Friedrich Wilhelm Jähns an Marie Lipsius in Leipzig
Berlin, Sonntag, 8. März 1874

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Mein hochverehrtes Fräulein.

Mit Zagen und Beschämung nehme ich heut Ihnen gegenüber das Wort. Ich weiß nicht genau, wann Sie mir die Auszeichnung zu Theil werden ließen, die 2te Auflage des 1. Bds Ihrer Musikal. Studienköpfe* mir ebenfalls wie die 1ste zu senden;* aber ich glaube nicht zu fehlen, wenn ich den Empfang derselben in den Dez. vor. Jahres setze. Und jetzt haben wir März! Es scheint wahrlich fast unfreundlich, so lange haben schweigen zu können, wo gleich ein Dank ein richtiger Dank gewesen wäre. Nun aber kam gar, um mich noch tiefer zu beschämen, eine neue gütige Zusendung: Ihre musikal. Gedanken-Polyphonie,* die Verkörperung eines überaus glücklichen und zeitgemäßigen Gedankens. – |

Stets noch ist der richtige Moment wo etwas an’s Lichtz tritt, das Entscheidende für dessen Erfolg gewesen, und jetzt, wo das deutsche Volk sich mehr als je seines geistigen Reichthums erfreut, den ihm seine Heroen in Kunst u. Wissen geschaffen, jetzt grade war der richtige Moment, ihm eben diesen Reichthum in so schöner, ansprechender, allgemein zugänglicher Form zu erläutern und dadurch immer benutzbarer zu machen, oder andrerseits ihm seine Heroen gewisser greifbar in ihrem Selbstwesen vorzuführen, wie Sie dies so höchst wirksam u. mit weiser Erkenntniß des vorzugsweise Wichtigen in Ihrer Polyphonie ausführen. Das zuweilen widersprechende in den verschiedenen Geistern ist reizend, den[n] es reizt eben zu eigenem Denken, zu | eigner geistiger Arbeit. Dafür muß Ihnen jeder Einsichtige den wärmsten Dank zutragen; dem Publikum aber werden Sie eine immer liebere literarische Erscheinung. – Nun so nehmen Sie denn auch meinen Dank, aber nehmen Sie ihn doppelt und dreifach, als Musiker, als Deutscher, als Ihr Freund, welchen letzteren mich zu nennen, ich mich besonders glücklich schätze. –

Sie haben tüchtig hineingegriffen bei der 2ten Auflage der „Köpfe". Und so viel ich bis jetzt beurtheilen kann zum Vortheil der Sache; z. B. bei Weber ist gleich vorn pag 6. u. 7. das Hinzugefügte vortrefflich u. wahr. Ich sagte vorher „bis jetzt" und darin verbirgt sich mein großes Bedauern nicht ganz erschöpfendbis jetzt – eine Vergleichung haben anstellen zu können. |

Seit meiner Rückkunft im Aug. v. J. bin ich nemlich beschäftigt ein ganz genau spezificirendes Verzeichniß meines ganzen Weber-Besitzthums anzufertigen; es sind dabei wohl zwischen 4 u. 5000 Piecen, die mir durch die Feder laufen müssen: Noten- u. Brief-Autographe, ungedruckte und gedruckte Werke Weber’s (letztere in allen möglichen Ausgaben - selbst wohl 2800 Stücke allein -) ferner eine Sammlung von allem Möglichen Gedruckten über Weber, eine Sammlung Portraits von ihmn, bildlicher Darstellungen in Bezug auf ihn; pp. pp. pp. pp. (Die Sammlung umfaßt in einem ihrer Theile allein 130 Bände theils Noten theils Bücher.) Dies Alles in meinem Verzeichnisse unter ein schmuckes u. würdiges Dach zu bringen ist meine Arbeit seit August, u. wird es wohl bis vielleicht wieder August sein. Aber sie muß gethan werden! |

In meiner Sammlung ist ein Stück deutscher (musikalischer) Culturgeschichte verkörpert, wie dies wohl wenige Beispiele derart geben wird. Aber sollte es gemacht werden, so mußte dies von mir gemacht sein, weil ich die Bedeutung u. den Werth jedes Stückes kenne, wie dies ein Anderer nicht gut vermöchte. –

Und die Arbeit muß überhaupt gethan werden, wo ich noch Kräfte habe; täglich wird man älter und noch hoffe ich sie zu vollenden, obwohl ich 65 Jahre zähle. –

Also Verzeihung meines Schweigens wegen! Gedankt im Herzen habe ich Ihnen viele, viele Male, wie es ich hiemit nochmals thue. Wenn ich reise, nehme ich Ihre 1. u. 2. Ausg. zur Vergleichung mit, u. da will ich so recht still genießen. – Und nun, bitte ich, gedenken Sie meiner ferner in gewohnter Güte als Ihres in Verehrung treu ergebensten F. W. J.

Apparat

Zusammenfassung

dankt für Übersendung des 1. Bandes ihrer Studienköpfe in 2. Auflage. Das Werk habe gewonnen und für ihre Musikalische Gedanken-Polyphonie, die er ausführlich kommentiert. Berichtet, dass er seit August 1873 mit der Erarbeitung eines Kataloges seiner „Weberiana“ beschäftigt sei: „In meiner Sammlung ist ein Stück deutscher (musikalischer) Culturgeschichte verkörpert“. Er muss es selbst machen, weil er die Sammlung am besten kenne, äußert sich über den Inhalt ausführlich und vermutet, dass die Arbeit am Katalog mindestens ein Jahr dauern werde.

Incipit

Mit Zagen und Beschämung nehme ich heut Ihnen gegenüber das Wort.

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Eveline Bartlitz

Überlieferung

  • Textzeuge: Leipzig (D), Stadtgeschichtliches Museum, Bibliothek (D-LEsm)
    Signatur: A/811/2010

    Quellenbeschreibung

    • 3 Bl. (5 b. S.)

    Einzelstellenerläuterung

    • „… 1. Bds Ihrer Musikal. Studienköpfe“La Mara, Musikalische Studienköpfe, Bd. 1, 2. umgearb. Aufl., Leipzig: H. Schmidt 1874, Expl. in D-B der Weberiana-Slg Cl. VII, Bd. 9 mit hs. Widmung an Jähns von der Autorin; im Weber-Teil Erwähnung von Jähns auf den Seiten 27, 47, 62 u. 69.
    • „… die 1s te zu senden;“La Mara, Musikalische Studienköpfe, Bd. 1, Leipzig: H. Weißbach 1868 (Enthält Aufsätze über Schumann, Chopin, Liszt, Weber, Schubert, Mendelssohn und Wagner).
    • „… Ihre musikal. Gedanken- Polyphonie ,“Gedanken berühmter Musiker über ihre Kunst. Gesammelt von La Mara, Leipzig 1873, Einbandtitel: Musikalische Gedanken-Polyphonie.

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