Chronik der Königl. Schaubühne zu Dresden vom 18. März 1817 (Teil 1 von 2)

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Am 18. März: Clementine oder Reue und Versöhnung, nach dem Französischen von Mad. Weissenthurn. Herrn Wohlbrück’s vierte Gastrolle. Das Stück ist unter denen, die man Comedies larmoyantes zu nennen gewohnt ist, eines der erträglichsten. Die deutsche Bearbeitung hat unstreitig dem französ. Dichter (Pelletier=Volmeranges) vieles genommen und geliehen, wodurch das Stück uns mehr anmuthet. Aber Mamsell Felicitas ist in dieser Breite und oft ins Platte ausartenden Geschwätzigkeit schwerlich so auf Pariser Boden gewachsen. Die reuige Tochter Clementine und der durch ihren Fehltritt so beleidigte, seit 8 Jahren unversöhnliche Vater Wittburg sind gut durchgeführt. Obgleich das Ganze vom Anfange an nur auf dem einzigen großen Theatercoup hinausleitet, womit das Stück sehr überraschend schließt, so fehlt es doch nicht an tief ergreifenden Situationen. Wittburg ist ein Menandrischer Selbstpeiniger, aber die Motive seiner Selbstpeinigung ist weit egoistischer, einem in Selbstsucht versunkenen Zeitalter angemessener. Die mit ihrem Liebhaber entflohene Tochter hat ihn um alle seine Lebensfreuden durch endlosen Kummer betrogen. Dieß empört sein Innerstes. Er flucht ihr, weil sie ihm sein Lebensglück zerstört hat, und doch ist er übrigens der weichste, gefühlvollste Mensch. Dieß ist, genau erwogen, eine psychologische Lüge. Aber um so größer mag das Verdienst des Künstlers seyn, in diesen innern Widerspruch durch musterhaftes Spiel Einheit zu bringen und die Unnatur zu verschleiern.

Herr Wohlbrück entwickelte in dem Spiele des gekränkten und jede Berührung seiner Wunde hartnäckig zurückstoßenden Vaters ein weit tieferes Spiel, als viele, die das nicht ahnden, und, was hier in Einklang zu bringen ist, zu würdigen verstehen. Er hatte es mit einem großen Vorbilde zu thun. Iffland spielte diese Rolle mit der ihm eignen Kunst, edle Väter großartig aufzufassen und in die Familiengemälde, in welchen alltägliche Lebensverhältnisse nur durch großen Kunstaufwand in der Darstellung zu Etwas werden können, eine Art von tragischem Stil zu bringen. Natürlich mußte Wohlbrück, wenn er aus Sucht selbst Original zu seyn nicht das Schlechtere wählen wollte, in sehr vielem Ifflanden ähnlich erscheinen. So riefen viele gleich bei seinem ersten Eintritt: das ist nach Iffland! Indeß ist sein Spiel doch keineswegs Copie. Nein, er bahnte sich in vielem seinen eigenen Weg und befriedigte dadurch alle, die eine richtig durchgeführte Rolle der Art schätzen mochten. Der Mann hat einen Stachel des Schmerzes in seiner Brust, der immer ritzt und verwundet, beim Anblick fremder Familienfreuden sich tiefer eingräbt, den er möglichst niederzukämpfen und zu verbergen sucht. Vortrefflich gelangen nun zu diesem Zwecke dem Künstler alle die Mienen, abwehrenden Händebewegungen, schnell erpreßten Interjectionen, das was die Italiener sospiri tronchi nennen, in den Scenen, wo er von ganz gleichgültigen Dingen sprechend von schnell aufsteigenden Kummerbildern und Erinnerungen feindlich angefallen wird. Aber wo von außen eine heilende Hand sich nähern, wo ein besänftigendes Wort hinzutreten will, da lodert eine bittere Empfindlichkeit, ja selbst eine Zornflamme auf, die mit feiner kindlichen Gutmüthigkeit und Theilnahme an seinen Bedienten und Umgebungen im schroffen Contrast steht und es furchtbar ahnen läßt, daß in diesem mit Asche umlegten Crater eine glühende Leidenschaft brennt. Auch diese Uebergänge malte Herr Wohlbrück, wie ein wahrer Seelenmaler, aber auch, was allein den Künstler beurkundet, mit feiner Schattirung und Spar ¦ kunst auf den Moment der höchsten Steigerung, der ohnstreitig da eintritt, wo er nochmals den Fluch ausspricht. Zu dem gelungensten in dieser ganzen Darstellung gehört aber die Scene, wo er bis zur Wiederholung des Fluchs aufgereizt wird. Wie treffend ward hier gleich beim Eintritt in diesen Gartensaal, den er seit 8 Jahren nicht wieder betreten hatte, weil er an das nie besuchte Wohnzimmer seiner unglücklichen Tochter stößt, sein Betroffenseyn und der innere Kampf uns vor Augen gebracht. Wie packt ihn da der plötzliche Anblick dieser alten Geräthschaften, die sich ihm gleichsam ankrallen oder in jammernden Fantomen ihn umschweben! Und als nun der hereingerufene Knabe zwar die Bitterkeit benommen, aber auch neuen Stoff zur Selbstqual dargeboten hat, wie herzzerschneidend tönt da das Wort: ich habe keine Kinder! Mit der rührendsten Weichheit gab er den Abgang, als er hinaus muß, um Luft zu schöpfen. Eine Welt voll Gefühl lag in dem zweimal wiederholten: glücklicher Vater! Er ist schon an der Thüre. Da kehrt er noch einmal um. Krampfhaft Walting’s Hand ergreifend, haucht er noch einmal leise und immer leiser ihm das: glücklicher Vater! in die Brust. Sein stumm=beredtes Mienenspiel, die sprechende Geberdung der immer ängstenderen Beklemmung beim Vorlesen des Briefs, welcher übrigens viel zu pathetisch als Brief vorgelesen wurde, entging der Aufmerksamkeit der Zuschauer keineswegs. Sehr gut gelang auch, so viel an ihr war, die vorletzte Scene mit Paul, die gleichsam als Gewitterableiter wirken und alle noch vorhandene Empfindlichkeit entladen soll. Wahrhaft erschütternd wurde durch Wohlbrück’s stets besonnenes, (für den Sehenden stets) vorbereitendes und doch immer natürliches Spiel die letzte Erkennungsscene gegeben. Als er beim Anblick der Tochter und des Kindes hinter dem Bilde, vom Gefühl überwältigt sich hinsetzen muß, war dieß offenbar auf ein stufenweises Zusammensinken berechnet, und so wollte er sich erst an die Stuhllehne stützen und dann erst halbohnmächtig in den Stuhl fallen. Aber dazu ließ es leider des Schauspielers, der uns den Paul gab, unweiser Eifer nicht kommen, der ihn sogleich unterlief und fest hielt! Ueberhaupt hatte der Künstler mannichfaltige Erkältung von dem mehr hemmenden als förderndne Paul aus= und abzuhalten, und doch kommt auf das herzerhebende, frohermunternde Spiel dieses treuen Dieners viel mehr an, als der Schauspieler, der sich hier so vergriff, wohl je geahndet haben mag. Auf der Berliner Bühne spielte Herdt den Paul, laut der dramaturgisches Blätter, zu grandios*. Wir wissen das Wort nicht zu finden, welches diesem gerade entgegen steht. Aber sei es auch, welches es wolle, den Gegensatz gab die gedehnte Langsamkeit, die heute das Stück um sechs Minuten über die Gebühr verlängerte!

Um so preißwürdiger war das Spiel aller übrigen Künstler, die Herrn Wohlbrück’s Leistungen trefflich unterstützten. Herr Kanow als Walting spielte mit so viel gehaltener Ruhe und edlem Stolz in den frühen, mit so viel Weichheit und Gemüthlichkeit in den späten Scenen, daß wir dem herzlichen Wunsch, den ausgezeichneten Künstler stets so zu sehen, gern eine Zunge geben. Selbst die treuherzige Rolle des Jacob erhielt durch Herrn Künzel ihr volles Recht und Mad. Drewitz als Felicitas, Luise Wagner als Fritz standen an ihrem Platz. Vor allen aber wurde Clementinens Rolle durch Mad. Hartwig vollkommen ausgefüllt. Sie gab diese stark aufgeregte, im leidenschaftlihcen Kamp mit der schroffen Aussenwelt bis zum tragischen Cothurn aufsteigenden Rolle mit aller gereizten Heftigkeit und Lebendigkeit in dem Ausbruche des reuigen Schmerzes, wodurch das Schlußwort Versöhnung! kunstgerecht herbeigeführt wird.

(Der Beschluß folgt.)

Apparat

Zusammenfassung

Aufführungsbericht: „Clementine oder Reue und Versöhnung“ von Johanna Franul Weißenthurn am 18. März 1817. Vierte Gastrolle von Johann Gottfried Wohlbrück.

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Albrecht, Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 1, Nr. 77 (31. März 1817), Bl. 2v

    Einzelstellenerläuterung

    • „… dramaturgisches Blätter , zu grandios“Vgl. Dramaturgisches Wochenblatt in nächster Beziehung auf die königlichen Schauspiele zu Berlin, 2. Halber-Jg., Nr. 20 (18. Mai 1816), S. 160 (zur Aufführung am 11. Mai 1816, ebenfalls mit Wohlbrück als Wittburg).

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