Friedrich Wilhelm Jähns an Marie Lipsius in Leipzig
Berlin, Dienstag, 16. November 1875

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Berlin, S.W., 24. Markgrafen Str.

Mein hochverehrtes Fräulein.

Was werden Sie von mir denken, daß ich, nach ohnedies früherem langen Schweigen, auf Ihr mir so hochwerthes, wie immer so überaus liebenswürdiges Schreiben vom 29. Sept. u. Ihr gütiges, inhaltschweres Geschenk des 3ten Bandes Ihrer „Studienköpfe“* erst heut eine Entgegnung sende!? – Ich denke, Sie verzeihen dem Sünder, der sich einfach u. reuig selber anklagt, eher, als dem, der Sie mit einem Catalog der Gründe seiner Unthat langweilt. – Und so sage ich denn: verzeihen Sie dem Verbrecher! Sehen Sie in seiner höchst tadelnswerthen Schweigsamkeit nicht einen Schimmer von Unempfindlichkeit für so viele mir erwiesene, mich beglückende unveränderte Güte. Denken Sie, daß nichts von dem bei mir verloren ist, was Ihre kunstgeübte Hand an reizvollen Blüthen Ihres Geisteslebens pflückt, denn solche sind wahrlich Ihre Arbeiten, u. ich erquicke mich herzlich an denselben, denn sie haften zugleich an festem edlen Stamme, der mit den Blüthen vereint vollkräftige frische Nahrung in seinen Früchten trägt u. in seltner Weise das dulce mit dem utile verbindet. – Der schöne Ausgleich zwischen Kenntniß u. glänzender Darstellungsgabe, der Ihre Arbeiten so vorwiegend auszeichnet u. für Jedermann so fesselnd macht, ist der Grund so hervorragender Erfolge, wie Sie sich deren erfreuen, u. zwar zur Freude aller wahren Kunstfreunde u. deren, die es zu werden Beruf u. Neigung haben. | Das Letztere muß Ihnen das besonders Erhebende sein, denn Sie müssen fühlen, daß Sie nicht umsonst arbeiten und sich mindestens für die Mitwelt (und das ist in ihrem Zusammenhange zugleich die ihr folgende Welt) ein wahres Verdienst erschaffen haben. – Gern möchte ich dies u. jenes auch aus diesem 3ten Bande wieder herausnehmen, um meine Freude an gewissen Einzelheiten Ihnen mitzutheilen; aber es ist so vieles, und würde ein Heft füllen, das zu sagen, wozu es mich angeregt. – Natürlich ist es, daß uns von dem, was Sie an Persönlichkeiten geben, das zunächst anzieht, was unsrer Kunstanschauung und unseren Meinungen besonders nahe steht. Somit hat mich denn auch Ihr "Henselt" ganz vorzugsweise angezogen. Alles was Sie über ihn sagen, ist eben so fein wie wahr, wie auch die darin vorkommenden Hinblicke auf andere Kunstgrößen z. B. Weber u. Mendelssohn (pag. 111–112.) – In Bezug auf Henselt’s Bearbeitung der 3 Weberschen Sonaten C, As und D – (warum verschmähte er die 4te, E moll, op.70 mit der herrlichen Tarantella?) – hätte ich, bei dem vollständigen Einverständniß mit allem Übrigen, was Sie über Henselt’s Verhältniß zu und Verständniß von Weber aussprechen, einige Bemerkungen zu machen, die, wenn auch nur gering an Zahl, doch angethan sind, so ausführlich zu werden, daß ich sie für heut noch zurückhalten muß. Sie sollen Ihnen aber nicht vorbehalten bleiben, | da ich dies Weber schuldig zu sein glaube und sie mir zugleich Gelegenheit geben werden, an so bedeutungsvoller Stelle, wie bei Ihnen, gewisse Ansichten aus Studienergebnissen niederzulegen, die vielleicht von Ihnen vorzugsweise richtig geschätzt u. nachsichtig beurtheilt werden. Ich hoffe diese Mittheilungen zum Gegenstande eines Extra-Briefes an Sie zu machen, u. will ich da auch recht scrupulös und Weber-verehrerisch ausholen. Vielleicht lernen Sie dabei meine Schwächen doppelt deutlich kennen, und mich [[nicht]] diesen zu entziehen, halte ich für eine Ungerechtigkeit, Ihnen wie mir selbst gegenüber. – – Nichts beklage ich mehr, als daß wir Beide nicht zusammen an einem Orte wohnen. Welch einen Genuß würde es mir verschaffen, mit Ihnen meine Arrangements der 4 großen Weberschen Sonaten, dessen Concerts Es dur N. II u. des Trio’s, der Freischütz- u. Preciosa-Ouvertüren, sämmtlich zu 4 Händen, zu spielen und Ihnen auch nebenher mich selber als Componisten ein wenig vorzuführen, der mit mancherlei Eigenthümlichkeiten Henselt’s auch die gemein hat, sich als Componisten u. ausübenden Musiker von jeder Öffentlichkeit in Bezug auf eigne Arbeiten nach u. nach ganz zurückgezogen zu haben. – Komme ich mal nach Leipzig auf mehr als einen Tag, dann melde ich mich bei Ihnen an, sende Ihnen vorher Einiges von meinen 4händigen Sachen, u. dann spielen u. sprechen wir uns | ein paar Nachmittags-Stunden so recht satt, wollen Sie bei den Arbeiten eines bescheidenen Epigonen so viel Zeit verschwenden. – – Alle Ihre mir zugegangenen Bände stehen, schön in den allgemeinen grünen Weber-Band gebunden, in meiner Sammlung „Weberiana“ als Zierden derselben eingereiht; denn überall fast gehen Sie ja auf ihn zurück, wo Sie ihn nicht selber ausschließlich besprechen. — In Bezug auf diese Ihre lieben Gaben habe ich noch eine Extra-Dankesschuld zu tilgen, ich meine die mehrfachen gütigen Hinweise auf meine schriftstellerische Thätigkeit über Weber bei Ihrer Arbeit „Weber“ in der 2ten Auflage der Studienköpfe. Kommt der Dank freilich spät, so ist er doch um so wärmer, ein je länger gehegter er ist. – Die bei neuen Auflagen in Aussicht gestellten Verzeichnisse der Werke ist sehr erfreulich, wiewohl dieselben eine schwerere Arbeit einschließen, als der Laie ahnen kann. – Das Verzeichniß meiner großen Weber-Sammlung, an dem ich eifrig 1 ½ Jahre arbeitete, liegt jetzt seit ½ Jahr vollendet vor mir*. Es ist natürlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, war aber nothwendig als Leitfaden für die zukünftigen Benutzer der „Weberiana“, die nach meinem Tode an eine große öffentliche Staatsbibliothek (hier oder dort) übergehen sollen ∣*. | Bieten sie doch eines der seltensten Unica im Bereiche von dergl. Sammlungen durch ihre Vollständigkeit und ihre Vielseitigung. – Auch mit einem Nachtrag zu meinem „C. M. v. Weber in Seinen Werken“ beschäftige ich mich seit Jahren; dennoch muß noch einige Zeit vergehen, bis ich damit zur Veröffentlichung schreiten kann*. – Was Ihre gütige Nachfrage nach meiner Gesundheit anlangt, so habe ich leider darauf zu erwidern, daß trotz einer Kur im Juli zu Teplitz mein Rheuma im Arm sich nicht gebessert hat, sondern mir Schreiben und Spielen immer mehr erschwert. – Der Redacteur des neuen vorzüglichen großen Musikalischen Convers. Lexikons ist so freundlich gewesen, den darin über mich sprechenden Artikel für mich einige Male separat abdrucken zu lassen*; ich erlaube mir, Ihnen davon ein Exemplar zu senden. – – –

Und nun lassen Sie mich Ihnen zum vorläufigen Abschiede herzlich die Hand drücken und die Bitte aussprechen, mir auch in Zukunft freundlich zugethan bleiben zu wollen als Ihrem
Ihnen in innigster Verehrung
ergebenen und stets verbleibenden
F. W. Jähns.

Apparat

Zusammenfassung

dankt für den 3. Bd. der „Studienköpfe“; war besonders beeindruckt von der Charakterisierung Henselts und geht auf Henselts Bearbeitung der Weberschen Sonaten ein; bedankt sich für seine Erwähnung in Bezug auf Weber in Lepsius 2. Bd.; berichtet von seiner Arbeit an seinem Nachtrag u.a.

Incipit

Was werden Sie von mir denken, daß ich, nach ohnedies früherem langen Schweigen

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Gebhard und Ursula Kindl, Schwabach

Überlieferung

  • Textzeuge: Leipzig (D), Stadtgeschichtliches Museum, Bibliothek (D-LEsm)
    Signatur: A/812/2010

    Quellenbeschreibung

    • 3 Bl. (5 b. S.)

    Einzelstellenerläuterung

    • „… 3 ten Bandes Ihrer „Studienköpfe““Vgl. Musikalische Studienköpfe, 5 Bde., Leipzig 1868–1882.
    • „… ½ Jahr vollendet vor mir“Vgl. Faksimile unter „Digitalisierte Sammlungen der SBB“ .
    • „… oder dort) übergehen sollen ∣“Die Jähnssche Sammlung wurde schließlich von dem Fabrikanten Jacob Landsberger gekauft und 1881 der Kgl. Bibliothek geschenkt, wofür dieser den Titel eines Kommerzienrates erhielt.
    • „… damit zur Veröffentlichung schreiten kann“Der Nachtrag wurde nicht mehr zu Lebzeiten von Jähns veröffentlicht; vgl. Frank Ziegler, Friedrich Wilhelm Jähns: Nachträge zum Weber-Werkverzeichnis, in: Weberiana 8 (1999), S. 48–77.
    • „… Male separat abdrucken zu lassen“Musikalisches Conversations-Lexikon: eine Enzyklopädie der gesamten musikalischen Wissenschaften, bearb. und hg. von Hermann Mendel , Bd. 5., Berlin 1875, S. 352–354.

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