Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: „Agnes van der Lille“ von Johanna Franul von Weißenthurn am 25. März 1819 (Teil 1 von 2)

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Donnerstags, den 25. März. Schlußvorstellung vor Ostern. Zum Erstenmale: Agnes van der Lille. Schauspiel in 5 Akten, von Frau v. Weißenthurn.

Die dem Stücke vorausgegangenen, vielleicht zu hoch gespannten Erwartungen schadeten mehr, als daß sie nutzten. Es war mit vorzüglichen Fleiß einstudirt, Volksscenen und Statistenwesen waren mit sichtbaren Fleiß eingeübt worden. Es war durchaus eine vorzügliche Leistung unsers Bühnenvereins. Und doch ward sie gegen das Ende des Stücks mit einer erkältenden Gleichgültigkeit aufgenommen. Die Schuld kann als nicht an den Schauspielern, sie muß an dem Stücke selbst liegen. Also darüber zuerst einige Bemerkungen. Im Manuscript wird uns gesagt, das Stück sey nach einer Skizze bearbeitet. Möge Frau v. W. den Stoff auch entlehnt haben, woher sie wolle. Es war ein glücklicher Fund, wenn ein Meister ihn zu handhaben verstand. Die Scene ist in Antwerpen, zur Zeit des Abfalls der Niederlande, ungefähr im Jahr 1567. Herzog Alba, der Bürgermeister von Antwerpen (der eigentlich Schaderen hieß), der blutdürstige Vargas, der edle Viglius, der Prinz von Oranien, die hier auftreten, sind alles wahr, aus der Geschichte bekannte Personen. Aber zwischen diese historischen Figuren tritt nun eine reiche Witwe in Antwerpen, Marie van der Lille. Sie hat einen Sohn und eine Tochter, Zwillingsgeschwister, und einander zum Verkennen ähnlich. Der Sohn, kaum mannbar, erglüht für’s Vaterland und geht ohne die Mutter zu fragen in Oraniens Lager. Jetzt kommt Alba plötzlich und für’s erste nur mit weniger Mannschaft in die Stadt. Sogleich beginnt der Blutrath. Die Mutter van der Lille wird als Mitwissende um die Flucht des Sohnes, zum Tode verurtheilt und nach einer sehr pathetischen Scene abgeführt. Da stürzt Agnes, die Zwillingsschwester, als Jüngling verkleidet und sich für ihren Bruder ausgebend, herein und will, sich selbst opfernd, die Mutter retten. Alba läßt die Mutter auf’s neue vorführen. Hier eine wahrhaft rührende Scene zwischen der Mutter, die das Opfer nicht annehmen und dem Alba alles entdecken will, und der großherzigen Agnes. Ein Volksauflauf befreit beide, da Alba wegen der geringen Mannschaft, die er bei sich hat, begnadigt. Allein, nun soll das verkleidete Mädchen als Jüngling mit hinausziehn zum Kampf gegen Oranien. Sie unterwirft sich dem Befehl aus Kindesliebe und unterrichtet bloß die Mutter durch einen Brief. Wir sehen sie im folgenden Akt tödtlich verwundet unter einem Baum, unfern vom Kampfplatz, niedersinken. Oranien hat gesiegt. Befreundete Krieger, die sie erkennen und den wieder anglimmenden Lebensfunken in ihr entdecken, bringen sie in Oraniens Zelt. In diesem der letzte Akt. Der siegreiche Oranien tritt nun selbst auf. Er vergißt Sieg und Einzug in Antwerpen, ¦ bloß um des vermeinten Jünglings willen. Der treue Freund, die Mutter mit ihrem treuen Diener Robert, der Liebhaber der Agnes, alles kommt im Feldherrn-Feld zusammen. Man hört die sich erholende Agnes ihren Liebhaber rufen. Der Hintergrund thut sich auf. Mutter und Liebhaber haben sich zärtlich um die erstandene Agnes gruppirt. Der entzückte Oranien schließt mit der centnerschweren Sentenz: Sie gilt als Probe, denn das Ganze ergießt sich in solchen Jamben!

Es giebt kein heiligers, kein schönres Band,Als Kindespflicht und Pflicht für’s Vaterland.

Schon aus dieser Inhalts-Anzeige ergiebt sich die Unfähigkeit der Dichterin, deren fruchtbares Talent für’s Lustspiel wir willig anerkennen, einen solchen Stoff tüchtig zu behandeln. Nur der erste Akt ist als Exposition gelungen zu nennen und wurde auch mit der lebendigsten Theilnahme von den Zuschauern ergriffen und beklatscht. Aber nun greift die Dichterin nach äußern Motiven, es giebt Spektakel und Getümmel in der Stadt und auf dem Schlachtfelde, und das Ganze wird aus allerlei Erinnerungen und sogenannten Effectscenen nothdürftig zusammengesetzt. Der hier uns vorgeführte Alba ist nur eine verjüngte Copie des Coke in der Partheienwuth, und die ganze Verhörscene der Marie ist nur eine Nachbildung jenes auch schon nur auf Effect gepinselten Frescostücks. Die Volksscene auf dem Platz ist Göthe’s Egmont, das Hinausrennen Alba’s, um den Volksauflauf zu beschwichtigen, Schiller’s Wallenstein abgeborgt. Die Verkleidung der heldenmüthigen Tochter, der Agnes, die wir von Anfang wissen, wird uns später noch zweimal vorerzählt. So endet, trotz allem Getümmel und Scenenwechsel, sehr ermüdend, was erweckend und aufregend begonnen hatte. Und dennoch ist die Situation des sich selbst aus Kindesliebe opfernden Mädchens neu, der Stoff lobenswerth, wenn die Dichterin Meister desselben zu werden wußte. Zuerst erfahren wir gar nicht, wie Agnes zum Entschluß kommt, sich für den Bruder auszugeben. Dies hätte, recht behandelt, uns die ganze abgebrauchte Verhörscene erspart. Dann mußte uns aber im vierten Akte der Kampf zwischen Mutter- und Tochterliebe im Hause der Mutter vorgeführt werden, der alte Robert, der Freund Dulys, mußte gegen die Mutter auf die Seite der flehenden Agnes treten, die Mutter mußte selbst die in die Schlacht eilende Heldentochter einsegnen. Dann konnte auch im fünften Akte alles auf dem Schlachtfelde selbst, auch wohl in Oraniens Gegenwart, abgethan werden. Die Dichterin hat dagegen auf die täuschende Zwillingsähnlichkeit und die Irthümer der Verkleidung alles Gewicht gelegt. Allein es ist keine Comedy of errors. Sie nannte ja das Stück Agnes van der Lille. Tochterpflicht sollte das Thema durch’s ganze Stück seyn.

(Der Beschluß folgt.)

Apparat

Zusammenfassung

Aufführungsbesprechung Dresden, Hoftheater: „Agnes van der Lille“ von Johanna Franul von Weißenthurn am 25. März 1819 (Teil 1 von 2). Der zweite Teil folgt in der nächsten Ausgabe.

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Fukerider, Andreas

Überlieferung

  • Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 3, Nr. 87 (12. April 1819), Bl. 2v

Textkonstitution

  • „Irthümer“sic!

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