständen unserer Staaten von ausländischen Compos: und Zeitungen so wenig zu sehen ist; ich habe zur Stund noch keine musikalische Zeitung, keinen Freymüthigen, keine elegante Zeitung etc. gesehen gelesen; itzt gar auf dem Lande bin ich ohne alle auswärtige Notitz; außer der Augsburger Zeitung sehe ich hier nichts Fremdes. Wißen möchte ich doch, welchen Weg, Melos nach Leipzig nimmt, und zu welcher Zeit. Da ich gegenwärtig anf der sächsischen Gränze lebe, so würde ich mehrere Meilen nicht achten, um mit ihm zusammenzutreffen und an ihn an mein brüderliches Herz zu drücken.

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Seiner vortheilhaften Empfehlung danke ich es, daß ich vor einiger Zeit von der Gombartischen Handlung von Augsburg ein schmeichelhaftes Schreiben erhielt*, worin sie sichs zur Ehre schätzt, etwas von meiner Comp: in ihrem Verlag aufnehmen zu können; ich habe bereits eine Klaviersonate mit Flöten oder Violin Begleitung dann eine Serenade für Guitarre und Violin oder Flöte dahin abgeschickt, zwar keine großen, aber wie ich glaube, affable, gangbare Werke. Die dem Melos in meinem Briefe undeutliche Stelle: unser Projeckt betreffend etc: betraf die musik. Zeit:* Die Sylvana habe ich der Prager Theater Direction vorzüglich empfohlen, und den ersten Ton hoffe ich künftigen Winter in einer Akademie aufs Tapet zu bringen:

Ich muß nun den Verein auf ein Subjeckt aufmerksam machen, das Aufmerksamkeit verdient: nämlich auf H: Thomascheck* in Prag, Compos: bey Graf Bouquoi; er ist bereits durch mehrere Kunstwerke sehr vortheilhaft bekannt, besonders durch seine Eleonore eine Ballade*, und eine große Klaviersonate, die bey Negeli in Zürch gestochen ist*; er besitzt ganz die Eigenschaften bey § 6. seine LebensAnsichten sind mir weniger bekannt, da ich wenig Umgang hatte, ich weiß indeßen nichts unedles von seinem moralischen Karackter; | doch ist so viel gewiß, daß er in Prag sowohl verkannt als auch nicht geliebt ist; man kennt ihn als Mitarbeiter in der musik: Zeitung, und er hat sich dadurch wegen seinem vielleicht manchmal zu scharfen Urtheil über Prager Redactionen das Publikum zu Feind gemacht, so wie er überhaupt nicht Mäßigung und Klugheit genug besitzt, um in seiner gegenwärtigen Sphäre Glück zu machen; das Ausland weiß ihn beßer zu würdigen. Er hat auch mehrere Synfonien* und 2 Opern geschrieben*; eine Oper kenne ich; er spielte sie mir 2 mal beym Klavier vor; soviel sich daraus entnehmen läßt, fand ich darin viel Geist, viel geniales, gute Haltung, richtige Karackterzeichnung, große Harmonie Kenntniße; ob auch alles auf dem Theater die erwünschte Wirkung hervorbringt, getraue ich mich nicht zu beurtheilen; nemo propheta in patria; deshalb konnte er auch noch nicht seine Oper aufs Prager Theater bringen*; ich habe indeßen die Direction sehr darauf aufmerksam gemacht, und zettre über sie a die böseren Gr...sten, wenn sie aus bloßer piccanterie ihren Landsmann verkennen, der unter ihren Künstlern gewiß einer der ersten ist; er besitzt tiefes musikalisches Studium, Gelehrsamkeit beynahe, großen Fleiß; der Karakter seiner Compos: neigt sich mehr zum Düsteren; das leichte flüßige möchte ich etwas vermißen; er ist ein großer Verehrer von Papa, und seines Systems, und ist in Prag vielleicht der einzige, der ihm Gerechtigkeit widerfahren laßt.

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Bisher hatte ich keine Gelegenheit, meinen Beytrag zur Kaßa zu liefern. Meinem lieben Philod: danke ich für die paar Zeilen, und freue mich seines neuen Werkes, wenn es vollendet, und aufgeführt seyn wird; hätten wir hier einen Dichter wie Schreiber in der Nähe! Er reißt also nicht nach Paris, sondern macht auch Melos Reise? welchen Hauptzweck verbindet er damit?

Gegenwärtig arbeite ich was Zeugs halt, an einem Requiem für die verstorbene Gräfin Mutter*, es soll den 20t Juni hier aufgeführt werden; das erste Stück und das zweyte nämlich Dies irae sind skizzirt; von diesem verspreche ich mir große Wirkung; ob ich mit dem Ganzen fertig werde, weiß ich noch nicht; indeßen wird darauf los gearbeitet. Ich habe nun auch eine Singschule für 6 Dorfkinder errichtet; sie werden nach V: Grundsätzen gebildet, und ich übernehme selbst die Arbeit; 3 Sopran und 3 Alt bekommen tächlich wechselnd eine Stunde, somit lebe ich ganz meinem Berufe in meiner Einsamkeit, die mir gut für meine Muse zustatten kommt.

Für diesen und den künftige Monat weihe ich euch geliebten Mannheimern herzliche und dankbare Memento; nie vergeß ich diese herrliche Zeit; ihr liebt mich doch auch alle noch wie euer alter
Canon von Gänsbacher im Brieftext: „Gelt Jörgel hast ahm gsagt es thuet mir nix“ Jörgl

Apparat

Incipit

Ich beantworte zugleich Melos intereßantes liebes Schreiben

Überlieferung

  • Textzeuge: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
    Signatur: 55 Ep 1930

    Quellenbeschreibung

    • 1 DBl. (4 b. S. o. Adr.)

    Provenienz

    • 2019 Ankauf aus Privatbesitz

    Dazugehörige Textwiedergaben

    • Wolfgang Meister, Verloren geglaubte Dokumente aus dem Archiv des Harmonischen Vereins, in: Weberiana 29 (2019), S. 17–21

Textkonstitution

  • „Kasteyungen“unsichere Lesung
  • „leider“unsichere Lesung
  • „gesehen“durchgestrichen
  • „an“durchgestrichen
  • „affable“unsichere Lesung
  • „Theater“über der Zeile hinzugefügt
  • „sie a“durchgestrichen
  • „böseren Gr...sten“unsichere Lesung
  • „mich“über der Zeile hinzugefügt
  • „hier“über der Zeile hinzugefügt

Einzelstellenerläuterung

  • „… Augsburg ein schmeichelhaftes Schreiben erhielt“Weber hatte Gombart laut Tagebuch am 8., 10., 11. und 13. März 1811 in Augsburg aufgesucht.
  • „… etc: betraf die musik. Zeit:“Gemeint ist hier das geplante Zeitungsprojekt der Vereinsbrüder, vgl. Brief an Gänsbacher vom 7. Dezember 1810.
  • „… verdient: nämlich auf H: Thomascheck“Der vorgeschlagene sollte den Bundesnamen „Jonas“ erhalten und wurde zumindest näher in Betracht gezogen, vgl. dazu Carl Maria von Webers Brief an Gottfried Weber vom 6. Juni 1811.
  • „… durch seine Eleonore eine Ballade“Tomášeks Leonore, Ballade von G. A. Bürger op. 12, war bei Haas in Prag erschienen; vgl. AmZ, Jg. 15, Nr. 41 (13. Oktober 1813), Sp. 674–679.
  • „… Negeli in Zürch gestochen ist“In Nägelis Répertoire des Clavecinistes war bereits Tomášeks Sonate et Rondeau pour le Pianoforte erschienen; vgl. AmZ, Jg. 8, Nr. 17 (22. Januar 1806), Sp. 261–263. Gemeint ist aber die Grande Sonate pour le Pianoforte op. 14, die im selben Verlag publiziert worden war; vgl. AmZ, Jg. 12, Nr. 6 (8. November 1809), Sp. 94–96.
  • „… Er hat auch mehrere Synfonien“Zu den Aufführungen der Sinfonien C-Dur op. 17 (Wien 1806) und Es-Dur op. 19 (Leipzig 1810) vgl. AmZ, Jg. 8, Nr. 46 (13. August 1806), Sp. 729f. und Jg. 13, Nr. 4 (23. Januar 1811), Sp. 64f.
  • „… Synfonien und 2 Opern geschrieben“Dieser Hinweis könnte darauf hindeuten, dass Tomášek bereits 1811 an seiner zweiten (unvollendet gebliebenen) Oper Alvaro arbeitete. Bislang war die Arbeit an diesem Werk nicht vor 1812 datiert; vgl. dazu u. a. Musicalische Notizen, Nr. 2 (Februar 1812), S. (Bericht aus Prag vom 16. Februar 1812).
  • „… Oper aufs Prager Theater bringen“Tomášeks Oper Seraphine erlebte am 15. Dezember 1811 ihre Uraufführung am Prager Ständetheater.
  • „… für die verstorbene Gräfin Mutter“Maria Anna Gräfin Althann, geb. von Martiniz (1737–1810).

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