Korrespondenz-Nachrichten Dresden: 29. April – 16. Mai 1818
Dresden. Die italien. Gesellschaft liess uns am 29ten April zum erstenmale die Oper Paolo e Virginia hören, welche vom jüngern Guglielmi im Carneval 1816 für das Theater Fiorentini in Musik gesetzt worden ist. Am 2ten May wurde sie wiederholt. Der anziehende Gegenstand derselben ist aus einer Novelle des Abbé Bernardin de St. Pierre genommen, von Joseph Diodati in eine Oper mit Recitativen in Prosa verwandelt, und hier von Celani metrisch bearbeitet worden. Dort machte diese Oper grosses Aufsehen; und auch hier gefiel sie nicht wenig. Die Musik stimmt mit der Dichtung sehr wohl überein; es befinden sich auch im Einzelnen sehr anziehende Stücke darin; die Singstimmen sind melodisch und mit Einsicht geschrieben: nur die Instrumental-Musik ist ziemlich schwach. Und da man nun einmal an Fülle und Ausarbeitung des Orchesters, wol auch an Getöse der Pauken und Trompeten gewöhnt ist: so muss diese Musik etwas ärmlich erscheinen, vornämlich im ersten Act, der aber auch außerdem der schwächere Theil ist. Doch benimmt jene Leere des Instrumentale dem Schönen, das man in der Vocalmusik hört, nichts. Auch ist zuzugestehen, dass Hr. G. die Regeln der ¦ Modulation nicht so genau beobachtet hat, wie es die Lehre von der Harmonie erfordert: seine Accorde sind sogar nicht immer richtig: die meisten jungen Tonsetzer verfallen aber aus Vernachlässigung des Studiums der Harmonie und Mangel an Nachdenken über die Gesetze der Kunst, bekanntlich sehr oft in diesen Fehler. J. J. Rousseau sagt, in Rücksicht auf die Modulation: Ces lois sont simple à concevoir, mais difficiles à bien observer. Diese Herren scheinen sich an das Erste allein zu halten. Ein anziehendes Stück dieser Oper ist das Terzett im ersten Acte, wo Simon dem Paul und der Virginie Vorwürfe macht, dass sie sich vom älterlichen Hause entfernt und in den Wald vertieft haben. Hier drückt die Musik Simons Mitleid, als er die beyden jungen Leute zu seinen Füssen sieht, so schön aus, dass sie des ganzen Publicums Theilnahme erweckt. Eben so ist es im Quartett, wenn beyde wieder nach hause kommen, wo Virginie ihren weinenden Vater und Paul seine trostlose Mutter erblickt. Diese Scene ist wirklich mit Geist und Gefühl geschrieben. In der Tenor-Arie in B dur herrscht ein schönes Cantabile mit Solo-Begleitung der Klarinette, welche Hr. Kammermusic. Rothe mit dem schönsten Ausdruck blies. Dies Stück ist nach dem Systeme geschrieben, das der alte Guglielmi, Sacchini, Cimarossa und Andere befolgten. Die Arie der Virginia im 2ten Acte (D dur) ist vom unsern Meister, F. Schubert, in Musik gesetzt, und ein ausdrucksvolles, sehr melodiereiches und anziehendes Agitato; sie wurde nach Verdienst, mit dem lautesten Beyfall aufgenommen. Das grosse Duett zwischen Paul und Virginie, mit den Worten: Qual tremore etc. ist originell. Besonders macht die Musik bey der Stelle: Ah! non posso, non mi fido! tiefen Eindruck; so auch im Andante: „Tua dolce immagine conserverò“ Ueberraschend war die Wirkung, den ein so unschuldvoller Gesang und die Instrumental-Begleitung bey Entfaltung dieser beyden jugendlichen Charaktere machte. Das Einzige, was man etwa daran auszusetzen hätte, wäre die Stretta des letzten Allegro, welche dem Uebrigen nicht ganz entspricht. Die grosse Scene der Abreise Virginiens, welche den 2ten Act beschließt, ist ein wirksames, theatralisches Stück. Sie enthält keine Volaten, aber dafür eindringende Empfindung, wie sie Kunst erheischt, eine schöne Declamation in den Recitativen, u. im letzten Allegro ¦ ein braves Agitato mit Hörner-Begleitung, wo Virginie ihre Trostlosigkeit ausdrückt, dass sie den Paul und ihre Verwandten verlassen muss. Auch dies wurde vom Publicum nach Verdienst erkannt und mit lebhaftem Beyfall belohnt. Anziehend ist im 5ten Acte Pauls Scene, wo sie auch der durch Instrumental-Musik und Chöre ausgedrückte Sturm, in dem Augenblick, wo das Fahrzeug sich verliert. – So ist denn diese Oper eins von den kürzlich aus Italien gekommenen Producten, das weit mehr Vergnügen gewährt, als il Turco in Italie, le Lagrime d´una Vedova, la Testa di Bronzo und dergleichen; vornämlich wird wol, weil die Dichtung anziehend, und die Musik vollkommen dazu passend ist. – Dem. Carolina Benelli erwarb sich neuen, lebhaften und verdienten Beyfall in Virginiens schwerer Rolle. Sie zeichnete sich vorzüglich im 2ten Aufzuge in Schuberts Arie aus, die sie in jeder Hinsicht trefflich ausführte. Im oben beschriebenen schönen Duett verstand sie es, das Herz zu rühren; so auch in der Abschiedsscene. Ihr Gesang war da ein anhaltendes und bis zum Augenblick der Trennung schön durchgeführtes Crescendo. Ueberhaupt hatte sie den Charakter sicher u. gut gefasst; sang einfach, zart und eindringlich. Ohne leere Schnörkeleyen und Trillereyen. Besonders finden wir – am rechten Ort – ihr mezzo forte sehr angenehm, und ihre hohen Töne hell und rein. Macht sie ferner so rühmliche Fortschritte, wie seit Jahr und Tag: so kann sie eines ausgezeichneten Beyfalls hier für immer sicher seyn: denn wahrhaftig, man weiss hier das Gute zu schätzen. –
Mad. Mieksch gab Pauls Rolle schön, und sang mit Genauigkeit, Eifer und Gefühl. Hr. Benelli sang die lobenswürdige Arie des 1sten Acts: Và lusingando amore etc. um so wirksamer, da sie ganz für seine Stimme passte. Die schöne und lebendige Action des Hrn. Benincassa glänzten vorzüglich in dieser Oper. Ueber Hrn. Decavanti, als Gouverneur, sagen wir nichts, als dass sein Costüme zu wunderlich und nicht für jene Zeiten war. – Alles wurde übrigens sehr gut ausgeführt, und man hatte nichts gespart, was der Vorstellung vortheilhaft war. Die zweyte Vorstellung gelang noch besser; auch der Dem. Benelli. –
Am 9ten hörten wir eine sehr anziehende und kraftvolle Wiederholung der Vestale; den 11ten, die vornehmen Wirthe; (vergl. No. 44, S.755 im vorig. Jahrg.;) und am 16ten wurde Mehuls, Jacob und seine Söhne, wiederholt. (Vergl. No. 10, S. 182 des vorig. Jahrg.s) Wir fügen hier hinzu, dass Hr. Bergmann, als Joseph, im Gesange grosse Fortschritte zeugte; so wie auch sein Spiel diesmal ungezwungener war. Was jenen anlangt, so gestehen wir ihm mit Vergnügen zu: er übertraf sogar die beyden ziemlich berühmten Fremden, die in dieser Rolle hier aufgetreten sind – Hrn. Weixelbaum und Hrn. Stümer. Hr. Delker‡, vom hessen-darmstädtisch. Theater, debütirte als Jacob. Er besitzt eine Bassstimme von großem Umfang, und die nicht nur stark, sondern zugleich wohlklingend ist. Am schönsten sind seine tiefen Töne: die hohen aber sind, wenn er sich anstrengt, Kehltöne, dabey aber doch sehr angenehm. Auch bindet er Ton mit Ton sehr gut. In Hinsicht der Kunst freyerer Ausführung, und des Spiels, können wir ihn, da er zum erstenmale hier auftrat, nicht wol beurtheilen, indem diese Rolle zu beydem kaum einige Gelegenheit giebt. Einige Unsicherheit, besonders vom Anfange, war wol nur Folge von Schüchternheit, vor einem ihm fremden Publicum aufzutreten.
Man hat hier Hrn. Benelli’s Bemerkungen* über die Missa des Hrn. Kapellm. Carl Mar. v. Weber mit vielem Interesse gelesen, und überdacht, gründlich und gerecht gefunden. Auch ich ¦ habe mich darüber gefreuet, dass ein Mann über dies Werk geschrieben hat, den, ausser den nöthigen geistigen Erfordernissen, auch die Partitur zur Hand war; wessen ich mich nicht zu erfreuen hatte. Dass wir im Wesentlichen unsrer Urtheile zusammentrafen, haben Sie selbst in der Anmerkung erwähnt; und so bleibt mir nichts hinzuzusetzen.
Am 1sten May gab Frau von Biedenfeld mit Beystand der königl. Kapelle im königl. Theater eine musikalisch-declamatorische Akademie, welche aus folgenden Stücken bestand; Erster Theil. 1. Ouvertüre aus der Oper, der Beherrscher der Geister, von C. Mar. von Weber, in D moll, von ihm selbst dirigirt. Diese charakteristische, wirksame Musik, voll Geist, Feuer und harmonuscher Kunst, erhielt, in Composition u. Ausführung, den verdienten allgemeinen Beyfall. 2. Declamation. 3. Scene und Arie aus der Oper Bathmendi, in B dur, vom Freyherrn v. Lichtenstein, ges. von Frau v. B. Sie sang sehr brav, und erhielt grossen Beyfall: die Composition ist kein hohes Kunstproduct. 4. Der Taucher von Schiller, mit melodramatischer Musikbegleitung von Fr. Uber: ein schönes Musikstück zur Begleitung und Erhebung der Declamation, ausgezeichnet vornämlich durch treffliches Auffassen der Dichtung und reiche, bedeutende Harmonie. Auch einige malerische Scenen sind von viel Wahrheit und Kraft. Nur ist vielleicht hin und wieder der Musik etwas zu viel, und an einigen Orten die Stimme des Declamators zu bedeckt. Hr. Hellwig fand, so wie der Componist, lauten Beyfall. Zweiter Theil: 1. Variation für die Violine, comp. und gesp. vom Hrn. Concertm. Polledro. Dieses schon längst gedruckte Stück ist als eine reizende und melodiereiche Musik bekannt, und der berühmte Künstler spielte an jenem Abende, besonders bey der Folge, so trefflich, dass er alle Zuhörer entzückte; welches Entzücken sie denn auch laut genug an den Tag legten. 2. Arie alla Polacca in B dur, von Marchesi, ges. von Fr. v. B. 3. Declamation. 4. Quartett von Nicolini in Es dur, ges. von Frau v. B. und den Hrn. Tibaldi, Decavanti und Benincassa. – Am 3ten liess uns Dem. Coda, die von Prag nach Berlin ging, nach dem ersten Aufzuge des Schauspiels, der Rothmantel. Eine grosse Scene aus Semiramide von Portogallo, mit den Worten: per queste amare lagrima, hören, und nach dem 2ten Aufzuge ¦ sang sie, nach Art der Mad. Catalani, Variationen auf: Nel cor più non mi sento. Wir fanden in ihrer Stimme nicht, wie irgendwo von Prag aus zu lesen ist, eine Extension von beynahe drey Octaven; dazu fehlte viel: sie sang vom tiefen B bis ins hohe D – was allerdings genug ist; aber man muss nur die Wahrheit sagen! Der Ton ihrer Stimme ist stark und metallisch: aber ihre tiefsten Töne sind nicht die schönsten, sondern ein wenig Nasentöne; die hohen sind nicht deutlich, ausser wenn sie in einer Fermate aushält. Ihre Volaten sind geschmeidiger im Steigen, als im Fallen; ihre Aussprache neigt sich mehr nach der französischen, als italienischen, und in ihrer Manier zu singen zeigt sie weder Gefühl, noch was man chiaro oscuru nennt: ihr Gesang hat nur Eine Form. Man rühmte ihre schönen Triller: wenigstens bringt sie sie so häufig an, dass sie lästig werden. Sie gleicht einem Instrumente, das mit vieler Geschicklichkeit, aber ohne Seele, gespielt wird.
Editorial
Creation
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Responsibilities
- Übertragung
- Blümer, Simon
Tradition
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Text Source: Allgemeine Musikalische Zeitung, Jg. 20, Nr. 23 (10. Juni 1818), col. 418–422