Giacomo Meyerbeer an Gottfried Weber in Mainz
Paris, Dienstag, 14. Februar 1815

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Lieber Bruder!

Solltest Du es glauben, daß ich Mälzel erst vor ungefähr fünf Tagen habe auffinden können, und auch seitdem habe ich ihn immer nur im Fluge sprechen können, denn er läuft jetzt den ganzen Tag herum, besucht jeden berühmten Komponisten und läßt sich von ihm die Tempos seiner bekanntesten Sachen zeigen.      Da er jedem Komponisten einen sehr sauber gearbeiteten Chronometer (Metronometre heißt er jetzt) schenkt, allen Journalisten die Cour macht und in 14 Tagen von hier allen diesen Herren ein großes Diner geben wird, so kannst Du Dir wohl denken, daß er hier alles durchsetzen wird.      (Schreibe mir doch, was Du für Antwort vom Conservatoire bekommen hast.) Sobald er, wie er mir versprochen hat, mich mit seinem Metronometre besuchen wird, so werde ich Dir nähere Auskunft über das Ding geben. Er behauptet, seit einiger Zeit noch neue Verbesserungen daran gemacht zu haben. Es versteht sich von selbst, daß Du diese Notizen nicht öffentlich benutzest, indem er mir das so im Vertrauen mitgeteilt hat, da wir uns ziemlich genau kennen.

Die Aufsätze, die Du mir über denselben Gegenstand zugeschickt hast, haben mir so viel Vergnügen gemacht, daß ich sie mehrere Male durchgelesen habe. Es ist das Einfachste, Klarste und Sicherste, was über diesen Gegenstand möglicherweise gesagt werden kann, und eigentlich au fond das Ei des Columbus. Das benimmt ihm aber von seinem Verdienst nichts, denn die einfachsten Axiomen sind oft erst das Resultat der tiefsten Kombinationen. – Ich habe sowohl den Auszug für die „Friedensblätter“ gemacht als auch den Brief an Mosel, der die ganze Schrift begleitet; allein abgegangen ist es noch nicht, denn man hat besonders für das letztere Packet, das sehr voluminös ist, ein so ungeheueres Porto gefordert, wenn ich es franco machen wollte (und ich konnte doch dem Mosel nicht zumuten, noch Geld für eine Gefälligkeit auszugeben, die er uns erzeigt), daß ich den östreichischen Gesandtschaftssekretär gebeten habe, mein Packet mitbeizulegen, wenn er andere Packete durch Courire nach Wien schickt, welches ziemlich häufig geschieht, sodaß ich jetzt dem Abgange unserer Sachen mit jedem Tage entgegensehe.

Hast Du denn auch wohl schon an die Recension der Moselischen „Ästhetik“ gedacht? Die Kompensation ist das Hauptprinzip aller Verbindungen mit egoistischen Menschen. Der Mann ist uns wichtig, mache es sobald als möglich und sende mir es verabredetermaßen zu. – Du wirst Dich vielleicht wundern, daß ich mit meinem Briefe nicht so lange gewartet habe, bis ich die Renseignements über Mälzels Maschine geben konnte und Antwort aus Wien mitteilen, allein ich habe es mir zum Gesetz gemacht, Dir wenigstens alle 2 Monate einmal zu schreiben, und sollte ich Dir auch nichts weiter mitzuteilen haben, als daß ich lebe.

Da ich einen Teil jedes Tages auf der großen Bibliothek der französisch-musikalischen Literatur widme, so habe ich bei dieser Gelegenheit ein für uns sehr interessantes Werk kennen lernen: Traité sur la mélodie von Reicha*. Es ist seinem Plane nach zum Teil (zum Teil, verstehe mich recht) eine musikalische Rhetorik nach den Grundsätzen, wie wir sie darzustellen dachten. Es wäre mir und Dir interessant, wenn Du dieses Werk lesen könntest, und da ich es gekauft habe, so werde ich eine Gelegenheit abwarten, es kostenfrei nach Mainz zu schicken, und Du wirst dann auch eine solche zu finden suchen, es mir auf diese Weise zurückzuschicken. Ich werde Dir also alsdann die (für diesen Brief zu weitläufigen) Gründe entwickeln, warum mir daran liegt, daß Du es liest. Dazu ist aber nötig, daß Du mir in Deinem nächsten Briefe Straße und Nummer Deiner Wohnung mitteilst, denn fremde Leute geben sich selten Mühe, dieses zu erfragen.

1.) Hast Du das Circulare quaestionis schon abgefaßt und ergehen lassen?

2.) Was macht Deine gute Frau, von der du mir schriebst, daß sie noch nicht von ihrer Krankheit genesen sei?

3.) Hast Du schon an die „Musikalische Zeitung“ wegen meiner geschrieben? (ich habe bis jetzt noch keine Einladung erhalten).

4.) Kanntest Du oder Dusch einen jungen Mann aus Hannover Philipp, der in Heidelberg studiert hat? Er hat gute aesthetische und musikalische Ansichten und scheint guten Willen zu haben. Wärst Du dafür, daß ich mich vorläufig in litterarische Verbindung mit ihm setzte? (denn er geht bald ab von hier).

Diese 4 Fragen, lieber Bruder (inclusive der von der Moselschen Rezension) nebst Nachrichten von unsern deutschen Freunden und deutschen Kunstereignissen (wenn welche vorgefallen sind) werden hoffentlich einen Teil Deines nächsten Briefes ausmachen, den ich recht nahe hoffe; denn ich weiß nicht, warum, Bruder, aber Du bist mir jetzt wieder mehr als jemals am Herzen gewachsen, vielleicht weil ich selbst ein wenig besser geworden bin. Nimm es nicht übel, wenn das etwa wie ein Kompliment klingt; es ist nicht so böse gemeint.

Ich habe mir eigentlich vorgenommen gehabt, Dich heute ein wenig von dem musikalischen Paris zu unterhalten, allein sehe ich mit Schreck, daß ich nur noch über eine Seite zu disponieren habe, und das verlohnt sich nicht der Mühe anzufangen. (Soviel wäre kaum hinreichend, um von der Catalani zu sprechen). Wahrlich Paris ist, besonders für mich, den Litteratur, Kunst, Theater und die große Welt gleich stark interessiert, ein wahrer Abgrund von geistigen Genüssen, und fast werde ich geneigt, der etwas ketzerischen Behauptung einer geistreichen Schriftstellerin beizustimmen: „Paris est le lieu où l’on peut le plus aisement se passer du bonheur.“

Genug für heute Bruder; nur noch in aller Eile Antwort auf Deine Frage wegen kleiner französischer Operetten, die ohne Aufwand und leicht zu geben sind: La chambre à coucher*; Le nouveau seigneur de village; Lully et Quinault*; Le mari de circonstance*; Le billet de lotterie sind bis auf No. 2 ohne Chor und fast ohne Dekoration zu geben und dabei allerliebst.

Adieu. Schreibe mir künftig direkt unter folgender Adresse: Rue de Richelieu No. 71 près l’opéra. [ohne Unterschrift]

Apparat

Zusammenfassung

berichtet über Mälzels Auftreten in Paris; bezieht sich auf versch. publizistische Aktivitäten (u.a. Rezension der „Ästhetik“ von Mosel); betr. Harmonischen Verein

Incipit

Solltest Du es glauben, daß ich Mälzel erst vor ungefähr fünf Tagen

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Eveline Bartlitz; Joachim Veit

Überlieferung in 2 Textzeugen

  • 1. Textzeuge: Verbleib unbekannt

    Provenienz

    • 1907 im Besitz von Ministerialrat Dr. August (Karl) Weber (1859–1940), Darmstadt (Nachlass des Großvaters Gottfried Weber)
  • 2. Textzeuge: Wilhelm Altmann, Briefe Meyerbeers an Gottfried Weber aus den Jahren 1811–1815 und 1837, in: Die Musik, Jg. 7, Heft 20 (1907/08), S. 84–86

    Dazugehörige Textwiedergaben

    • Becker (Meyerbeer), Bd. 1, S. 271–274 (Übertragung nach ED)

    Einzelstellenerläuterung

    • „… sur la mélodie von Reicha“Anton Reicha, Traité de mélodie, abstraction faite de ses rapports avec l’harmonie, Paris 1814.
    • „… sind: La chambre à coucher“Luc Guénée, Le chambre à coucher, ou: Une demi-heure de Richelieu, Opéra comique in einem Akt (Text: Eugène Scribe), UA Paris 1813.
    • „… village ; Lully et Quinault“Niccolò Isouard, Lully et Quinault, ou: Le déjeuner impossible, Opéra comique in einem Akt, UA Paris 1812.
    • „… ; Le mari de circonstance“Charles-Henri Plantade, Le mari de circonstance, Opéra comique in einem Akt (Text: Eugène de Planard), UA Paris 1813.

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