Besprechung der Euryanthe-Neueinstudierung am Théâtre lyrique in Paris in der Bearbeitung von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Adolphe de Leuven am 1. September 1857

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Pariser Briefe.

Ich bin im Rückstand – aber was kann man thun, wenn die ganze pariser Musik im Rückstand ist? Doch davon nächstens. Heute berichte ich nur über das Neueste, und das ist ein Ereigniss: Weber’s Euryanthe in Paris.

Bisher kannte man hier aus dieser Oper nur die Ouvertüre, ein Stück aus dem Finale des ersten Actes und den Jägerchor. Diese drei waren der Ehre der Aufnahme in das Repertoire der Conservatoire-Concerte für würdig gehalten worden; unwürdig war es aber, dass man sich erlaubt hatte, den Jägerchor mit Zusätzen zu verbrämen. Nur in wenige Kreise einzelner Künstler oder Dilettanten ernster Richtung war der Clavier-Auszug gedrungen, den Brandus mit deutschem und französischem Texte (letzterer in recht guter Uebersetzung von Maurice Bourges) herausgegeben hatte.

Da sah sich das Théâtre lyrique bei der Armuth im Vaterhause nach der Fremde um. Man erinnerte sich eines gewissen Carl Maria von Weber aus dem Lande „der Träume, des Magnetismus, des Somnambulismus“, man holte den Freischütz wieder hervor und machte ihn zurecht für die Pariser; man wagte sich an den Oberon, machte auch ihn zurecht, und die Pariser staunten und jauchzten. Mittlerweile hatte auch in Concerten die Musik zur Preciosa entzückt – was war natürlicher, als dass die Direction des genannten Theaters auch zur Euryanthe griff, die allein noch übrig war?

Aber du lieber Himmel! eine so düstere, melancholische, sentimental-absurde Geschichte mit der wimmernden Unschuld und der grossen Schlange in natura auf einer pariser Bühne? Nichts Pikantes, nichts Frivoles, nichts Lustiges, nichts Komisches zur Abwechslung darin, und der ¦ Ernst noch obenein sehr dumm! Was sollte man damit? Hier galt es, einen kühnen Derangeur zu finden, um das lyrische Drama zu arrangiren. Er fand sich; Herr de Saint Georges bebte nicht vor der Aufgabe zurück, de Leuven* reimte die nöthigen Verse dazu, und siehe da! Am 1. September wurde zum ersten Male in Frankreich aufgeführt: Euryanthe, Opera fantastique en 3 actes et 5 tableaux de Weber*.

Eine phantastische Oper? Was ist denn Phantastisches an der Euryanthe? – Ei, was nicht darin ist, das macht man hinein. Die Franzosen können sich nun einmal unseren Weber nicht anders als diabolisch und phantastisch denken – Alles muss Wolfsschlucht sein. Sein Concertstück, sein Duo für Clavier und Clarinette, Alles heisst in Paris phantastisch. Wie hätte vollends eine Oper diesem stehenden Prädicat entgehen können? Da nun aber in der deutschen Euryanthe nichts von Zauber und Geisterspuk zu finden, so musste Uebersinnliches, Aussernatürliches, Zauberei, Zigeunerei, Schattenspiel und Teufelei hinein arrangirt werden. Ohne dieses kein Publicum, kein Heil für Weber in Paris. So entstand denn die französische Euryanthe in folgender Gestalt.

Der Ritter Odoard (Adolar) liebt Euryanthe; der Herzog, dem er das Leben gerettet, hat den Tag der Vermählung bereits festgesetzt, Graf Reynold (Lysiart), der verschmähte Nebenbuhler, sprüht Zorn und Rache. Zur Helfershelferin verbündet sich Zarah mit ihm. Zarah? Wer ist das? Das ist Eglantine, oder vielmehr, das war Eglantine; jetzt ist sie eine orientalische Hexe im Zigeuner-Costume. Odoard-Adolar hat sie aus Palästina mitgebracht, sie liebt ihn und will Euryanthe verderben. Obwohl sie das auf geradem Wege thun könnte, da sie sich mit dem Fürsten der Hölle sehr gut steht, so zieht sie doch aus menschlicher Liebhaberei die Intrigue vor. Sie flösst dem Reynold- ¦ Lysiart den Vorschlag der teuflischen Wette ein. Zu diesem Zwecke ist Lysiart’s grosse Arie und sein Duett mit Eglantine-Zarah aus dem zweiten Acte in den ersten verlegt; beide Stücke folgen gleich auf Adolar’s Romanze.

Die Wette geht nun wie in der deutschen Oper in Scene. Aber Reynold-Lysiart ist noch eben so schlimm daran, wie früher; denn er weiss wohl, dass er an Erhörung bei Euryanthe nicht denken darf. Da erzählt ihm Zarah die Geschichte von einer babylonischen Prinzessin, welche ein Mal in Gestalt einer wilden Rose auf der Brust gehabt habe. Reynold findet das allerdings sehr wunderbar, begreift aber nicht, was das ihm helfen solle. – „Wie, Ihr merkt nichts?“ Und nun raunt sie ihm ins Ohr, dass auch Euryanthe ein Blumenmal auf der Brust habe, was Niemand ausser ihr wisse. Mit diesem Geheimnisse bewaffnet, müsse er die Wette gewinnen und das glückliche Paar verderben. „Ha! wenn das wahr wäre!“ ruft Reynold aus. „Du zweifelst? So glaube deinen eigenen Augen!“ Auf ihren Zauberwink schwindet die Wand, und sie stehen in Euryanthe’s Schlafgemach; sie ruht in tiefem Schlafe auf ihrem Lager – Reynold schleicht hinan, hebt die Decke von ihrem Busen und überzeugt sich mit dem ganzen Publicum von der Wahrheit des Geheimnisses!

Da hast du das Pikante in der frechsten und obenein unnützesten Weise, weil das ganze Tableau nach der Erzählung der Zigeunerin höchst überflüssig ist. Man begreift, was diese nichtswürdige Scene in dem Finale, wo nun die Sache zur Sprache kommt und der Beweis von Euryanthe’s Schuld verlangt wird, für neue Widrigkeiten veranlasst. So etwas Empörendes und zugleich abgeschmackt Dummes hat denn doch bei allen seinen Mängeln der deutsche Text nicht; auch würde es ein deutsches Publicum nicht ertragen. Doch still! wer weiss, ob es nicht irgend einer Intendanz in Deutschland einfällt, Weber’s Euryanthe nach der französischen Bearbeitung wieder auf das Repertoire zu bringen?! Käme sie ja doch aus Paris!

Nachdem nun das arme Kind, vom Feuerroth der Schaam übergossen, die brutalen Anspielungen und die klobigen Vorwürfe der Hofleute, die sich wie eine Soldatesca benehmen, eine Weile hat anhören müssen, wirft sich endlich Odoard-Adolar doch zu ihrem Ritter auf, zeiht Reynold des Truges und Verraths und fordert ihn auf Tod und Leben.

Reynold, dem der Dichter auch sogar die rohe Tapferkeit abstreift, damit er als ein vollkommener Lump erscheine, nimmt in seiner Feigheit wiederum Zuflucht zur Zigeunerin. Diese lässt aus der Erde einen vollständigen ¦ Schmiede-Apparat emporsteigen, Geister in Zigeunertracht umkreisen den Amboss und schmieden vor Reynold’s Augen ein Zauberschwert, dem nichts widerstehen kann und das, wie die Freikugeln immer treffen, eben so niemals fehl haut. Dabei mangelt es nicht an der Ruine einer alten Capelle, einer Thurmuhr, deren Zifferblatt sich plötzlich von selbst erleuchtet und Mitternacht zeigt; der Föhrenwald rauscht, Fledermäuse schwirren durch die Luft, geflügelte Eidechsen und Kröten folgen, die Eulen glotzen – kurz, die ganze Bevölkerung der Wolfsschlucht ist erstanden, aber Alles ohne Musik, da Weber nicht daran gedacht hat, solch tolles Zeug in die Euryanthe zu bringen.

Reynold stellt sich im Vertrauen auf seinen Freidegen frech zum Gottesurtheil. Der Kampf soll beginnen, als der Herzog oder König erscheint. Zur rechten Zeit hat Zarah eingesehen, dass es doch ein Jammer wäre, wenn dem tapferen Odoard-Adolar, den sie immer noch liebt, durch einen solchen Lump wie Reynold der Kopf gespalten würde. Sie hat dem Fürsten Alles entdeckt, und dieser gebietet, um sich zu überzeugen, dass die Kämpfer nach alter Sitte die Schwerter tauschen sollen. Während Odoard das seinige dem Gegner arglos hinreicht, bricht dieser im Bewusstsein der Schuld und des sicheren Todes durch sein eigenes Schwert wie vernichtet zusammen und gesteht Alles. Schluss: „0 Seligkeit, ich fass’ dich kaum“— „viens sur mon sein, viens sur mon coeur“ Zarah hat sich schon längst in der Stille gedrückt, und Reynold lässt sich geduldig von Knappen abführen. Man begreift freilich nicht, warum er mit dem Freidegen nicht Alles niederhaut und den Adolar zuerst; aber wer wird auch Alles begreifen wollen!

Doch halt! wir sind noch nicht fertig. Das Lüsterne und der Hexenspuk ist, wie wir gesehen haben, glücklich in die Oper hinein prakticirt worden; allein das Komische? Auch dafür haben die Herren Derangeurs gesorgt. Sie geben der Euryanthe ein Kammermädchen, Berneretta, und den beiden Nebenbuhler-Rittern zwei Schildknappen, Hector und Lancelot, die beide in das Kammermädchen verliebt sind. Das ist nun zwar nicht neu, auch gleichen sich die beiden Spassmacher, wie ein Ei dem anderen; aber das Parterre lacht über sie, und es ist— nach einem hiesigen Kritiker – kein geringes Verdienst der Dichter (?), dies „in einem so finsteren Drama und bei einer so düsteren Musik“ erreicht zu haben. „Wir brauchen jedoch“ – fährt er fort – „wohl kaum zu sagen, dass sie nicht singen, denn Weber’s Musik hat einen zu entschiedenen Charakter, als dass sich ihr Ausdruck und ihre Farbe willkürlich Die|sem oder Jenem anpassen liesse. Da das komische Element von dem deutschen Verfasser ganz und gar vernachlässigt worden (!), so fand sich in der ganzen Partitur kein Tact, den man einer komischen Person hätte in den Mund legen können. Alles ist darin ernst. Wenn der Componist auch hier und da von seinem strengen Stil abweicht, so lässt er sich doch höchstens bis zur Anmuth herab, und selbst diese bleibt fast immer noch etwas melancholisch.“

Das ist denn also die pariser Euryanthe! Niemand wird den Text der Frau von Chezy für ein gutes Drama erklären wollen; allein wenn die hiesigen Blätter sagen, dass Herrn St. Georges & Comp. Machwerk zwar kein Racine’sches Drama, aber mit dem deutschen Buche verglichen ein Meisterstück sei, so ist das eine von jenen Behauptungen in die Luft hinein, welche die französischen Feuilletonisten nach altem unverschämtem Brauche ihren Nachbarn gegenüber noch immer nicht lassen können. Die Leser werden sich aus der gegebenen Skizze überzeugt haben, um welchen Preis unsere allerdings etwas langweilige Euryanthe in Paris zu einer kurzweiligen gemacht worden ist.

Man ersieht aus dem Gesagten, dass die französische Euryanthe eine Oper mit Dialog ist. Weggeschnitten sind also aus der Partitur alle Recitative, auch die Erzählung von dem Ringe und der Erscheinung Emma’s, so dass das Violinen-Adagio in der Ouvertüre eigentlich keinen Sinn mehr hat. Sonst sind alle Musikstücke beibehalten, zwar hier und da, wie oben schon erwähnt, an andere Stellen gesetzt und auch zuweilen mit unglücklichen Verstümmelungen, namentlich an den Schlüssen. In Adolar’s Romanze hat man auch den dritten Vers weggelassen, was mit Recht von einem musicalischen Blatte getadelt wird, weil Weber zu der dritten Strophe eine ganz andere Begleitung geschrieben habe.

Trotz alledem hat Weber’s Musik doch eine solche innere Kraft, dass sie auch hier wieder einen offenbaren Sieg über alle Hemmnisse davongetragen hat. Wenn auch der Beifall im vorigen Jahre beim Oberon enthusiastischer war, so hat Euryanthe doch auch einen sehr erfreulichen, ja, in mancher Hinsicht glänzenden Erfolg gehabt. Nach dem ersten Acte wurden Odoard (Michot) und Euryanthe (Mademoiselle Rey) gerufen. Im zweiten Acte wurden die Couplets in A-dur mit dem Chor-Refrain, im dritten der Jägerchor da capo verlangt. In diesem letzteren war die Fermate auf dem des eine sehr ungeschickte und ärgerliche Neuerung; so etwas kann nur in Paris vorfallen. Eben so widrig war die Zerrung des tiefen cis in die Breite durch ¦ Mademoille Rey am Schlusse der Läufe in dem bekannten Finale. Der Tenor und der Bass (Herr Balanque) hatten ihre Partieen besser aufgefasst. Auch fehlt es der Rey an Leichtigkeit der Coloratur und doch auch wieder an Kraft der Stimme. Recht gut war Mademoiselle Borghese in der Partie der Zarah-Eglantine. Die Chöre und das Orchester waren verstärkt, Ausstattung und Decorationen vortrefflich. Dennoch kann man die Ausführung im Ganzen aus deutschem Gesichtspunkte nur als eine mittelmässige bezeichnen. Hoffentlich werden die späteren Vorstellungen die herrliche Musik genauer (auch im Orchester) wiedergeben und die Sänger sich mehr in den ihnen freilich ganz fremden Geist dieser Partitur hineingesungen haben.

Es dürfte für die deutschen Verehrer Weber’s nicht ohne Interesse sein, Urtheile französischer Kritiker über die Musik der Euryanthe zu lesen.

Leon Durocher sagt in der Gazette & Revue musicale* unter Anderem über die Ouvertüre: „Sie ist nicht so melodieenreich, wie die Ouvertüren zum Freischütz und zum Oberon. Man findet nur zwei Gesang-Motive darin; das erste hat eine ungemeine Entschiedenheit und Energie, das zweite, aus einer Tenor-Arie des zweiten Actes, ist voll Adel, Leben und Feuer. Diese Melodie reisst hin und würde noch mehr begeistern, wenn sie eben so gelungen endete, als sie beginnt. Alles Uebrige ist Arbeit, geschraubt, mühsam, manchmal ziemlich confus; es macht fast glauben, dass Weber mehr Phantasie als musicalisches Wissen und Können hatte. Wie weit entfernt ist diese fieberhafte Unruhe bei contrapunktischer Arbeit von dem leichten und sicheren Gange, der heiteren Ruhe, der durchsichtigen Klarheit Mozart’s!“ (Das Publicum verlangte jedoch die Wiederholung der Ouvertüre.)

„Die Arie Reynold’s (Lysiart’s) ist lang oder scheint wenigstens lang. Sie ist nicht sehr melodisch, es ist mehr Declamation als Gesang darin. Das Orchester ist nicht ganz klar, was sonst bei Weber selten der Fall ist.“ (Dies lag an der Ausführung, die nichts weniger als präcis und deutlich war.) „In dem Duett mit Zarah (Eglantine) sind Effecte von wahrhaft höllischer Energie und prächtige Modulationen. Selten hat Weber so viel Kraft, als hier. Dasselbe gilt von der grossen Scene der Wette, in welcher das herrliche Motiv, mit welchem die Ouvertüre beginnt, die Hauptrolle hat.“

„Die kleine Cavatine, mit welcher Euryanthe auftritt, scheint uns mit ihrem schönen Ritornel eines der am glücklichsten erfundenen Stücke der Partitur zu sein. Man kann sich nichts Sanfteres, Frischeres und doch Träumerischeres | und Sehnsüchtigeres denken. Diese kurze Nummer allein beweis’t, dass Weber ein grosser Dichter war. – Das Duett zwischen Euryanthe und Eglantine ist von wunderbarer Zartheit und Feinheit; wir wissen ihm nichts zu vergleichen, als das köstliche Finale des ersten Actes, wo Euryanthe über dem Chor und mit den Flöten des Orchesters im Gespräch ihr Glück und ihre Freude in einer so einfachen, reizenden, natürlichen und originellen Melodie ausdrückt. Es gibt nicht viele so neu und so glücklich erfundene Actschlüsse.“

„Von der Cavatine Adolar’s im zweiten Acte haben wir schon bei der Ouvertüre gesprochen. Sein Duett mit Euryanthe ist voll von zarter und leidenschaftlicher Melodie. Die Modulation geht auf überraschende Weise in entfernte Tonarten, ohne jedoch der Einheit des Ganzen zu schaden. Das Hauptmotiv wird von E-dur nach C mit unvergleichlicher Kühnheit und Geschicklichkeit zurückgeführt, und der Schluss ist entzückend schön. – Dagegen scheint uns das Finale weniger gelungen. Das vierstimmige Larghetto mit Chor macht nur geringe Wirkung; die Melodie hat zu wenig entschiedenen Charakter, und so tritt sie nicht genug aus der Harmonie hervor. Die Stretta, wo die ungalanten Ritter über die arme Euryanthe herfahren, ist hart und brutal, wie die ganze Situation, welche der Componist vielleicht nur allzu treu geschildert hat“ u. s. w.

„Trotz alledem ist die Partitur der Euryanthe doch weniger vollkommen und nicht so glücklich inspirirt als der Oberon und vollends der Freischütz. Die Melodieen sind sparsamer vertheilt und nicht so hervorstechend. Declamation, gesuchte und sonderbare Harmoniefolgen treten weit öfter an ihre Stelle. Der Componist zeigt auch hier stets dasselbe Talent in der Behandlung des Orchesters— einer Kunst, in welcher er fast keinen Nebenbuhler hat; allein er wendet dieses wunderschöne Colorit auf Gemälde an, deren Motive und Zeichnung nicht so anziehend sind, als es sonst bei ihm der Fall ist.“

Ein Herr L. Minot verläuft sich in der France Musicale mehr in schwülstige Redensarten, als dass er etwas Bezeichnendes sagte. Er kann sich von der wunderlichen Einbildung der Franzosen, dass Weber’s Sache eigentlich nur das Phantastische sei (vom Romantischen haben sie keinen Begriff), nicht frei machen, „hüllt seinen Charakter in einen düsteren und neidisch melancholischen Schleier, wesshalb seine Gedanken auf der Opernbühne selten durchsichtig wären, man müsse ihre Lichtseite nicht in der Partitur, sondern in der Person des Componisten suchen, und andere Faseleien mehr. ¦

Dagegen geisselt H. Berlioz in den Débats* zuvörderst jene verkehrte Manie der Franzosen, Alles in bestimmte Kategorieen einzupferchen, woraus denn auch das Vorurtheil entsprungen sei, dass Weber nur gross in dem Geisterhalten, Phantastischen, Diabolischen sei. Darauf gibt er eine ausführliche Analyse der deutschen Euryanthe, wie sie Frau von Chezy gedichtet und Weber componirt hat, wodurch die pariser Leser einiger Maassen in Stand gesetzt werden, zu vergleichen. Ueber die Musik sagt er am Ende unter Anderem Folgendes:

„Nichts desto weniger hat Euryanthe einen schönen Erfolg gehabt, den sie dem Werthe der Musik und der sorgfältigen Inscenesetzung verdankt. Die Ouvertüre zeichnet sich besonders durch die Kraft des Rhythmus und die Lebhaftigkeit der leidenschaftlichen Betonung aus. Das schneidet ein, leuchtet und zündet; es ist ein elektrisches Musikstück. Der erste Chor ist voll Adel und ritterlichem Schwung. Nichts ist lieblicher als die Romanze Adolar’s; ihre Melodie ist einfach und einnehmend, die Begleitung wahrhaft poetisch. Die Scene der Wette macht stets – auch in den Conservatoire-Concerten – eine gewaltige Wirkung; das ist stolz, feurig, drangvoll und reich entwickelt. In Euryanthe’s Cavatine findet man die ganze Zartheit und jungfräuliche Anmuth der Gebete Agathens wieder. Dagegen zeichnet sich die Partie der Eglantine durch eine stürmische Heftigkeit aus, welche auf höchst dramatische Weise mit dem sanften Charakter der Euryanthe contrastirt. Derselbe Gegensatz findet sich bei Lysiart und Adolar wieder. In Lysiart hört man hier und da den Nachklang der wilden Weise Caspar’s im Freischütz, jedoch ohne irgend buchstäbliche Reminiscenzen; übrigens ist die Form seiner Musikstücke viel breiter angelegt als in allen anderen Nummern, auch das Orchester greift dabei weit mehr ein, als sonst irgendwo. Daher denn auch das furchtbare Leben in seinem Duett mit Eglantine, in welchem die düstere Wuth dieser beiden Charaktere wunderbar geschildert ist. Ich weiss nicht, ob das Duett der beiden Liebenden in der anmuthigen Gattung eben so hoch zu stellen ist, und ob der Stil desselben sich auf derselben Höhe hält. Der Bauernchor mit dem Sopransolo und der Jägerchor konnten natürlich nicht verfehlen, die Zuhörer zu entzücken“ u.s.w.

Berlioz, der sich übrigens über den deutschen Text mit der grossen Schlange eben so lustig macht, wie über die französische Zurechtmachung (remaniement), schliesst mit den Worten: „Da haben wir wieder einmal einen musicalischen Erfolg, der ganz Paris nach dem Théâtre lyrique ziehen wird.“ B. P.

Apparat

Zusammenfassung

Rezensent verweist zuerst auf die veränderten Rollennamen und inhaltliche Veränderungen gegenüber der deutschen Oper, danach folgt Beurteilung der musikalischen Darbietung; des Weiteren zitiert er Aussschnitte aus der französischen Besprechung aus der Revue et Cazette Musicale de Paris und aus einer Besprechung von Berlioz in den Débats

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Eveline Bartlitz

Überlieferung

  • Textzeuge: Niederrheinische Musik-Zeitung für Musikfreunde und Künstler, Jg. 5, Nr. 37 (12. September 1857), S. 289–292

Textkonstitution

  • „Mademoille“sic!
  • Gazette & Revue musicalesic!

Einzelstellenerläuterung

  • „… der Aufgabe zurück, de Leuven“Adolphe de Leuven, eigentlich Comte Adolphe de Ribbing, Pseudonym auch Grenvallet (1800–1884), französischer Theaterdirektor und Librettist.
  • „… et 5 tableaux de Weber“G. Meyerbeer besuchte die Vorstellung am 3. September, vgl. Giacomo Meyerbeer, Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 7, S. 227.
  • „… der Gazette & Revue musicale“Vgl. Revue et Gazette Musicale de Paris, 24. Jg., Nr. 36, 6. September 1857.
  • „… H. Berlioz in den Débats“Vgl. Feuilleton du journal des débats (8. September 1857), S. 1.

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