Max Maria von Weber an Ida Jähns in Berlin
Dresden, Freitag, 23. Juni 1848
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[…] Der Zustand Berlins mag momentan ganz miserabel sein, kann es auch noch monatelang bleiben; die Gleichgültigkeit der Aristokratie mag diese auch noch manche Woche von der Hauptstadt zurückhalten. Winter und Überdruß werden sie schon von den Landgütern oder aus dem Fremdenleben in Dresden und den Bädern wieder nach Berlin führen; und da das Stadium, wo diese Herrschaften ihrer bisherigen Umgebungen satt sein und wieder Sehnsucht nach den Linden, der Singakademie usw. bekommen werden, bei allen ziemlich gleichzeitig eintreten wird, so werden sie so dicht nach Berlin zurückströmen, wie sie fortgingen. Es ist mit dem Bedürfnis nach Kunst, Wissenschaft und Geselligkeit wie mit den materiellen Notwendigkeiten. Zeitweilig mag die Industrie darniederliegen, weil jedermann sich einschränkt, seine Röcke, Hüte, Stiefel aufträgt und das Geld in der Tasche behält. Sehr viel will das aber doch nicht sagen! Es kommt ein Tag, da alle Röcke, fast zu gleicher Zeit, schäbig werden, alle Hüte die Krämpen verlieren, alle Stiefel keine Sohlen mehr haben, und dann – kann die Industrie kaum genug für alle schaffen und blüht schneller auf als sie einging. – Mit der Kunst ist’s ebenso. – Verdrossen kehrt der Berliner jetzt der Metropole der deutschen Gesittung den Rücken und wähnt, er brauche ihre Nahrung sein Lebtag nicht mehr. Laßt die Herrchen und Dämchen nur ein halbes Jahr nach Konzert, Oper, Tee, Paraden und Geheimen Räten hungern, dann laufen sie scharenweise wieder Wilhelmen, dem großen Fabrikanten geistiger Ornamente, in die Arme und bitten komischerweise: „Tu Deinen Munde auf; denn wir hungern!“ – Und an ein Wegwandern des höheren geistigen Lebens von Berlin im allgemeinen ist nun gar nicht zu denken; das sammelt sich nicht in jeder Mittelstadt! Auch die Gesittung folgt, und mehr vielleicht als alles andere, dem Gesetze der zweiten Natur, der Gewohnheit. Darum verzagen Sie nicht. Bewegungen, die sich in der Mitte eines zivilisierten Volkes erzeugen, können nicht allzulange anhalten, weil doch alles Bestehen einen festen Boden verlangt. Lassen Sie von dem wilden Schwanken nur erst die Mehrheit der Nation die Seekrankheit bekommen, so werden wir geschwind genug über den Katzenjammer hinweg sein! Freilich die letzte Schwankung mag dann wohl noch die derbste sein und im Totschlagen einer ziemlichen Quantität von Menschen bestehen – um die es aber – nicht schade ist. – Ihnen den Rat zu geben, nach Dresden überzusiedeln, wäre gewissenlos. Dresden ist eine Sommerstadt, hat im Juli und August seine Saison, in der ihm Leute Glanz verleihen, welche ruhen und genießen, nicht lernen wollen. So voll daher Dresden auch oft von Aristokraten ist, so haben doch die lehrenden Künstler wenig von ihnen. Von den Dresdnern selbst aber und den wenigen reichen Fremden, die dauernd dort wohnen, kann Wilhelm keine Existenz erwarten, wie er sie bisher genossen. – Geht es in Berlin einmal recht toll und kunterbunt her, dann kommen Sie zeitweilig nach Dresden; denn in Sachsen sind Ruhestörungen nicht zu fürchten. Hier sind alle Elemente vorhanden, welche Ruhe verbürgen: ein König, der sich bereit erklärt hat, dem Volke seine Krone zurückzugeben, sobald die Mehrheit es wolle, ein allgemein verehrtes Ministerium, das Bestehen der ausgedehntesten, doch mäßig benutzten Freiheiten, kräftiges Zusammenstehen einer mächtigen Majorität für Erhaltung des bürgerlichen Friedens […] Ich bin gezwungen, Sachsen für eins der politisch höchst gebildeten Länder der Welt zu halten! […] Kommen Sie mit all den Ihren, wenn Sie Ruhe haben wollen, womöglich jetzt. Mama hat eine kleine, sehr nette Wohnung in Pillnitz bezogen […] Daß Mama dem ewigen Gerede von Gefahr und Not, mit dem ihre Freunde sie plagten, entzogen ist, ist mir sehr lieb; sie hatte keinen ruhigen Augenblick mehr, zumal gerade einige ihrer nächsten Bekannten mit in den politischen Strudel gerissen wurden. Kapellmeister Wagner und Musikdirektor Röckel sind die wütendsten Republikaner Dresdens und haben sich, obgleich sie ganz vom Hofe abhängen, doch die eifrigsten Umtriebe zum Sturz der Krone zu schulden kommen lassen. Das hat ihnen die Mißbilligung aller Gutgesinnten, sogar die des langmütigen Königs, in einem Grade zugezogen, dass sie sich wahrscheinlich nicht mehr lange halten können. Da wäre am Ende eine geeignete Stellung für Wilhelm! Soll ich ihm schreiben, wenn Röckel gestürzt wird, dass er anhalten kann? Ein Einheimischer wird keinesfalls Kapellmeister oder Musikdirektor, und man muß dem närrischen Glücke Tür und Tor öffnen! Empfehlungen vornehmer Leute an Lüttichau können Wilhelm nicht fehlen; also – drauf los! […]
Apparat
Zusammenfassung
Betrachtungen über den Zustand der Gesellschaft in Dresden im Vergleich mit Berlin; rät einer erwogenen Übersiedlung von Jähns nach Dresden ab, Dresden sei eine „Sommerstadt“; erwähnt die revolutionären Umtriebe Wagners und Röckels und schlägt Wilhelm allenfalls die mögliche Vakanz der Kapellmeisterstelle Röckels als Nachfolger vor; lädt ihn ein, zeitweilig nach Dresden zu kommen, wenn es in Berlin zu „kunterbunt“ zugehe, es könne sofort sein, seine Mutter habe eine Sommerwohnung in Pillnitz bezogen; ist überzeugt, dass in Sachsen keine Unruhen zu befürchten seien
Incipit
„... Der Zustand Berlins mag momentan ganz miserabel sein“
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Frank Ziegler
Überlieferung
-
Textzeuge: Friedrich Wilhelm Jähns und Max Jähns. Ein Familiengemälde für die Freunde, hg. von Karl Koetschau, Dresden 1906, S. 303–305, 327 ,