Aufführungsbesprechung Lemberg: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber am 6. September 1823 (Teil 1 von 3)

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Lemberg.

Am 6. Sept. der Freyschütz. Dlle. Göbel* vom pohlnischen Theater (Agathe) zum zweyten Debut[.]

Wir theilen unsern Lesern bey dieser Gelegenheit auch einige Worte über den Text dieser bey uns, wie überall so beliebten Oper mit*, und werden nach dessen Beurtheilung erst zur heutigen Darstellung derselben übergehen.

Es scheint zwar unzweckmässig, einen Operntext einer dramaturgischen Kritik zu unterwerfen, da jedoch der Bearbeiter desselben (Frd. Kind) das Product eine mit Neigung ausgeführte Dichtung nennt, welche andere zu ähnlichen Bestrebungen ermuntern soll, der Oper, wie sie der Deutsche verlangt, höhere Würde zu verleihen; so kann die Kritik die Sache nicht ganz mit Stillschweigen übergehen: es muss ein wenig nachgesehen werden, was hier für höhere Würde etwa geschehen seyn möchte.

Die einfache Sage *) ist von guter, volksmässig-moralischer Tendenz. Ein junger Weidmann frommen Gemüthes liebt, und eben, weil er liebt, und weil der Besitz der Geliebten von einem bevorstehenden Probeschusse abhängt, trifft er das Wild nicht mehr. Da wirft der Satan seine Angel nach ihm aus, und verleitet ihn Freykugeln zu giessen, welche nach dem weidmännischen Aberglauben die Eigenschaft haben, dass 63 (7 mahl 9) Stücken 60 nach dem Willen des Schützen treffen, drey aber nach dem Belieben des Satans. Mit einer der letzt genannten thut er den Probeschuss, statt in das Ziel des Schützen fährt die Kugel in das Gehirn ¦ der Geliebten, der Verzweifelnde stirbt als Wahnsinniger, als Selbstmörder, auf dem Schafot, oder wie man sonst will, und sein Schatten jagt bis zum jüngsten Gericht mit dem wüthenden Heere. Das ist billig, warum hat er nicht auf Gott und auf seine eigene Kunst gebaut? warum hat er mit Satanskünsten irdisches Glück erjagen wollen? Das ist die Moral der Fabel. Wer von Gott sich wendet, gehört dem Satan. Göthe’s Faust, Bürgers Lenore und eine zahllose Menge von Teufelsromanzen ruhen auf der Basis dieser volksthümlichen Grundidee, und eine Oper, welche diese Moral dichterisch ausführte, würde in der That eine weit höhere Würde an sich tragen, als alle diejenigen, in welchen sich ausserordentliche, geistige, gespentische Wesen lediglich zur Ergetzlichkeit einer kindischen Phantasie herumtummeln, und der Theatermechanik zur Entfaltung ihrer optischen Wunder Gelegenheit geben.

Aber gerade diesen moralischen Kern hat der Bearbeiter zu muthlos oder zu schwach zu dem Versuche, einen Tonsetzer zu einem Don Juan zu begeistern, sorgfältig aus der bearbeiteten Volkssage herausgeschält, und ihren Sinn durch das theaterthümliche Correktiv eines erwünschten Ausganges, einer vom Himmel fallenden Errettung entkräftet. Ein dem Teufel schon verfallener Freyschütz verführt den Helden zu dem verderblichen Kugelguss, theils um sich an der Geliebten desselben, die ihn verschmäht hatte, zu rächen, theils um den Satan zu einer Verlängerung des Contractes zu bestimmen. Der Teufel ist geneigt zu prolongiren: um den Preis: Zwey für Einen. Aber in einem frommen Einsiedler steckt der Genius, der das Haupt der Braut beschützt; die äffende Teufelskugel, womit der Probeschuss geschieht, äfft den Teufel selbst, sie trifft nicht das Mädchen, sondern den Freyschützen Caspar. Der verführte Max kehrt um auf der Bahn zur Hölle, und unerachtet des misslungenen Probeschusses sichert ihm der Fürst die Erfüllung seiner Wünsche nach Ablauf eines wohlbestandenen Probejahrs zu.

Wo soll nun hier die höhere Würde sitzen? Doch wohl nicht in dem erwünschten Ausgange? Referent kann die Kind’sche Bearbeitung der Apel’schen Volkssage für nichts anders halten, als für eine bequeme Zubereitung des romantisch-tragischen Stoffes nach dem Geschmacke der Menge, welche nun einmahl will, dass auf der Bühne Alles am Ende ¦ gut oder wenigstens leidlich ablaufen soll. Inzwischen ist er dabey nicht zu Werke gegangen, wie ein gewöhnlicher Theaterbeschneider. Er hat sich bemüht, den Schein zu gewinnen, als ob die Sache nicht anders ablaufen könnte, indem er das Drama gleich Anfangs auf eine rettende Catastrophe zugeschnitten. Der Operntext hebt hier, im Druck, mit einer Vision des Einsiedlers an, welcher in der Oper, so wie auf der Bühne zu erscheinen pflegt, erst viel später als ein Deus ex machina auftritt. Dieser kniet später vor einem Altar; sieht während einer, von der Musik ausgefüllten Pause, wie der Versucher seine Riesenfaust nach einem unbefleckten Lamme (seiner, des Einsiedlers Pflegerinn, Agathe) ausstreckt, und den Fuss ihres Bräutigams zu umstricken trachtet; bethet hierauf mit brünstiger Andacht:

Herr, vernimm des Greises Flehen!Lass den Frevel nicht geschehen!Schirm’, o Herr, der ewig wacht,Vor des Bösen Trug und Macht!

und nachdem er Agathen, die ihm eben Früchte und Milch bringt, seine Ahnung mitgetheilt hat, findet er durch eine innere Stimme sich veranlasst, sie heute nicht ohne Gegengabe zu entlassen.

"Dieser Rosenstock, dessen erstes Reislein meinem Vorgänger ein Pilger aus Palästina mitbrachte, ist wunderlieblich emporgewachsen. Jeden Frühling blüht er aufs Reichste; ich sammle und presse die Blätter, und die Landleute schreiben dem Rosenwasser wunderbare Schutz- und Heilkräfte zu." – Von diesem Rosenstocke schenkt er ihr einige weisse Rosen, und in dem Zwiegesange:

Eremit.

Auch sollst du nicht vergessen:Man muss die Rose pressen,Eh Heilung sie gewährt.

Agathe.

So wird zu reinern FreudenDas Menschenherz durch LeidenGeläutert und geklärt!

ist zu der dramaturgischen Nothwendigkeit der rettenden Catastrophe der Grund gelegt: soll der Ausgang auf diesen Eingang passen, so muss jener glücklich seyn, obschon dieser sehr unglücklich ist. Dafür hat ihn wenigstens der Tonsetzer gehalten, er hat denselben gestrichen, und seine Oper mit dem Volksfeste des Sternschiessens eröffnet, worin ihm gewiss alle diejenigen Beyfall geben werden, welche irgend einen Begriff von dem Wesen der ¦ Oper-Ouverture haben *). Dem Verfasser des Textes scheint dieser Begriff gemangelt zu haben, weil sonst durchaus nicht zu begreifen wäre, warum er die Eremitenscene nicht hinter die Expositionsscene verlegte, wo sie überdiess verständiger und folglich auch wirksamer seyn würde. Ehe der Zuschauer an einer Vorahnung des Ausgangs Antheil nehmen kann, muss er von der Verwicklung doch wenigstens etwas wissen: hier weiss er, als der Eremit seine Vision hat, noch gar nichts davon.

Ungeachtet dieser Vorbereitung zu einem rettenden Ausgange hat der Verfasser sich nicht entschließen können, dem veränderten Zwecke diejenigen Hülfsmittel aufzuopfern, welche Apel in der Erzählung angewandt hat, um die Gemüther seiner Leser auf eine Verderben bringende Catastrophe vorzubereiten; er hat sich nicht enthalten können, mit den tragischen Hebeln zwecklose Bewegungen zu machen. Das Bildniss von Agathens Anherrn, welches durch Herabfallen Unheil droht, möchte hingehen; man kann es allenfalls für eine, aus der Geisterwelt herüber kommende Hindeutung auf blosse Gefahr nehmen, obwohl es dann als dramaturgisch überall erscheint, weil zur Zeit dieser Hindeutung an der Gefahr nicht der mindeste Zweifel mehr obwalten kann. Aber was soll das bestimmte Anzeichen des Unglücks: der Todtenkranz, welcher Agathen statt des Brautkranzes gebracht wird? In der Erzählung ist er am Platz: er bereitet das Gemüth auf den Schlag der tragischen Catastrophe vor. Hier – erscheint er als ein Theaterstreich, der leere Furcht erregt, und mithin auf diejenigen Zuschauer, die das Stück nicht eben zum ersten Male sehen, entweder gar nicht oder zweckwidrig wirkt. Zwar hat der Verfasser diese Verwechslung der Kränze nicht ungeschickt zu seinem Rettungszwecke benutzt; der Mangel des Brautkranzes veranlasst Agathen zu dem Vorschlage, dass man ihr einen aus den weissen Rosen des Eremiten winden möchte, die dann, aus Palästina abstammend, ihr Haupt vor der Macht des Satans beschirmen. Aber eben weil, um Agathen auf diesen Einfall zu bringen, der blosse Mangel des rechten Brautkranzes hinreichte, ohne dass es des Todtenkranzes bedurfte: so bleibt der Gebrauch des tragischen Hebels aus der Erzählung, bey nicht tragischem Zwecke des Drama, immer ein Fehler, welcher auf Mangel an Erfindungskraft hindeutet.

(Schluss folgt.)

[Originale Fußnoten]

  • *) Apel und Laun eröffneten vor zwölf Jahren ihr Gespensterbuch damit.
  • *) Andere führen jedoch sehr speciöse Gründe für die Meinung an, dass der Verfasser das Stück mit einer Scene des Geistergrauens zwischen Samiel und Caspar hätte eröffnen sollen, und der Tonsetzer würde damit auch gewiss zufrieden gewesen seyn.

Apparat

Zusammenfassung

über die Aufführung in Lemberg am 6. September 1823: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber. Die Rezension verteilt sich über drei Nummern, in Teil 1 und 2 wird ausführlich aus dem Morgenblatt 1822 zitiert

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Schreiter, Solveig

Überlieferung

  • Textzeuge: Allgemeine Musikalische Zeitung, mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat, Jg. 7, Nr. 79 (1. Oktober 1823), Sp. 627–630

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