Chronik der Königl. Schaubühne zu Dresden vom 18. September 1817: Grillparzer, Die Ahnfrau (Teil 3 von 3)

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Die Ahnenfrau.

(Beschluß.)

Wie tief motivirte der Künstler! Il n’ y a que le premier pas qui coute; wie tief verstand ihn die Künstlerin. Herrliche Mimik des Schreckens, der großen Schröder ganz würdig, als sie aus dem leer gefundenen Schlafzimmer wieder herausstürzt! Daß der Theatercoup mit der durch einen geschickten Wurf des Schnupftuchs zuzudeckenden Scherpe, die sie dem Schein nach blos in Gedanken, aber sehr studirt zusammen gelegt hatte, bevor sie ihr entfiel, gut gelingen mußte, versteht sich von selbst. Wer dem enthüllten Räuber so durchhilft, muß ihm auch verzeihen, muß noch das Aeußerste für ihn und mit ihm bestehen können. Doch kann ein so reines, vorher nie strauchelndes Wesen, nur durch den furchtbarsten Sturm zur halben Bewußtlosigkeit zerschmettert, einwilligen. Durch das Spiel der Künstlerin wird dies alles vollkommen begreiflich. Und gewiß, so schwebte es auch dem Dichter vor. Sie kann durch jenes furchtbare Rechten Jaromir’s mit dem Schicksal, was man nicht Gebet nennen sollte, erschüttert, im Uebermaß der ersten Liebe, wie dort Amalia in den Räubern, verzeihen, aber wenn sie nicht als unnatürliche Tochter Abscheu erregen will, nicht zur Flucht einwilligen. Dies halbohnmächtige Liegen in den Armen Jaromir’s, dieser metallose, nur durch das Vorgefühl des Todes ausgepreßte, eintönig hingehauchte Angst- und Schmerzenston, womit sie das : ja ich komme und: ja ich will ausspricht, gelingt schwerlich auf den ersten, und vielleicht auch noch nicht auf den zehnten Wurf, aber er wirkt furchtbar und erklärt alles. Nun wirkt im stärksten Kontrast der fußfälli[ge] Kampf um den Dolch und das Niederknieen und Beten für den Geliebten, als Günther am Fenster beobachtet, um so erschütternder. Das Gebet wurde von ihr dreimal gesteigert bis zur schauderhaft aufjammernden Verzweiflung in den Worten: wend es ab u. s. w. und bis zum dreimal ausgestoßnen Angstschrei: ende, ende, ende! das drittemal natürlich blos ächzend, halbgebrochen, leise. – Nach allem Vorhergegangenen kann nun im vierten Akt nur noch Wahnsinn folgen, in welchem, so motivirt, das Todniederstürzen durch einen tödtlichen Krampf am Herzen, den sie so furchtbar wahr mit dem Nagen eines Scorpions vergleicht, auch durch den großen Arzt, der über die Herzkrankheiten neuerlich unter uns schrieb, wohl leicht gerechtfertigt werden möchte. Mad. Schirmer drängte hier in wenig Augenblicken alles zusammen, was nur Augenschein und Tradition vom Ophelien- und Lady Macbethspiel uns wohl sonst schon vergegenwärtigt hatte; und es ist kein geringes Verdienst des Dichters, einem wahren Schauspieler einen solchen Spielraum eröffnet zu haben. Gleich das erste Aufraffen von der Leiche des Vaters durch einen äußern Eindruck (ihr Name Bertha ward gerufen) geweckt, kündigte den Uebergang von hinbrütendem Wahnsinn zum Wahnwitz an, der sich bekanntlich durch eine Menge regellos und doch beziehungsvoll auf die inneren Quelle des Irreseyns hervorbrechende Ideen von jenem unterscheidet. Ganz im schmelzenden Ophelienton begann sie jetzt mit dem dreimaligen stille, das letztemal süß, tändelnd, höchst gemüthlich. Nur Bewußtseyn des physischen Schmerzes, des lichten Punkts, der ihr auf der Stirn brennt. Neuer Ausbruch der Verrückheit, von dem sie sich aber sogleich wieder erholt, und statt des Vaters Jaromir als Räuber anklagt, aber nur (wie zart mildernd vom Dichter und wie wahr in dieser kindlichen Na ¦ tur) als den Räuber, der ihr das Herz gestohlen habe. Beim Wort Herz wurde sie sich der namenlosesten Herzenswehen bewußt. Ein Scorpion, so erscheint dem Wahnwitz dieser mörderische Krampf, nagt am Herzen, durchsticht es. Ein neuer Freudestrahl schimmerte auf dem verstörten Gesicht mit dem Gedanken des gefundenen Bruders. Aber da donnert’s im Innersten: Vatermörder. Es ist der Scorpion. Dies mit krampfhaften Zucken gespielte Hinabdrücken mit beiden Händen an der Brust, stand in schrecklicher Wahrheit vor uns in Verbindung mit den Worten:

Nage, nage, gift’ges Thier,Nage, aber schweige mir!*

Nun kommt der mit wehmühtigem, hinsinkenden Ton gesprochene Vorsatz, schlafen zu gehen. Sie nimmt das Licht vom Tische und fantasirt vom Schlummer. Aber er ist nicht die nachtwandelnde, schuldbefleckte Lady Macbeth und also, wie man wohl schon gesagt hat, keine bloße Reminiscenz aus Shakspear. Die Nachtwandlerin hat verschlossene, die Wahnsinnige offene und des äußern Eindrucks empfängliche Sinne. Sie sieht das blinkende Giftfläschchen. In diesem letzten Moment zeigte unsere Künstlerin das tiefste Eintringen in ihre Rolle. Dieser Anblick, der sie auf einem Augenblick in die grausende Wirklichkeit des Abgrunds versetzt, in den sie gestürzt ist, ist der tödtende Blitzstrahl. Was der Dichter nicht angedeutet hatte, weil er sich’s vielleicht selbst nicht so klar dachte, zeigte die Künstlerin durch’s Wegwerfen des brennenden Lichtes, und durch das Niederstürzen auf die Knie, ehe sie das Fläschchen erlangen kann. Das Spiel ist vortrefflich, denn es ist ganz wahr. Aber nun sind die drei letzten Zeilen: Laß an deinem Rand mich nippen u. s. w. nicht nur überflüssig, sondern auch höchst störend und unwahr. Sie müssen bei diesem Spiele wegbleiben. Mit den so passenden, verhängißvollen Worten: Ach der Schlummer, ja der Schlummer! muß sie entseelt zurück sinken. Es läßt sich freilich in der Intention des Dichters, der sie leis hintrippelnd denkt, ein ganz andres Spiel, ein leises Verglimmen der Lebensflammen denken. Allein wir erinnern an das, was wir beim Sterben der Walburg in Oelenschlägers Trauerspiel bemerkten. So leise hin stirbt niemand an gebrochenem Herzen! Darum sind jene drei Zeilen gar nicht zu retten!

Indem wir nun durch jene kurze Andeutung des Meisterspiels in der Schlußscene der Künstlerin öffentlich unsern Dank für eine so seltene Leistung abstatten, möge uns auch wohl eine Anfrage gestattet seyn: Sollte in der Scene, wo sie liebkosend dem heißgeliebten Jaromir die Scherpe umlegt, nicht noch ein durchgeführtes Spiel mit eben dieser Scherpe möglich seyn? Jetzt schien uns während der langen Zwischenrede des alten Borotin noch nicht alles ausgeführt, ja hier und da eine erkaltende Leere im stummen Spiel des liebenden Paares einzutreten. Dem würde nicht nur abgeholfen, wenn sie in diesem ganzen Zwischenraume erst die Scherpe anprobirte, dann wieder abnähme, wieder anlegte uns so mit Zupfen, Putzen, Mustern gar nicht fertig würde; sondern es würde auch dies kindlich tändelnde Liebespiel den tragischen Kontrast mit dem centnerschweren Schicksalsworten des Vaters vollenden.

Mag man das Stück noch so sehr verdammen. Es hat einen bleibenden Lebenskeim in sich, und wird bald auf allen unsern Bühnen, aber nicht überall mit so gnügender Kunst, gegeben werden.

Böttiger.

Apparat

Zusammenfassung

Aufführungsbericht Dresden: „Die Ahnfrau“ von Grillparzer am 18.9.1817

Entstehung

vor 2. Oktober 1817

Überlieferung

  • Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 1, Nr. 236 (2. Oktober 1817), Bl. 2v

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