Friedrich Wilhelm Jähns an Marie Lipsius in Leipzig
Berlin, Samstag, 19. April 1873

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Sehr verehrtes Fräulein.

Vielen Dank für Ihr gütiges Schreiben! Wenn ich Ihnen die Lebensscizzen sandte u. zwar in 2erlei Gestalt,* so hatte ich hauptsächlich dabei im Auge, Ihnen ein sichtbares Zeichen meines verehrenden Gedenkens an Sie zu geben. In der Sache konnten Sie durch die Zusendung nicht grade viel bedsonderes Neues erfahren. Aber eine ganz wahrheitsgetreue Darstellung habe ich beabsichtigt u. zwar in äußerst knapper Gestalt. Sie wissen am besten, wie schwer dergl. grade ist, wenn der Votrag nicht trocken und ungenießbar werden sollte, wie Sie im Gegensatz dazu durch Ihre Arbeiten thatsächlich bewiesen haben (und unbedingt besser als ich) wie eine solche Aufgabe mit Wahrheit, Eleganz und fesselnder Form zu lösen sein kann.

In Bezug auf Ihre Anfragen verfehle ich nun nicht, Ihnen die gewünschte Nachricht zu geben:

ad 1) Der Tag der 1sten Aufführung des Waldmädchens ist der 24. November, in welchem Datum ich durchaus nicht von Max v. Weber abweiche, denn Bd. I, pag. 56 seines Werkes sagt er im Text u. am Rande24. November", nicht, wie Sie schreiben „24. October".

ad 2.) Ebenso verhält es sich mit Carl Maria’s Titel | als „Musik-Intendant des Herzogs Eugen von Württemberg". Max v. W. spricht sich klar darüber aus; pag 109 und 110 bringt er mit der Sache zugleich einen schönen Brief Herzog Eugen’s an Carl Maria, der dieselbe förmlich bestätigt. In der Annahme, daß C. M. auch dort zugleich Director der Capelle gewesen sei, ist es möglich, daß ich zu weit gegriffen habe. Als die Capelle unter dem Vorgänger Eugens bestand (bis 1792), leitete sie Klehmet. Aber schon 1794, wo sie seit Eugen 1792 antrat, noch unter Klehmet stand, muß dieser ein sehr alter Mann gewesen sein, denn Max v. W. nennt ihn den „greisen Klehmet." Als C. M. 1806 nach Carlsruhe kam, wäre Klehmet, wenn er noch lebte, 14 [Jahre] älter geworden, wo er schwerlich noch seiner früheren Stellung hätte vorstehen können. | Und wenn nun auch Max v. Weber sagt daß C. M. in keinem Dienstverhältnisse zu Eugen gestanden habe, so ist es doch naheliegend (oder konnte es mir doch [so] erscheinen, daß er die Stelle Klehmet’s vertrat d. h. namentlich seine für Eugen geschriebenen mehrfachen Compositionen selbst im Orchester leitete, was die Direction anderer natürlich erscheinen läßt, da von einem anderen Orchester-Dirigenten nirgend geredet wird. Das war der Grund weshalb ich C. M. neben seinem Titel als „Musik-Intendant" als Director der Capelle anzusehen, nicht zurückwies.

ad 3.) In dem Punkte, daß C. M. v. Weber Gänsbacher erst in Darmstadt kennen gelernt, werde ich nicht unmöglicher Weise einen Irrthum | begangen haben. Max v. W. spricht es I. 83 bestimmt aus, daß C. M. schon 1803 in Wien Gänsbacher kennen gelernt, und ich muß mich bescheiden und annehmen, daß er bestimmte Beweise dafür gehabt. Wunderbar ist es mir nur erschienen, daß W. seinem geliebten Salzburger Jugendfreunde Susann nicht mit einer Silbe von seiner Bekanntschaft mit Gänsbacher 1803 spricht als er 1803–4 5 sehr umfangreiche Briefe (zusammen in meiner Copie 16 Folio Seiten) an diesen Susann richtet, in denen er alle mögliche Personen (eine sehr bedeutende Zahl), dieselben characterisirend, aufführt und jede neue Bekanntschaft namentlich bestimmt betont, so z. B. Neukomm als „neue Bekanntschaft", von dem Max v. W. I 65 mittheilt, daß er diesen (Neukomm) bereits 1801 u. 2. in Salzburg genau gekannt, so genau, daß er einen Einfluß N’s auf Weber’s Arbeiten für möglich hält. | Alles in Allem kann u. werde ich mich also in Bezug auf die Zeit von Gänsbacher’s Bekanntwerden mit Weber geirrt haben und kann, wenn es der Fall, nur mein gründliches Bedauern darüber aussprechen, wenn ich, zumal der Welt gegenüber, eben nicht auf Anwendung des Spruches „Allen Sündern sei vergeben" für mich hoffen darf.

ad 4.) Die Zeit von 43 Tagen für Instrumentirung der Euryanthe ist das Resultat einer ganz strengen Rechnung, vorgenommen auf Grund der sehr genauen Notizen des Weberschen Tagebuches. Die Ziffer 43 ist richtig, ebenso wie

ad 5.) der 16. Febr. 1826 als Tag der Abreise Weber’s von Dresden nach London der allein richtige ist. Sein letzter voller Tag in Dresden ist der 15. Febr. Das | Tagebuch der Londoner Reise (ein besonders auf Pergament innerhalb seines Taschenbuchs) beginnt mit den Worten: „den 16. Febr. Um 7 Uhr früh mit Gottes Hülfe von Dresden abgereist." – Der 7. Febr. ist unrichtig.

Von Herzen freue ich mich, daß Sie eine 2te Auflage Ihrer „Studienköpfe" vorhaben. Es ist eine neue Auflage jederZeit ein Anerkenntniß, das beweist, daß „man seiner Zeit genug gethan".

Nun aber noch ein peccavi! Mein großer Weber ist bei seinem Umfang sehr correct, Gott sei Dank, denn nicht immer liegt das in der eignen Hand; denn nach der scrupelosesten Correctur (wie ich sie zu machen gewohnt) verdirbt einem noch schließlich der Setzer hinterrücks irgend etwas. Der Fehler, von dem ich aber jetzt reden will, ist leider einzig mein Werk. | In meinem großen Weber steht p. 366 daß die 1ste Aufführung der Euryanthe in Wien am 25. Oct. 1825 statt gefunden habe - das ist falsch! es muß heißen 1823! - (Ist sehr schlimm!)

Und mit diesem reuigen Stoßseufzer (es ist der einzige schlimme Druckfehler des ganzen Buches) drücke ich Ihnen von Herzen die Hand. Vielleicht habe ich die Freude, Sie diesen Sommer zu sehn! Empfehlen Sie mich Ihrer verehrten Frau Mutter, der ich in herzlichster Verehrung gegen Sie, mich nenne Ihren
Ihnen aufrichtig ergebenen
F.W. Jähns.

Apparat

Zusammenfassung

Hat ihr seine Lebensskizze Webers als Aufsatz und Buch geschickt und lobt erneut ihre Arbeiten und beantwortet Detailfragen zu Weber. Freut sich, dass sie eine 2. Auflage ihrer Studienköpfe vorbereite und bekennt ihr einen ihn sehr betrübenden Druckfehler im Werkverzeichnis. Das Uraufführungsjahr der Euryanthe war 1823, nicht 1825!

Incipit

Vielen Dank für Ihr gütiges Schreiben! Wenn ich Ihnen die Lebensscizzen sandte

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Eveline Bartlitz

Überlieferung

  • Textzeuge: Leipzig (D), Stadtgeschichtliches Museum, Bibliothek (D-LEsm)
    Signatur: A/810/2010

    Quellenbeschreibung

    • 4 Bl. (8 b. S.)

Textkonstitution

  • „Sie“über der Zeile hinzugefügt
  • „des Waldmädchensüber der Zeile hinzugefügt
  • pag. 56“über der Zeile hinzugefügt
  • „schwerlich“über der Zeile hinzugefügt
  • C. M. v.“über der Zeile hinzugefügt
  • „haben“über der Zeile hinzugefügt
  • Salzburgerunter der Zeile hinzugefügt
  • „1803“über der Zeile hinzugefügt
  • „1803–4“über der Zeile hinzugefügt
  • „mich“über der Zeile hinzugefügt
  • „die Zeit von“über der Zeile hinzugefügt
  • „eben“über der Zeile hinzugefügt

Einzelstellenerläuterung

  • „… u. zwar in 2erlei Gestalt,“Jähns, F. W., Carl Maria von Weber. Eine Lebensskizze nach authentischen Quellen, in: Die Grenzboten Jg. 31, Nr. 25 u. 26, (14. u. 21. Juni 1872), S. 442–457 u. 481–493; Dass. Mit 1 bisher unbekannten Bildnis Webers, Leipzig: Fr. Wilh. Grunow 1873, 52 S.

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