Aufführungsbesprechung Lemberg: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber am 6. September 1823 (Teil 2 von 3)

Zurück

Zeige Markierungen im Text

Lemberg *).

(Fortsetzung.)

Das infernalische Freykugelgesetz, nach welchem unter 63 Kugeln, 60 treffen, 3 äffen, hat der Verfasser dahin abgeändert, das er die Anzahl der Kugeln auf 7 beschränkt, wovon 6 dem Schützen dienen, die siebente aber in der Gewalt des Teufels ist. Dadurch kommt zwar der Teufel dem ersten Anschein nach in grossen Vortheil; schon der siebente Schuss wird sein, während der bey Apel der ein und zwanzigste, ja streng interpretirt, erst der ein und sechzigste ist; dafür aber können nach Kind diese 7 Freykugeln auch nur bey totaler Mondesfinsterniss gegossen werden, und so gewinnt die Bühne ohne wesentliche Vermehrung der satanischen Macht auf Erden, drey Dinge von grossem Werthe: eine Mondschein-Decoration, eine Verdunkelung (bey eingetretener Mondesfinsterniss) und eine kürzere Dauer des Kugelgusses.

Die Zuschauer, welche gerade dieses Kugelgusses wegen den Freyschützen lieben, werden freylich wohl den letztgenannten Umstand eher für einen Verlust, als für einen Gewinn halten; aber sie würden taub nach Hause kommen, wenn 63 Kugeln gegossen würden, unter dem Toben aller Elemente auf der Bühne und aller Instrumente im Orchester. Was jenes Toben anlangt, so hat es der Dichter Seite 83 folgendergestalt beschrieben:

"Der ganze Himmel wird schwarze Nacht, die vorher mit einander kämpfenden Gewitter treffen zusammen, und entladen sich mit furchtbaren Blitzen und Donnern. Platzregen fällt, dunkelblaue Flammen schlagen aus der Erde; Irrlichter zeigen sich auf den Bergen. Bäume werden prasselnd aus der Wurzel gerissen; der Wasserfall schäumt und tobt; Felsstücke stürzen herab. Man hört von allen Seiten Wettergeläut. Die Erde scheint zu wanken." ¦

Referent findet es in der Ordnung, dass der Teufel die Irrlichter aus den Sümpfen auf die Berge versetzt; aber dass die Flammen früher aus der Erde brechen, als die Irrlichter auf den Bergen sich zeigen, das ist nicht die rechte Ordnung der Dinge; dadurch werden die Irrlichter ganz ausser Stand gesetzt, Effect zu machen. Und wenn der Wasserfall nur schäumt und tobt, so thut er offenbar zu wenig: in einen Feuerfall muss er sich verwandeln, wenn er rechten Effect machen soll.

Man hat es getadelt, dass im dritten Acte Agathe sich als Braut schmückt, und von den Brautjungfern sich ansingen lässt, ehe noch der Probeschuss gethan ist, von dessen Gelingen ihre Brautschaft abhängt. Aber in der Oper ist diese Präcipitation wohl erlaubt, und um des Brautjungfernliedes willen wird auch die Dichtkunst den dramaturgischen Verstoss wohl verzeihen. Man lese es nur:

Wir winden dir den Jungfernkranz
Mit veilchenblauer Seide.
Wir führen dich zu Spiel und Tanz
Zu Glück und Liebesfreude!
Lavendel, Myrt’ und Thymian,
Das wächst in meinem Garten;
Wie lang bleibt doch der Freyersmann?
Ich kann es kaum erwarten.
Sie hat gesponnen sieben Jahr,
Den goldnen Flachs am Rocken,
Die Schleyer sind wie Spinnweb’ klar,
Und grün der Kranz der Locken.
Und als der schmucke Freyer kam,
War’n sieben Jahr verronnen,
Und weil sie der Herzliebste nahm,
Hat sie den Kranz gewonnen.


Und zwischen jeder Strophe das Tutti:

Schöner grüner Jungfernkranz,
Veilchenblaue Seide!


Wer fühlt hier nicht, auch ohne Musik, den ganzen Zauber der Volkspoesie? Und dennoch wird er oft überbothen durch die Romanze, womit Annchen die traumglaubige Agathe zu zerstreuen sucht:

Einst träumte meiner sel’gen Base
Die Kammerthür’ eröffne sich,
 ¦ Und – kreideweiss ward ihre Nase;
Denn näher, furchtbar näher schlich
Ein Ungeheuer
Mit Augen wie Feuer,
Mit klirrender Kette – –
Es nahte dem Bette
In welchem sie schlief – 
Ich meine die Base
Mit kreidiger Nase –
Und stöhnte ach! so hohl! und
 ächzte ach! so tief!Sie kreuzte sich, rief,
Nach manchem Angst- und Stossgebet:
Susanne! Margreth!
Und sie kamen mit Licht –
Und – denke nur? – und –
Erschrick mir nur nicht!
 –Und – graus’t mir doch! und –
Der Geist war – Nero – der Kettenhund!


Ironie bey Seite! Könnte denn im Brautjungfernliede nicht auch ein zusammenhängender Sinn seyn, der veilchenblauen Seide unbeschadet? Nicht wenigstens Continuität der Vorstellungen, wie in dem artigen Liede: „Kommt ein schlanker Pursch gegangen?“ – Und wäre das Ziel der Popularität in der Opernpoesie nicht auch ohne die kreidige Nase der Base zu treffen gewesen? Freylich sind Unsinn und Abgeschmacktheit Freykugeln, welche in guter musikalischer Form gegossen, dieses Ziel nicht leicht fehlen, aber der wahre Dichter muss es auch mit den Pfeilen Apollons zu treffen wissen. So viel von dem genannten Operntexte, als einer litterarischen Erscheinung. Es wird hinreichen, das Urtheil zu begründen, dass der Verfasser die grosse Aufgabe nicht gelöset hat: eine Oper zu dichten, welche im Stande sey, die Ansprüche der dramaturgischen Dichtkunst und der Musik gleichzeitig zu befriedigen. Und das ist das Ziel, welches der Dichter treffen muss, um bey solchen Gelegenheiten Schützenkönig zu werden. Widrigenfalls singt ihn die muthwillige Kritik wohl hie und da mit den Worten Kilians an:

Cantors Sepherl trägt die Scheibe,
Hat er Augen nun Mosje? 
Was traf er denn? He? He? He?


(Schluss folgt.)

[Originale Fußnoten]

  • *) Die Redaction behalt es sich vor, über diesen Artikel aus der Lemberger Zeitung ihre eigenen Ansichten nachzutragen.

Apparat

Zusammenfassung

über die Aufführung in Lemberg am 6. September 1823: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber. Die Rezension verteilt sich über drei Nummern, in Teil 1 und 2 wird ausführlich aus dem Morgenblatt 1822 zitiert

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Schreiter, Solveig

Überlieferung

  • Textzeuge: Allgemeine Musikalische Zeitung, mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat, Jg. 7, Nr. 81 (8. Oktober 1823), Sp. 646–648

Textkonstitution

  • „behalt“sic!

      XML

      Wenn Ihnen auf dieser Seite ein Fehler oder eine Ungenauigkeit aufgefallen ist,
      so bitten wir um eine kurze Nachricht an bugs [@] weber-gesamtausgabe.de.