Friedrich Wilhelm Jähns an Marie Lipsius
Berlin, Montag, 15. Januar 1872

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Mein sehr verehrtes Fräulein.

Gewiß werden Sie Sich schon lange auf’s Äuserste verwundert haben, daß ich so gar nichts von mir hören ließ. Aber alle möglichen prosaischen u. unprosaischen Dinge hatten sich verschworen, mich nicht dazu kommen zu lassen, und heut vor 8 Tagen wäre es fast geschehen, daß ich nie mehr an irgend Jemanden geschrieben hätte, da ich einen erstenAnfall einer Krankheit erlitt, der mich im Sommer nach Carlsbald führen wird und mich jetzt 1/4 Jahr zum Vichy verurtheilt. – Doch das sind lauter Klagelieder zum Anfang eines Briefes, der ein doppelt freundliches Gesicht haben müßte. Verzeihen Sie also!! Erst nach Ihrer Absolution wird es mir wieder leichter werden in geordneter Weise u. mit desinficirtem Gewissen mit Ihmnen zu plaudern.

Erlauben Sie mir, daß ich chronologisch verfahre! Der Tod unserer beiden liebenswerthen Freunde hat den Reigen auf traurige Weise im vergangenen Jahre für uns eröffnet. Es waren mir verhältnißmäßig neue Freunde und doch hat mich deren Verlust recht tief geschmerzt. Ich liebte und verehrte sie, was man im langen Leben nicht von sehr vielen derjenigen sagen kann, die man mit dem Worte „Freunde“ zu taufen pflegt. Ihr Name aber wir für Leipzig als mir stets theuer und unvergeßlich dastehen und mich Ihnen, verehrtes Fräulein, auf immer noch besonders verbinden, die Sie mir ja überdies so gütig gestatteten, mich als Ihnen wahrhaft befreundet anzusehen. Obwohl ich Ihnen nicht schrieb, habe ich doch auf das Theilnehmendste Ihrer, namentlich beim Tode der Frau Gen. Consul gedacht, die, ich wußte es ja, Ihnen so innig nahe stand. – Doch glücklich wer, wie Sie die Kunst u. das Wissen zu unsterblichen Freunden hat. Wie traurig muß das Leben denen sein, die ähnliche Verluste erleiden,
und dieser bleibenden Freunde entbehren! So habe ich denn als Beweis dafür Ihr schönes Werk, was Sie so außerordentlich gütig waren mir zu senden, mit doppelter Freude begrüßt. Doch, um ferner chronologisch zu verfahren – im April vor. Jahres erschien endlich mein Buch über Weber. Im März 1863 hatte ich es begonnen, d. h. direct; indirect, ich glaube es Ihnen gesagt zu haben hat es mich zeitlebens dazu vorbeschäftigt. Es konnte zugleich kaum ein glücklicheres Zusammentreffen von Umständen gedacht werden, um dazu zu befähigen. Für alles das bin ich tief dankbar, denn es wurde mir dadurch möglich, etwas herzustellen, was eben so nothwendig, als mich beglückend und äußerlich zugleich für mich dankbar war. Es war hohe Zeit, Weber in seiner ganzen vollen Wirksamkeit für die Kunst übersichtlich darzustellen – u. welch ein Glück, das was man liebt, in seinem eigentlichen Werthe der Welt darzustellen. – Daß es, dieser gegenüber, mir nun gelang das so auszuführemn, daß man mit mir zufrieden ist, erhöht natürlich dies Glück, und so habe ich mich der vielen durchaus günstigen Kritiken | unendlich dankbar erfreut. Einige zwanzig Rezensionen liegen vor mir, von denen nicht eine einen Tadel bringt, gewiß ein sehr seltener Fall, von denen jede mir mehr des Lobenden ausspricht, als ich irgend nur zu erwarten mich berechtigt gefühlt hatte.

Höchst anerkennende Briefe von Kennern erhöhten meine Freude; aber auch die Anerkennung unsers Kaisers u. unsrer Kaiserin durfte ich nicht unterschätzen, ebenso daß Österreich, Baden u. Coburg mir die Ritterkreuze ihrer schönen Orden, Bayern mir die große goldne Medaille sendeten. –

So ist denn dieser große Schritt im Leben ehrenvoll abgethan, und ich kann, wenn ich früher oder später abgerufen werde, mit dankbarem Herzen auf ihn blicken; und wie wenigen wird das! – –

Sehen Sie, verehrteste Freundin, nicht mit Lächeln auf mich, den eitlen Mann? Thun Sie es nicht! – Meine Freude gilt zu 11 Zwölfteln nicht mir, sie gilt der Sache, d. h. Ihm, dem Meister, u. warlich, ich mache mit mit den 11/12teln noch schlechter, als ich wirklich bin; ich bin ein Mensch mit vielen tüchtigen Schwächen, da aber liegen meine schwächsten Schwächen. |

Im Juli machte ich eine schöne Reise nach München, Lindau, Schaffhausen, dem Schwarzwald, Freiburg, Straßburg pp. Im Herbst schrieb ich allerlei für Gesang für Pfte 2 u. 4 händig u. dergl. mehr. Nächstens sende ich Ihnen ein Heft mit Liedern, die aber nicht zu diesen 71-ger Früchten gehören, sondern in anderer Rücksicht ein Curiosum sind. Das Heft, in Leipzig bei Jul. Schuberth heraus, ist nemlich ein Werk Ihres jungen Freundes, als sich sein Haar noch braunlockig darstellte, denn – (hört, hört!) – seit 19 Jahren hat es der Verleger als sein Eigenthum im Pult liegen gehabt, und jetzt erst 1872 ist es gestochen worden; das älteste dieser Lieder aber stammt aus dem Jahre 1838, alle andern aus der ersten Hälfte der 40-ger Jahre. – So encouragirt man in Deutschland die Componisten, und wie viel Unwürdiges ist seit jenen 19 Jahren erschienen, auch in jener Handlung. Doch das bleibt unter uns! Aber Sie sollen im Februar das Opus des jungen Jähns in Händen halten u. dann sollen Sie recht aufrichtig sagen, ob es nicht vielleicht doch | wohl gerechtfertigt ist, daß es so lange im Kerker lag zur Strafe seiner Sünden. Aber ich glaube, es lag im Kerker aus ganz anderen Gründen als den Sünden, die keiner besser kennt als ich. –

Nun aber zu Ihrem Werke, das mir zu innigster Freude als ein Beweis, daß Sie mir meines langen Schweigens wegen nicht zürnten, im Dezember v. J. übergeben wurde und das mir die freundlichen Widmungs-Zeilen Ihrer Hand nur noch werther machen. – –

Ich habe mit größter Aufmerksamkeit mit größtem Genuß und zugleich zu meiner größten Belehrung Wort für Wort gelesen. Nichts ist mir bei solchen Schriften verhaßter, als ein Hin- und Her-Naschen. Ein Lexikon durchzulesen, kann Niemendem uzugemuthet werden, mein Weber-Buch kann also füglich niemals darauf Anspruch machen. Aber ein solches Buch muß ganz u. gar | gründlich fotgelesen werden. Und wahrlich, Ihr Buch macht einem keine Arbeit daraus. Man wird von Ihrem Styl, Ihrer wohlgeordneten, übersichtlichen Anordnung, Ihrem warmen Gefühl für die Kunst im Allgemeinen wie für den eben besprochenen Helden, Ihren feinen Einblicken in Herz u. Geist desselben und von dem Reichthum des Gegebenen im Allgemeinen, worunter so Vieles Neue u. Alles zusammen in so vortrefflicher Zusammengebundenheit gebracht wird – durch Alles Dies wird man so leicht durch Ihr Werk dahingetragen, daß, indem man lernt, man nur genießt. – An Einzelheiten, die ich, als mich besonders fesselnd, oder mir nach meinem Dafürhalten, als Ihnnen ganz besonders gelungen bezeichnen möchte, könnte ich eine überaus große Anzahl aufführen, und ich bedaure nur, deshalb nicht mit dem Bleistift in der Hand gelesen zu haben. Berlioz gestehe ich | war mir ganz unbekannt; alles, was ich nun über ihn weiß, verdanke ich Ihnen. Über Cherubini u. Boieldieu ist durch Sie mein Wissen wesentlich erhöht worden. Rossini’s Leben war mir ebenfalls sehr fernstehend gewesen; Spontini aber, den ich lange Jahre persönlich gekannt, dessen Glorie u. Fall ich, so zusagen, miterlebt hatte, er war in Ihrer lebensvollen, Theilnahme-erfüllten u. -erweckenden Darstellung ganz besonders fesselnd für mich. Ihre schöne Gerechtigkeit gegen ihn, wie gegen Jeden Ihrer fünf Schützlinge, möchte ich aber als den hervorstechendsten Vorzug Ihrer Arbeit nennen, besonders wenn ich sie mit ähnlichen in neuerer Zeit erschienenen vergleiche. Pikant-Sein, die große Krankheit unserer Literatur, Gepfeffert-Sein, auch wohl mit Schwefelsäure gesättigt-Sein –von Alledem ist Gott sei Dank nichts bei Ihnen zu spüren – und so habe ich denn eine geistige Speise genossen, die | mich mit dem innigsten Behagen erfüllen mußte. – Nehmen Sie also – indem ich auf Einzelheiten somit verzichte – einen großen General-Dank von mir an! Aber auch meinen Weber nehmen Sie freundlich bei Sich auf! – Lange schon hätten Sie ihn, wenn ich nicht angenommen, daß Sie von Seiten unsrer Freundin im Besitz desselben gesetzt seien, da sie ja leider ihn nicht selber lesen konnte. – Nun aber lassen Sie bald von Ihren neuen Arbeiten hören! Ich bin sehr begierig zu erfahren, worauf Sie jetzt ausblicken! –

Indem ich Ihnen von Herzen die Hand reiche und bitte, mich Ihrer Frau Mutter verehrungsvoll zu empfehlen, bin ich in dankbarster Ergebenheit Ihr
treu verehrender
F. W. Jähns.

Apparat

Zusammenfassung

berichtet über sein Ergehen, über Werden u. Erscheinen des WV und die Rezensionen desselben, teilt mit, dass er seit März 1863 daran gearbeitet hat. Dankt für Übersendung eines Buches von ihr, das er mit Interesse gelesen hat, es handelt sich dabei um den 2. Band ihrer Reihe Musikalische Studienköpfe, Leipzig: Weissbach (1872 angezeigt), kündigt ihr Lieder von sich an, die im Februar erscheinen werden. Schickt ihr das WV mit

Incipit

Gewiß werden Sie Sich schon lange aufs Äußerste

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Eveline Bartlitz; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Weimar (D), Stiftung Weimarer Klassik, Goethe- und Schiller-Archiv (D-WRgs)
    Signatur: GSA 59/400,2

    Quellenbeschreibung

    • 2 DBl., 1 Bl. (9 b. S. o. Adr.)

Textkonstitution

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  • „nicht“unter der Zeile hinzugefügt
  • „mir“über der Zeile hinzugefügt
  • „ihn“über der Zeile hinzugefügt

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