Marie Lipsius an Friedrich Wilhelm Jähns in Berlin
Leipzig,
Samstag, 19. Mai 1883
Einstellungen
Zeige Markierungen im Text
Kontext
Absolute Chronologie
Vorausgehend
- 1875-09-29: an Jähns
- 1877-03-16: von Jähns
Folgend
- 1883-05-28: an Jähns
- 1883-05-21: von Jähns
Korrespondenzstelle
Vorausgehend
- 1875-09-29: an Jähns
- 1877-03-16: von Jähns
Folgend
- 1883-05-28: an Jähns
- 1883-05-21: von Jähns
d. 19. Mai 1883
Hochverehrter Herr Professor.
Viele Jahre sind es her, seit wir die letzten Briefe gewechselt; aber ich denke, ob uns auch ein neidischer Zufall von einander entfernt, in der Gesinnung sind wir dieselben geblieben. Meine Verehrung für Sie ist wenigstens heute noch gerade so warm als damals, u. gütig wie Sie sind, haben | Sie wol auch mir die freundliche Theilnahme bewahrt, durch die Sie mich und meine Bestrebungen früher [unterstützt] haben. So hoffe ich, werden Sie mich nicht allzu großer Unbescheidenheit zeihen, wenn ich wieder einmal das Recht einer alten Freundin in Anspruch nehme u. an Ihre Thür klopfe. Ist’s doch obendrein die Weber-Autorität, an die ich heute appellire! Die alten Allotria treibe ich ja, wie Sie wol wissen, noch immer fort. Nun bereite ich eben | eine sechste Auflage meiner ersten Studienköpfe vor* u. möchte mich bezüglich einiger Weber-Fragen gern Raths bei Ihnen erholen. Wo könnte ich’s denn besser?!
1. Ohne Zweifel ist Ihnen ein Aufsatz „Weberiana“ von Musiol (N. Berl. Musikzeit. 1879) bekannt geworden, darin der Verfasser die Vermuthung ausspricht, daß die Compositionen des jungen Weber nicht auf wunderbare Weise in Kalcher’s Schrank verbrannt, sondern von ihm selbst absichtlich | u. zwar in Salzburg vernichtet worden seien. Scheint Ihnen diese Vermuthung in der That hinreichend begründet, um die frühere Annahme* zu widerlegen?*
2. Kennen Sie das meines Wissens im Januar 1881 erschienene Leben Weber’s von Benedict u. bringt dasselbe wesentlich Neues, sodaß ich mir’s verschaffen muß?
3, Bei Kistner erschien eine Cantate Webers: „Auf, hinaus in’s frische Leben“ f. 4 Solostimmen u. 4stimm. Chor, mit Instr. u. Umdichtung des Textes v. Carl Bank heraus|gegeben*. In Ihrem Verzeichniß fand ich dieselbe weder unter den ungedruckten, noch unvollständigen oder untergeschobenen Werken angeführt. Ist es in der That eine erst neuerlich aufgefundene, Ihnen früher unbekannt gebliebene Composition?
Das, verehrter Herr Professor, sind die Fragen, die ich zum Besten meines Studienkopfes an Sie zu richten mir erlaube. Aber ich habe noch eine vierte auf dem Herzen u. zwar zum Bestens eines noch ungebornen Werkes. Seit | längerer Zeit schon bereite ich, was ich indes noch als Geheimniß zu betrachten bitte, eine Sammlung von Musikerbriefen vor, die Gedrucktes u. Ungedrucktes von den‡ hervorragendsten Tonkünstlern u. zwar von Heinrich Schütz bis zu den Meistern der Gegenwart, enthalten soll*. Da möchte ich natürlich auch Weber recht interessant u. vielseitig vertreten sehen in Briefen, die ihn als Künstler oder als Menschen möglichst entsprechened charakterisiren. Die von Nohl in dessen Musikerbriefen gebrachten, gewäh|ren geringe Ausbeute für meinen Zweck. Dagegen findet sich meines Erinnerns Vieles in der Biographie von Max Maria. Freilich liegt mir daran, stets Vollständiges, nichts Fragmentarisches zu geben, sonst böte sich mir auch in Ihrem Verzeichnis vieles außerordentlich Brauchbares dar. Die Briefe an Susann (pag. 2), an Spohr (p. 372), an den Breslauer academ. Musikverein bezüglich der „Euryanthe“ (p. 372), an Präger (p. 374) wären ja z. B. hocherwünscht für mich, gäben Sie dieselben‡ nicht nur als Brückstücke | Könnten Sie mir nun gütigst sagen, ob u. wo dieselben vielleicht vollständig gedruckt erschienen, oder ob Sie mir sie oder andere ungedruckte‡ vielleicht zum Copiren verschaffen könnten —, wollten Sie mir auf diese oder jene Weise freundlich dazu verhelfen ein neues schönes Bild von Weber in einer Reihe seiner Briefe zusammenzustellen — wie herzlich dankbar müßte ich Ihnen wiederum sein!
Zum alten warmen Dank für vielfach empfangene Anregungen u.
förderliche Theilnahme würde sich dann ein neuer inniger Dank gesellen; darum
verzeihen Sie gütig alle Bitten od. Fragen Ihrer [Fortsetzung am linken Blattrand:]
Ihnen in treuer Verehrung ergebenen Marie Lipsius.
Apparat
Zusammenfassung
hat während der Arbeiten an der 6. Auflage ihrer ersten Studienköpfe Weber-Fragen: 1. ob Musiol mit seiner Behauptung, dass Webers Jugendwerke nicht im Schrank verbrannt, sondern von ihm selbst vernichtet worden sind, Recht hat; 2. erbittet Urteil zu Benedicts Weber-Biographie; 3. Kantate „Auf, hinaus in’s frische Leben“ bei Kistner von Carl Banck herausgegeben, kann sie nicht identifizieren; 4. möchte eine Ausgabe von Musikerbriefen machen, in die sie auch Weber-Briefe aufnehmen will und bittet um Anregungen, ggf. auch um Kopien
Incipit
„Viele Jahre sind es her, seit wir die letzten Briefe gewechselt“
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Eveline Bartlitz; Joachim Veit
Überlieferung
-
Textzeuge: Stockholm (S), Stiftelsen Musikkulturens främjande (S-Smf), Nydahl Collection
Signatur: Ser. I, Nr. 2365Quellenbeschreibung
- 4 DBl. (8 b. S. o. Adr.)
- am oberen Rand von Bl. 1r von F. W. Jähns: „Autograph von Marie Lipsius, pseud | La Mara. | Sehr verdiente | Musikschrift- | stellerin. | An F. W. Jähns.“
Textkonstitution
-
„den“über der Zeile hinzugefügt
-
„dieselben“über der Zeile hinzugefügt
-
„ungedruckte“über der Zeile hinzugefügt
Einzelstellenerläuterung
-
„… Auflage meiner ersten Studienköpfe vor“Der Bd. 1 (Romantiker) der 6. umgearb. Auflage der Musikalischen Studienköpfe erschien noch 1883.
-
„… v. Carl Bank heraus gegeben“Die Ausgabe war 1879 bei Kistner in Leipzig erschienen (VN: 5448).
-
„… Meistern der Gegenwart, enthalten soll“Die zweibändige Ausgabe Musikerbriefe aus fünf Jahrhunderten erschien 1886 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig.