Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: 29. Oktober bis 7. November 1818 (Teil 1 von 3)

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Am 29. Oct. Die großen Kinder. Dem. Radicke, die jüngere, besitzt von der Natur durchaus nichts, was zu der naiven Manon gehört, und die Kunst ersetzte hier es auch nicht, so daß die ganze Darstellung dadurch nicht das gewohnte lebendige Colorit erhielt. Hierauf die komische Oper: Das Geheimniß, worin Dem. Radicke, die ältere, die Hofräthin gab. Sie zeigte abermals, daß sie oft auf der Bühne gesungen habe, und verzierte am unrechten Orte, brachte Variazionen an, wo keine hingehören, suchte dadurch zu bestechen, gewann sich aber nur getheilten Beifall damit. Als Spielrolle ist diese unbedeutend.

Am 31. Oct. Johanne von Arc. So heißt bei uns die Jungfrau von Orleans. Dem Radicke d. ä. beschloß ihre Gastdarstellungen mit dieser Rolle. Allerdings ein kühnes Unternehmen. Doch liegt wieder auf der andern Seite in diesem Charakter ein so unwiderstehlicher Zauber, daß, wenn auf der einen Seite eine höchstgebildete Künstlerin dazu nöthig ist, um ihn würdig darzustellen, auf der andern eben wieder die einfachste Sitte, ein fast schüchternes Talent ihm auch wieder einen eigenen Reiz würde ertheilen können. Dem Radicke wird sich selbst unter die Classe der erstern nicht stellen, und was das Letztre betrifft, trat ihr eben hier jene Routine, die ihr sonst zu manchem Guten verhalf, recht störend in den Weg. Schon im Vorspiele, wo das ruhigste Spiel durch die Situation selbst bedingt ist, machte sie sich sehr viel auf dem Theater zu thun, und so begleitete sie Unruhe durch das ganze Stück. Uebrigens zwingt sie ihre an sich recht verständliche Stimme zu einer gewaltigen Höhe, wodurch sie sich nicht selten überschreiet, und stellt ihren wohlgewachsnen Körper in so schiefe Lagen, daß nur Verdrehungen daraus hervorgehn können. Möchte sie auf eine Bühne kommen, wo seltnes und gemessenes Spiel und ein Kunstrichter ihr zu Theil würde, der sie auf ihre angenommenen Fehler aufmerksam machte, und durch deren Wegräumung das wahre Gute, das in ihr liegt, wieder aufkeimen ließe.

Am 3. Nov. Raoul, der Blaubart. Oper von Gretry.

Am 4. Nov. Elisabetta.

Den 7. Nov. Zum erstenmal: Das Leben ein Traum, Schauspiel in vier Akten, von Calderon, übersetzt von Gries.

Als in Berlin das erste Calderonsche Schauspiel im Jahr 1816 aufgeführt wurde, der standhafte Prinz*, fand man es gerathen, der Aufführung im dramaturgischen Wochenblatt (zweitem Jahrgang No. 16.) Andeutungen über das Nationelle des Spanischen Theaters und der Manier Calderons vorausgehn zu lassen. Dergleichen bedurfte es wohl bei uns schon darum nicht, weil jeder gebildete Theaterfreund die geistreiche Auseinandersetzung dieses Stücks in Nr. 87–89 der Leipziger Kunstblätter (eines Journals, dessen Unterbrechung wir mit wahrem Schmerz vernehmen) von dem Herausgeber, Prof. Wendt, noch in gutem Andenken hatte. In voraus schien man darüber im Klaren und in vollkommner Eintracht zu seyn, daß jede der vier Bearbeitungen, unter welcher der Direction die ¦ Wahl frei stand, uns doch nur eine ausländische Frucht mit deutscher Brühe und Kochkunst auftischte, wobei es doch immer erst auf die Frage ankäme, ob unser geistiger Gaum nicht auch die eigenthümliche fremde Zurichtung vertragen könne? Soll es mit Calderon, so fragten viele, etwa gehen, wie mit Shakspeare? Was jetzt auf allen bessern Bühnen geschieht, die Aufführung nach der treuesten metrischen Uebersetzung von Schlegel (oder auch von Voß, oder, wozu es gewiß noch kommen wird, nach einer meisterhaften Verschmelzung von beiden) mit Verbannung jener seit 40 Jahren auf unsern Bühnen nur zu oft form- und wesenloser Schatten-Spiele, Bearbeitungen nach Shakspeare genannt? Sollte dasselbe Unwesen nun auch mit Calderon wieder unter uns Jahre lang getrieben werden, bis wir endlich doch auch zur unverfälschten Urform zurückzugehn uns ermuthigen würden? Laßt und sogleich mit dem besten und ächtesten anfangen! Die Direction wählte wirklich die bis jetzt noch nirgends übertroffene, in Versmaß und Rhythmus sich ganz genau dem Spanier anschmiegende Griesische Uebersetzung und erlaubte sich nur Weglassungen im Einzelnen oder im Ganzen da, wo gewisse Scenen für die allererste Aufführung überhaupt noch nicht geeignet schienen. Die in lauten Beifallsäußerungen allgemein und oft ausbrechende Zufriedenheit eines sehr zahlreichen Publikums hat dieß Zutrauen der Direction vollkommen gerechtfertigt. Aber unsre Schauspieler, welchen die drei Hauptrollen zugetheilt waren, hatten sich’s auch rechtschaffen angelegen seyn lassen. Es war alles trefflich einstudirt und durch viele Proben zur Reife gebracht worden. So stand Leistung und Anerkennung in steigender Wechselwirkung. Wohl war in den ersten zwei Akten dem ganz Unvorbereiteten vieles befremdend, ja verwirrend. Doch wurde viel Einzelnes rein aufgefaßt und beklatscht. Als aber die hohe Selbstbekämpfung Sigismunds eintrat, als er den köstlichen Monolog: Dies ist Wahrheit u.s.w. so ausgezeichnet schön aussprach, da schien in jeder Brust jede Dissonanz wie aufgelöst, und, wie ein electrischer Funken, durchlief es alle Reihen. Die hohe Allegorie dieses Lebenstraums war auch den Ungeübtern verständlich, und das hier waltende christlich-mystische Prinzip, wenn auch nicht überall der klaren Einsicht, doch dem Gefühle nahe gebracht. Doch verbarg sich hierbei auch der Gebildete nicht, daß beim genauen Eindringen ins Innere, nach öfteren Wiederholungen, noch viel Herrliches sich aufschließen werde, wozu auch wohl die Vergleichung dieses weltlichen Schauspiels mit Calderons Auto sagramental allegorico, der auch das Leben ein Traum heißt, und von welchem uns der Baron von Malsburg in der Vorrede zum ersten Theil seiner, in diesen Tagen erscheinenden Uebersetzungen von Calderon, eine sehr anziehende Nachricht erwarten läßt, noch manchen Fingerzeig ertheilen dürfte. Nichts würde in der That ungerechter seyn, als sein Endurtheil auf diese erste Vorstellung allein begründen wollen. Aber der Sieg der Griesischen Uebersetzung über alle Nachklänge – um nicht ein stärkeres Wort zu brauchen – war doch schon bei dieser Vorstellung völlig entschieden, da sehr viele das Stück aus andern Bearbeitungen schon kannten und also vergleichen konnten.

(Die Fortsetzung folgt.)

Apparat

Verfasst von

Zusammenfassung

Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: 29. Oktober bis 7. November 1818 (Teil 1 von 3), dabei der erste Teil der Besprechung von „Das Leben ein Traum“ von Gries. Die beiden anderen Teile folgen in den nächsten Ausgaben.

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Albrecht, Christoph; Fukerider, Andreas

Überlieferung

  • Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 2, Nr. 281 (25. November 1818), Bl. 2v

    Einzelstellenerläuterung

    • „… aufgeführt wurde, der standhafte Prinz“El príncipe constante, Berliner Erstaufführung am 15. Oktober 1816 in der Übersetzung von Schlegel, eingerichtet von Goethe, mit Schauspielmusik von Gürrlich.

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