Chronik der Königl. Schaubühne zu Dresden vom 11. Dezember 1817 (Teil 1 von 2)

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Am 11. December. (Zum Schlusse der deutschen Bühne auf dies Jahr) zum erstenmale: Die Waise und der Mörder, Melodrama in drei Akten, Musik vom Kapellmeister Ignaz von Seyfried.

Mensch, tödte den Crösus nicht! So rief einst, als er das gezückte Schwert des Mörders über seinen Vater erblickte, der bis dahin der Sprache beraubte, doch nicht taubstumme Sohn des Crösus, da Entsetzen seine Zunge lösete. Die Geschichte steht beim Herodot. Der Fall hat sich nicht bloß in der heiligen Geschichte wiederholt. Dieselbe Erscheinung zeigte sich im Jahre 1621 in den Thälern von Bigore an den Pyrenäen und bildete einen merkwürdigen Rechtsfall, der in der Fortsetzung zu Pitavals Causes celèbres erzählt wurde, ein willkommenes Thema für eine der kleineren Bühnen in Paris. Frederic bearbeitete sie dafür. Aus Paris wurde dieses Stück nach einer deutschen Bearbeitung, die Castelli’s Namen an der Stirne trägt, auf die Wiener Bühne verpflanzt. Der geniale Seyfried erwarb sich das Verdienst, die Rolle des Stummen durchs ganze Stück mit einer von ihm gesetzten Musik zu begleiten. So kam es auch auf die Dresdner Bühne, wo es fleißig einstudirt und brav aufgeführt einen Beifall erndtete, der nur den ergreifenden Situationen des Stücks und der vollendeten Kunst, womit die Hauptrolle gespielt wurde, nicht aber dem sehr stümperhaft geordneten, in Ausdruck und Entwicklungsmitteln gar ärmlich ausgestatteten Stück selbst zugeschrieben werden darf. Die Situation des hier als Waise im Hause des Bildhauers Maurice erzogenen Stummen, Victorin ist sein Name, ist dadurch von bekannten Taubstummen-Rollen auf der Bühne verschieden, daß er erst in seinem 7ten Jahre aus Schreck, als sein Vater im Walde vor seinen Augen ermordet wurde, die Sprache, aber nie das Gehör verloren hat. Darum kann er nun an allen, was in seiner Gegenwart verhandelt wird, einen weit lebhaftern und sinnigern Theil nehmen. Und das muß auch auf seine Mimik eine genau bestimmende Rückwirkung haben. Jede Bewegung, jede Geberde erhält einem festern Umriß. Dadurch endlich, daß, so oft Victorin seine Empfindungen und Eindrücke mimisch entwickelt und darstellt, das Orchester nach Seyfried’s verständiger Composition accompagnirt, tritt für den Zuschauer, das was bei Victorin nur reines Naturspiel ist, in die Kunstregel der Pantomime und Orchestik. Gewiß keine leichte Aufgabe, dieß zugleich naturgemäß und kunstgerecht in harmonischer Verschmelzung darzustellen und mit den richtigsten Ergreifen der Situation die musikalische Aufgabe als hörte er sie nicht, durchweg zu lösen. Man kann natürliche Anmuth mit Kunstfertigkeit, Gefühl mit der feinsten Berechnung nicht anmuthiger vereinen, als Mad. Schirmer in der Rolle dieses taubgewordenen, verwaiseten Jünglings that. Es fehlte bei ei¦nem sehr angefüllten Hause nicht an Fremden, welche das Spiel einer geschätzten Pariser Schauspielerin, Mad. Dumichel, in dieser Rolle in der Erinnerung damit verglichen und unsrer Künstlerin, besonders in der Anfang- und Schlußscene, unbedenklich den Vorzug einreimten. Die Französin spielte gleich beim ersten Eintritt mit aller Hast und Beweglichkeit eines wahren Taubstummen. So erschöpft sie vorweg alles, was auf die leidenschafltichen Scenen verspart, dann erst volle Wirkung thut. Unsre Künstlerin läßt beim ersten Auftritt aus ihrem ganzen Wesen jene Schwermuth hervorblicken, die, da es der Jahrestag der Ermordung ihres Vaters ist, heute ihre Trauer noch weicher und wehmüthiger stimmt. So stellt sie die Büste des Vaters auf, so sinkt sie an der Stufe des Monuments nieder, so bemerkt sie kaum die ihr allein geltenden Blumengewinde und Inschriften, so steigert sich ihre Ungeduld, um zur Salvatorkirche zu kommen. Wir sahen nun schon mit voller Klarheit, daß Victorin nur Einen Morgen- und Abendgedanken habe, Todtenweihe dem Vater, Rache dem Mörder. Die Französin kann ja nicht ohne Ergießungen von Zärtlichkeit, ohne Liebkosungen und Umarmungen der aus der Gespielin zur Liebhaberin gereiften Angelique seyn. Die deutsche Künstlerin nimmt es ernster, das heißt, sie bleibt mit tieferem Gefühl ihrem Character treu. Victorin liebt Angeliquen wirklich, aber zu Küssen und Umarmungen ist jetzt nicht Zeit und Stunde. So wird, was wir wirklich als Tadel der Künstlerin aussprechen hörten, ihr Victorin sey zu kalt gegen die Geliebte, ein neuer Beweis ihres richtigen Tacts über den Geist ihrer Rolle. In der Schlußscene, wo Victorin endlich den, ihrem Anblick bis jetzt stets entschlüpften Mörder ins Auge faßt, greift die französische Darstellung zu den grellsten Farben, um die Wirkung aufs furchtsbarste zu steigern. Allein gehören Verzuckungen bis zu Convulsionen in diesen Kreis der Darstellung? Darf alle Anmuth der Charakteristik aufgeopfert werden? Auch unsere Künstlerin durchläuft in den schnellsten Abstufungen alle Ausdrücke des Entsetzens, des Hasses, des Kampfes zwischen physischem Unvermögen und gewaltsamen Losbrechen zur Entdeckung. Auch sie zeichnet diesen Zustand durch Zucken in den Knieen und Händen, durch Hervortreten der Augen, durch Zittern der Lippen. Aber so gellend auch der Schrei: Mörder! hervorgestoßen wird, zur Furie gestaltet sich die zarte Natur Victorins nicht und durch das Niederknien zum Gebet, das sanft ausgehauchte: meine Angelique, – ein sehr verständiger Zusatz der hiesigen Ergänzung – wird aller Misklang rein aufgelöset. Wir haben hier die kräftigste Effectscene, in welcher aber die Situation mehr noch als die Kunstleistung selbst anspricht, so gelungen übrigens auch diese genannt werden muß, schon bemerkt. Doch hatte die Künstlerin noch viele ausgezeichnet schöne Momente.

(Der Beschluß folgt.)

Apparat

Zusammenfassung

Aufführungsbericht Dresden: „Die Waise und der Mörder“ vom 11.12.1817 mit Musik von Ignaz von Seyfried

Entstehung

vor 29. Dezember 1817

Überlieferung

  • Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 1, Nr. 311 (29. Dezember 1817), Bl. 2v

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