Aufführungsbesprechung Prag: Konzert des Ehepaars Spohr am 12. November 1812 in Prag
Prag, den 17ten Nov. Den 12ten d. gab Hr. Spohr. herzogl. gothaischer Concertmeister, mit seiner Frau Concert* im k. ständischen Redouten-Saale. Schon vor fünf Jahren* bewunderten wir ihn als einen der ausgezeichnetsten Tonsetzer und Violinspieler, und seine Frau als eine der vorzüglichsten Künstlerinnen auf der Harfe: daher war diesmal das musikliebende Publicum zu einem interessanten Abend schon vorbereitet. Der volle Saal bewies, wie sehr man einmal anerkanntes Verdienst fortwährend zu würdigen weiss, und der allgemeine Beyfall krönte neuerdings des Hrn. Sp. geistvolle Compositionen sowol, als deren meisterhafte Ausführung. – Da es kaum möglich ist, von einer einzigen Production, ohne die Partitur vor Augen zu haben, ein Urtheil im Einzelnen zu fällen, so begnügen wir uns damit, überhaupt davon zu sprechen.
Ausser der Scene von Simon Mayer, welche Hr. Grünbaum mit Fleiss und Richtigkeit vortrug,* waren alle vorkommende Stücke von Hrn. Sp.s Composition. Die Ouverture zu Alruna* und das Violinconcert* sprachen ganz den denkenden, erfahrnen Geist des Componisten aus. Welche ergreifende Wirkung die wahre Kunst hervorzubringen vermag, die sich in jener, durch die contrapunctische Durchführung und bey der Vereinigung der zwey Hauptgedanken besonders schön entwickelte, bezeigte das ungetheilte, lauteste Bravorufen. Originalität und einen festen Charakter fanden wir in allen Sätzen, welche überdies die reichhaltigsten Harmonien u. deren seltenste Combinationen ausschmückten, und die eine sehr vortheilhafte Instrumentation zum schönsten Genusse darstellten, wodurch die so mannigfaltig überraschenden Uebergänge auch dem weniger vorbereiteten Ohre deutlich und angenehm wurden. – Wegen Mangel an Zeit wurde uns nur der erste Satz von Hrn. Sp.s Symphonie* zu Theil. Wir hoffen sie in den nächsten Liebhaber-Concerten ganz, und mit Feuer und Präcision zu hören. Dann werden wir uns erst ein vollständiges Urtheil darüber erlauben. – Wir können, gleichgesinnt mit mehrern Kunstfreunden, den Wunsch nicht unterdrücken, dass Hr. Sp. bey Ensemble-Stücken mehr Sparsamkeit im Moduliren und Ueberraschen anwenden, und überhaupt mehr finden, als suchen möchte. Die gedachte Wirkung hängt bey einer delicaten Composition (man erlaube den gewöhnlichen Ausdruck) nur von der genauesten Aufführung ab: und wie lässt sich diese jedesmal auch von dem allergebildetsten Orchester erwarten, wenn es mit dem Geiste des Componisten noch nicht ganz vertraut geworden ist? – Die Sonate für Harfe und Violin*, welche Hr. Sp. u. seine Frau spielten, und die sich mit einer interessanten Zusammenstellung verschiedener Lieblingsstücke aus der Zauberflöte* endete, welche Stücke theils variirt, theils mit Verfolgung der Schlussgedanken aneinander gekettet, und mit entzückender Einheit vorgetragen wurden, woraus zugleich die vollkommenste harmonische Vermählung des vortrefflichen Künstler-Paars deutlich zu erkennen war – erweckte die innigste Theilnahme. Ungeachtet die Gesundheit der Mad. Sp. seit mehrern Tagen geschwächt, und ihr leidender Zustand während des Concerts sichtbar ward, so vermisste man doch wenig von der früher allgemein anerkannten Vortrefflichkeit ihres Spiels; wir sind auch überzeugt, dass sie bey vollständiger Gesundheit uns einen noch weit höheren Genuss bereitet haben würde. Zum Schluss spielte Hr. Sp. ein Potpourri mit Orchesterbegleitung,* worin einige Stellen aus der Entführung a. d. Serail vorkamen. Wenn man unter einem Potpourri eine Sammlung verschiedener Lieblings-Ideen versteht, so wusste Hr. Sp. auch eine solche Kleinigkeit zu einer gewissen Höhe zu erheben; nirgends verleugnet er seine edle, planmässige Art zu setzen. – Alle Erfordernisse wahrer Virtuosität trafen wir in dem Spiel des Hrn. Sp. in hohem Grade vereint an; vorzüglich zeichnete sich sein solider Vortrag, seine Bogenführung, richtige Intonation, und Sicherheit in den schwierigsten Passagen aus. – Wenige Unachtsamkeiten ausgenommen, hielt sich das Orchester brav. In der Ouverture hat es ganz seinen alten Ruhm bewährt.
Den 19ten d. werden wir Hrn. Sp.s Oratorium, das jüngste Gericht*, im Theater hören*). Man ist voll der schönsten Erwartung. Hr. Sp. wird von hier nach Wien seine Kunstreise fortsestzen‡.*
[Originale Fußnoten]
- *) Anm. Die versprochene Nachricht hierüber ist nicht eingegangen.* d. Redact.
Apparat
Generalvermerk
Zuschreibung: Die Sigle Minore wurde von Walter Senn Gänsbacher zugewiesen; vgl. Gänsbacher, Denkwürdigkeiten, S. 142, Anm. 344; der Text ist auch in seiner Artikel-Sammlung in den Gänsbacheriana des Museums Ferdinandeum Innsbruck enthalten. C. M. v. Weber hatte dem Ehepaar Spohr am 12. Oktober 1812 ein Empfehlungsschreiben an Gänsbacher mitgegeben und bat Gänsbacher in einem zwei Tage später geschriebenen Brief: nimm dich seiner so viel als möglich an […] Es wäre gut, wenn du eine vorläufige Anzeige seiner Ankunft in die Zeitung besorgtest. Spohr war damit der besonderen Aufmerksamkeit des Vereins empfohlen.
Kommentar: Louis Spohr zitiert diese Kritik in seinen Lebenserinnerungen, wobei er jene Passage, in der Gänsbacher Kritik an den Modulationen übt, ausgelassen hat; vgl. Louis Spohr, Lebenserinnerungen, hg. von Folker Göthel, Tutzing 1968, Bd. 1, S. 154–155.
Entstehung
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Überlieferung
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Textzeuge: Allgemeine Musikalische Zeitung, Jg. 14, Nr. 50 (9. Dezember 1812), Sp. 818–820
Einzelstellenerläuterung
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„Den 12ten d. … seiner Frau Concert“Zu dem Konzert von Louis und Dorette Spohr am 12. November 1812 in Prag vgl. auch Spohr, a. a. O., S. 154–155.
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„Scene von Simon … und Richtigkeit vortrug,“Welche Szene von Simon Mayr Johann Christoph Grünbaum gesungen hat, war nicht zu ermitteln.
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„erste Satz von Hrn. Sp.s Symphonie“Adagio/Allegro aus der Sinfonie Nr. 1 Es-Dur op. 20 von Spohr.
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„Zusammenstellung verschiedener Lieblingsstücke aus der Zauberflöte“Spohr verwendete Themen aus der Arie der Pamina (Nr. 17) „Ach, ich fühl’s“, dem Terzett (Nr. 16) „Seid uns zum zweiten Mal willkommen“, der Arie des Papageno (Nr. 20) „Ein Mädchen oder Weibchen“, der Arie des Monostatos (Nr. 13) „Alles fühlt der Liebe Freuden“ und dem Chor der Geharnischten.
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„versprochene Nachricht hierüber ist nicht eingegangen.“Sie wurde nachgereicht in AMZ, Jg. 15, Nr. 3 (20. Januar 1813), Sp. 55.
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„fortsestzen“recte „fortsetzen“.