Aufführungsbesprechung der Oper Euryanthe von Carl Maria von Weber in München am 21. Dezember 1825
Ueber die Oper: Euryanthe,
zum erstenmal aufgeführt auf dem k. Hoftheater zu München am 21.,
wiederholt am 23. Dec. v. J.
Wenn wir aus dem Urtheile der Mehrheit der Kunstrichter ein umfassendes Resultat ziehen, so bringt die klassische Vollkommenheit der Musik in dieser unvollkommenen Zeit, welche nur Rossinischen Sang und Klang kennt, der Oper, und das Undramatisch-Untheatralische der poetischen Bearbeitung den meisten und, was sich auch hier, wie in Wien, ergab, den anhaltendsten Schaden. Wir wenden uns vor allem dem Stoffe und seiner Bearbeitung, in welche sich das Publikum gar nicht finden konnte, zuT. – Frau v. Chezy brachte die alte französische Novelle: Histoire de Gerard de Nevers et de la belle Euriante, sa mie, auf die Bretter. Sie gab sich alle erdenkliche Mühe (lobenswerth, ist diese Mühe nur in so ferne, als sie recht viele und lange Arbeit verursachte), ein poetisch gutes Opernbuch zu schreiben; aber während ihr einzeln Manches gelang, stellt sich eine Reihe von dramatischen Gebrechen auf, und zeigt die Blöße des ganzen Werkes im grellen Umfange. Die Fabel ist folgende; wir entnehmen sie dem Buche, das vor | uns liegt, nicht der theatralischen Darstellung, mit der Niemand ins Klare kommen konnte. Adolar, Graf von Nevers, Sänger und Held, besingt bei einem Friedensfeste, das König Ludwig VI. feierte, Euryanthen als den höchsten Preis der Schönheit und Treue. Dagegen hat Lysiart, Graf von Forest und Beaujolois, ein großes Wort zu sagen; er bringt gegen Frauentreue schneidende Reden an, und wettet endlich sogar um das Erbtheil seiner Väter, er wolle es noch dahin bringen, die gepriesene Euryanthe sein zu nennen. Adolar, schon gleich anfangs bereit, die Treue seiner Schönen mit dem Schwerte zu vertheidigen, läßt sich diese Wette doch gefallen, setzt sein Vermögen daran, und der Vertrag ist mit des Königs Genehmigung auf beiden Seiten geschlossen und gültig. Da thut sich Eglantine hervor, früher von Adolar verschmäht, und hilft dem Feind, der ihr zur Ausführung des Racheplanes nützlich scheint, zu einem scheinbar glücklichen Sieg. Sie ist durch Euryanthe’s übel angebrachtes Vertrauen (uns sind Grund und Veranlassung dieser Plauderhaftigkeit zur Stunde unerklärlich geblieben) in den Besitz eines Geheimnisses gekommen, welches nur Adolar und Euryanthe allein theilten, und von Emma’s Tode, Adolar’s durch Gift getödteter Schwester, Aufschluß gibt. Dem Leichname raubt Eglantine, die wir aus der Familiengruft steigen und sich etwas männlich wild gebährden sehen, einen Ring, welchen sie an Lysiart ausliefert, und der darauf den ganzen Plan der verschmützten List gründet. Adolar glaubt, Lysiart habe das Zutrauen der schönen und treuen Euryanthe im höchsten Grade gewonnen, da er sich überzeugt sieht, das Geheimniß sey durch den Ring verrathen. Nichts ist natürlicher, als Euryanthens Untreue. Selbst dem Könige erscheint sie klar, wie der Tag. Euryanthens Schuld ist ausser allem Zweifel; keinem Menschen fällt es ein, eine Untersuchung einzuleiten, oder nur Fragen zu stellen, wie Lysiart zu diesem Ringe gekommen, und ob er ihn von Euryanthen, als Verrath des Geheimnisses, erhalten, oder sich auf andere Weise angeeignet habe? Da sich Niemand der armen Unglücklichen, die überdies Alles, was man über sie verfügt, geschehen läßt, annimmt, so wird das Uebel noch ärger, und der Sieg größer. Euryanthe wird verstossen, und flüchtet sich, gleich der frommen Genoveva, in einen finstern Wald. Jedermann glaubt sie auch dort gänzlich verunglückt. Lysiart wird in Besitz von Adolars Gütern gesetzt, und soll Eglantinen seine Hand reichen. Da erwacht die Stimme des Gewissens, der Verrath wird entdeckt, Euryanthe, glücklich aufgefunden, erscheint, und mit ihr der frohe Schluß der Oper.
¦„Es muß einleuchten“, schrieb uns ein Freund aus Wien, der im Jahre 1823 diese berühmte Oper daselbst sah, „daß dieser Stoff zur eigentlichen heroischen Oper nicht geeignet ist“ […]*.
Sollen wir uns über die Musik ohne Wortgepränge äussern, so sagen wir, daß Weber technische Vollkommen heit, Strenge im Satz, Beachtung des Charakters und der Situation, dann des harmonischen Baues größtentheils als oberstes Prinzip anerkenne, und die Melodie nur in so fern gelten lasse, als sie aus den intellektuell zusammengefundenen Harmonien von selbst sich ergibt. Vielleicht entwickelt kein neueres musikalisches Werk eine solche Masse imposanter Denkkraft und Gelehrsamkeit, wie diese „Euryanthe“, worin alle möglichen Dissonanzen erscheinen, darunter zwei Drittheile der möglichen Harmonien, und nebenbei zahllose Transitionen der Nuancen. Wunderherrliche, das Innerste ergreifende Melodien strömen aus der Brust des seltenen Meisters, und steigen auf, gleich Leuchtkugeln; aber kaum bemerkt sie der Meister, husch! bläst er darein, und löscht sie aus, und das Auge des Herzens zuckt schmerzlich, und das Ohr findet sich nur zu schwer in andern fremden Ton-Welten wieder zurecht; der innere Zusammenhang liegt zu tief verborgen, und kann oft dem Kundigen nur mittelst des Blicks in die Partitur klarer werden, da dem Ohre keine Ruhepunkte gegönnt sind, und eine nie befriedigte Spannung in sich selbst erschöpft wird. Einzelne Gesangstücke wecken den Enthusiasmus: das Duett Euryanthens und Eglantinens &c., Adolars Recitativ und Arie, das Finale des ersten und zweiten Akts, der Chor der Jäger &c.; dennoch ist der Total-Eindruck nicht befriedigend, und würde es auch nie vollkommen seyn können, selbst wenn die Darstellung die vollkommenste wäre. Man sucht den Grund einer gewissen Unbehaglichkeit, Langeweile (?) in der Länge einzelner Musikstücke und besonders der Recitative. Kürzt sie auch der Meister ab, dem Uebel wird dadurch nicht gesteuert; denn die Langeweile entspringt aus dem – undramatischen Wesen des Buchs (wir fügen noch bei, aus der Unverständlichkeit der Sänger) und aus der leidenschaftlosen Stellung der mehrsten Recitative. Weber hat ein Werk erschaffen, welches ihm und seiner Nation Ehre macht, und auf späteste Enkel übergehen wird, wenn auch weniger auf der Bühne, mehr auf dem Pulte der Schüler und dem Fortepiano der Tonsetzer und der Musikfreunde, als ein praktisches und anschauliches Lehrgebäude, wie viele Bücher es nicht sind*.
Die Darstellung stand auf dem höchsten Grade der Vollkommenheit. Alle Musikstücke wurden von Applaus begleitet; die obengenannten ausnahmsweise mit verstärktem. Das Duett Euryanthens und Eglantinens und der Chor der Jäger mußten wiederholt werden. Der Hochzeitmarsch, den ein Referent aus Darmstadt ein wahres Chaos von Dissonanzen* nennt, und die Ouverture, eine undankbare Composition, wurden noch nicht begriffen. Der höchste Ruhm ge¦bührt den Chören. Dlle. Sigl, Euryanthe, gefiel nicht allein durch Gesang, sondern auch durch ihr wahrhaft schönes tragisches Spiel.
Apparat
Entstehung
–
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Bandur, Markus
Überlieferung
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Textzeuge: Flora. Ein Unterhaltungs-Blatt, Jg. 1826, Nr. 1 (1. Januar), S. 4–6
Themenkommentare
Einzelstellenerläuterung
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„… heroischen Oper nicht geeignet ist“
Hier folgt eine längere (etwas gekürzte) Paraphrasierung des Textes zur Wiener Uraufführung aus der Flora von 1823, der bereits bei der Inhaltsangabe als Vorlage erkennbar ist.
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„… viele Bücher es nicht sind“
Dieser Gedanke ist dem Text aus dem Gesellschafter entnommen.
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„… ein wahres Chaos von Dissonanzen“
Vgl. die Originalformulierung.