Dramatisch-musikalische Notizen (Dresden): „Johann von Paris“ von François Adrien Boieldieu
Dramatisch-musikalische Notizen.
Als Versuche, durch Kunst-Geschichtliche Nachrichten und Andeutungen
die Beurtheilung, neu auf dem Königl. Theater zu Dresden erscheinender Opern zu
erleichtern.
Von Carl Maria von Weber.
Sonnabend, den 3. Mai, zum erstenmal: Johann von Paris, Oper in 2 Aufzügen, nach dem Französischen des St. Just*, mit Musik von Boieldieu*.
Die Gattung, welcher diese Oper angehört, hat sich seit einem Jahrzehend und drüber, in Frankreich gebildet, und von da auch über Deutschland verbreitet. Man hat sie mit der Benennung von Conversations-Opern zu bezeichnen gesucht, da sie meist ohne Rücksicht auf ihre historischen Beziehungen – durch welche sie uns zuweilen sehr fern gerückt werden, – doch nur das eigentliche Geselligkeits-Leben der jetzigen, oder vielmehr zunächst der französischen, Welt enthalten.
Sie sind die musikalischen Schwestern der französischen Lustspiele, und geben uns, wie diese, das an jenerΔ Nation Liebenswürdigste. Heitere Laune, spielender fröhlicher Witz, auf angenehme Weise durch einige hübsche Situationen herbeigeführt, sind diesen OpernΔ eigenthümlich, und durch den Geschmack der Nation so zur Hauptsache erhoben, daß man (wie bei ihren Lustspielen) eine sehr große Zahl derselben nennen könnte, die sich in Hinsicht der Art der Erfindung, in Zuschnitt, Behandlung und Charakterzeichnung, beinahe völlig gleichen; und nur durch die mehr oder minder glückliche Behandlung des einmal beliebten Materials von einander unterschieden und anziehend werden können.
Sie treten im Gegensatz des dem deutschen und italienischen Gemüthe eigenen tiefern leidenschaftlichen GefühlsΔ, als Repräsentanten des Verstandes und Witzes auf. Namentlich und hauptsächlich in musikalischer Hinsicht. So wie der deutschen innigen Phantasie ein einzeln gegebener Gedanke genügt sie aufzuregen, um in herrlichen Massen ein Tongemälde auszuführen, – der glühenden italienischen oft das einzelne Wort, – Liebe, Hoffnung, etc. dasselbe erzeugt (was dann auch allenfalls wieder, dieser Worte entkleidet, doch noch als sprechendes Seelenbild allein durch sich bestehen würde, wie die höhere Instrumentalmusik z. B.) – so ist es der französischen Musik eigen, nur meist durch das Wort allein Werth zu haben, da sie ihrer Natur und Nationalität nach, witzig ist.
Den ausgezeichneten Meistern der Kunst bleibt es vorbehalten, diese Gattungen, von einzelnen Nationalcharaktern erschaffenΔ, einander zu nähern, zu verschmelzen, und so der Welt angehörig zu machen. Unter diesen wenigen möchte Boieldieu wohl fastΔ den ¦ ersten Rang der jetzt in Frankreich lebenden Componisten behaupten; wenn gleich der Beifall des Publikums ihm Isouard an die Seite setzt. Beiden sind herrliche Talente verliehen, aber Boieldieu wird durch seinen fließenden, schön geführten Gesang, durch die planmäßige Haltung der einzelnen StückeΔ, wie des Ganzen, durch die treffliche sorgsameΔ Instrumentirung, und dieΔ Korrektheit, die den Meister bezeichnend,Δ allein Anspruch auf Dauer und classisches Leben in der Kunstwelt giebt, – immer weit allen seinen Mitbewerbern vorgehen.
Wenn er darin Mehul gleich zu achtenΔ ist, so zieht ihn anderntheils seine Neigung mehr zu heiteren italienischen Formen, und er stellt das Musikalisch-melodische höher, ohne der Wahrheit des Wortausdruckes deßhalb etwas zu vergeben.
Dieser charakteristische Zug seiner Kunstschöpfungen ist ein doppelt großer Beweis seines selbstständigen Talentes, da er als Δ Verehrer Cherubinis, den größten Theil seiner Studien bei diesem Meister gemacht haben soll.
Die ersten GrundlagenΔ erhielt er von Broche, dem Organisten der Domkirche seiner Vaterstadt Rouen, wo er um das Jahr 1770 geboren wurde.
In den 90er Jahren kam er nach Paris, erhielt die Stelle als Lehrer des Pianoforte’s am Conservatorium der Musik, und zog bald die Aufmerksamkeit des Publikums durch mehrere gelungene theatralische Werke, und eine Anzahl vielgesungener und beliebt gewordener Romanzen, auf sich.
Von 10 – 12 Opern, die in diese Epoche fallen, haben sich in Deutschland am meisten verbreitet – Ma Tante Aurore undΔ Le Calife de Bagdad. 1813Δ* wurde er in Petersburg zum Kaiserl. Kapellmeister ernannt, ist aber seitdem wieder nach Paris zurückgekehrt.
Das bedeutendste Aufsehen machte sein Johann von Paris, der überall Verehrer fand, und dessen Erscheinen auf unserer Bühne wir der trefflichen Künstlerin Mad. Grünbaum, geborne Müller, Erster Sängerin des Ständischen Theaters zu Prag, die die Prinzessin von Navarra als Gastrolle geben wird, zu verdanken haben. Neuerdings Le nouveau Seigneur de VillageΔ, und neustens sein Fête du Village voisin.
Eine große Oper: Isaure de FranceΔ, und eine komische: Le Chaperon rouge, von ihm, werden jetzt auf der Pariser Bühne erwartet*.
Als Instrumental-Componisten kennt man ihn durch verschiedene Sonaten, Conzerte etc. für Pianoforte und Harfe, die aber seinem Verdienste eben keinen namhaften Zuwachs zu verschaffen im Stande sind, das sich um so erfreulicher für das Dramatische entfaltet hat.
Apparat
Zusammenfassung
zuerst erläutert Weber die Gattung der Konversationsoper, zu der die Oper gehört; dann folgt Charakterisierung des Komponisten; er benennt weitere seiner Werke, ohne näher auf das vorliegende Stück einzugehen
Entstehung
28./29. April 1817 (laut TB)
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Fukerider, Andreas
Überlieferung in 2 Textzeugen
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1. Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 1, Nr. 105 (2. Mai 1817), Bl. 2v
Dazugehörige Textwiedergaben
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HellS III, S. 95–99
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MMW III, S. 142–144
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Kaiser (Schriften), S. 287–289 (Nr. 113)
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2. Textzeuge: Entwurf: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
Signatur: Weberiana Cl. II A f 3. 23εQuellenbeschreibung
- über dem Ms Titel: „Dr: m: Notizen pp.“; Incipit: „Sonnabend d: 3t. May. zum erstenmale, = Johann von Paris.“; datiert: „Dresden d: 28 und 29t. Aprill 1817.“
- von Jähns pag. mit 2–4; auf Bl. 1v und 2r und v von DBl. (Format 33,3x20,6 cm, WZ: bekröntes Wappenschild, Gegenmarke: KIRCHBERG, Kettlinien ca. 2,5 cm) bei MMW und Kaiser datiert mit 1. Mai 1817; im TB unter diesem Tag keine Angabe, jedoch 28. April: Aufsaz über Joh: v. P: geschrieben.; 29. April: bis 12 Uhr den Aufsaz über J: v: P: vollendet. sowie 30. April: Abschreiben des Aufsazzes
Textkonstitution
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„Gefühlens“sic!
Einzelstellenerläuterung
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„… dem Französischen des St. Just“Claude Godard d’Aucourt de Saint-Just (1768 o. 1769–1826).
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„… , mit Musik von Boieldieu“Vgl. TB-Eintrag, den Bericht in der Abend-Zeitung und Webers Brief an C. Brandt vom 4.(/5.) Mai 1817. Weber hatte das Stück bereits 1814 in Prag einstudiert mit Caroline Brandt als Diener Olivier, vgl. das Prager Notizenbuch sowie den Spielplan 1814T.
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„… Calife de Bagdad . 1813“Jahresangabe 1803 im Entwurf ist korrekt.
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„… auf der Pariser Bühne erwartet“Vgl. Ankündigung der Pariser Aufführungen von Clemence Isaure ou les jeux Floraux durch die Académie Royale de Musique sowie Le Petit Chaperon rouge im Theater Feydeau in der AmZ, Nr. 8 (19. Februar 1817), Sp. 151f.
Lesarten
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Textzeuge 1: „jener“Textzeuge 2: „dieser“
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Textzeuge 1: „diesen Opern“Textzeuge 2: „ihnen“
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Textzeuge 1: „Gefühls“Textzeuge 2: „Gefühlens“
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Textzeuge 1: „diese Gattungen, von einzelnen Nationalcharaktern erschaffen“Textzeuge 2: „die Gattungen, die NationalCharakter schufen“
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Textzeuge 1: „fast“Textzeuge 2: Text nicht vorhanden.
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Textzeuge 1: „Stücke“Textzeuge 2: „Theile“
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Textzeuge 1: „durch die treffliche sorgsame“Textzeuge 2: „der trefflichen sorgsamen“
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Textzeuge 1: „die“Textzeuge 2: „der“
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Textzeuge 1: „bezeichnend,“Textzeuge 2: „zeigt, und“
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Textzeuge 1: „achten“Textzeuge 2: „stellen“
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Textzeuge 1: Text nicht vorhanden.Textzeuge 2: „großer“
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Textzeuge 1: „ersten Grundlagen“Textzeuge 2: „Grundlage“
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Textzeuge 1: „und“Textzeuge 2: „et“
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Textzeuge 1: „1813“Textzeuge 2: „1803“
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Textzeuge 1: „Le nouveau Seigneur de Village“Textzeuge 2: „Le nouveau Seigneur de Village /: der neue Gutsherr :/“
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Textzeuge 1: „Isaure de France“Textzeuge 2: „Isaure de France, ou les jeux floraux“