Aufführungsbericht Berlin: Erstauffürung der Athalia am 25. Februar 1817 mit Beurteilung des Librettos

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Am 25. Februar. Zum Erstenmal: Athalia, eine große Oper in 3 Abtheilungen, frei nach Racine, von Wohlbrück, Musik vom Freiherrn von Poißl.

Ueber den Text der Oper.

Wir sehen in dieser Oper, außer der schönen Musik, endlich einmal etwas Genießbares; die schönste Blume aus dem Gebiet der Poesie unsrer überrheinischen Nachbarn, verpflanzt in den Boden eigner kraftvoller Musik. Hat aber nicht manches Blüthenblatt aufgeopfert werden müssen, um eben der Musik zu dienen? Doch lassen wir die Aufzählung der Verluste, bis wir zergliedert haben, welche Veränderungen überhaupt der Zweck zur Komposition, in Racine’s Meisterwerk gebracht hat. Wenn wir sagen, daß diese Veränderungen sehr wohl berechnet sind, so verführt uns vielleicht die treffliche Benutzung derselben von Seiten des Herrn Komponisten. Indessen sey es erlaubt, neben der Charakterisirung des Wohlbrückschen Gedichtes, auch das aus allgemeinen Gründen sich ergebende Dafür, darzulegen.

Das Racinesche Trauerspiel, dessen Geschichte wir als bekannt voraussetzen, entwickelt in fünf Akten des Originals nach und nach die Thatkraft einer, durch unbefleckten Deismus, starken Seele. Um die kolossale Kraft des Hohenpriesters Jojada recht lebendig da zu zeigen, wo sie allein aus sich Rath und Hülfe zu schaffen gezwungen ist, ist es nöthig, daß wir die Geschichte des Alleinstehens erblicken. Darum stellt der Dichter dem Priester: | den Krieger, ausgezeichnet durch Tapferkeit im Felde an die Seite. Dieß Verhältnis giebt Gelegenheit, den Vorzug der Stärke der Vernunft und des Glaubens, als deren Organ der rein deistische und kraft seines Standes für den reinen Dienst Jehovas höchst besorgte Jojada auftritt – vor dem starken Arme des Kriegers zu zeigen; des Kriegers, der weder solchen Geist noch solche Gelegenheit, als der Priester hat, um von der Ueberzeugung der unmittelbaren und steten Gegenwart des jüdischen Gottes unter seinem Volke, durchdrungen zu werden.

„… gewohnt die reinen HändeZum Himmel betend zu erheben…“

Diese unmittelbare Gegenwart des Einen Gottes führt auf eine so natürliche Weise, als in dem ächt klassischen Sinn der griechischen Meisterwerke, das Fatum und die Remefis, in die einfache, doch durch ihre innere Würde erhabene Handlung des Stückes. Fatum und Vergeltung sind indessen reine Begriffe, in einer Anschauung gar nicht vollständig darstellbar. Daher taugen sie für die Musik nicht, und somit sind sie in der Wohlbrückschen Bearbeitung ganz weggelassen. Statt dessen sehen wir, mit Erfolg für die Komposition, das Motiv der Eitelkeit in Athalien, welche sich aus demselben dem Fatum zu entziehen weiß. Daß schon hierdurch einer der höchsten Reize des Originals verloren geht, versteht sich von selbst. Denn Racine erhält uns in stetem Interesse für die Handlung, eben vermöge der unmittelbaren Wirkungen, die das Nahesein des Judengottes durch sein Organ, den Jojada, nach und nach hervorbringt.

Abner, der Krieger, ist für das Hervorstechen der Persönlichkeit des Priesters im Original von großem Nutzen; er darf vermöge der Kunstregeln nicht müßig dastehen, und wird nachher als ein gelegenes Werkzeug gebraucht, um den Ausschlag für Joas zu geben. Das wäre aber nicht möglich, wenn er vorher unser Interesse und unsere Darstellung von seiner äußeren Wichtigkeit nicht durch den trefflichen Dialog mit Jojada erweckt hätte. Es schadet übrigens diesem untergeordneten Interesse gar nicht, daß er später auf den Hintergrund tritt, um alle seine Wichtigkeit auf den letzten Moment zu sparen.

In der Oper-Bearbeitung ist Abner zum steten Schattenbilde seiner selbst herabgesunken; er ist gar nichts, als ein dienstfertiger Bote; und sein ¦ Dastehen wäre überhaupt ganz unerklärlich, wenn nicht die Erinnerung an seine Rolle im Original uns das Motiv für sein Beibehalten gäbe. Daß er zu einem schönen Terzett und Quartett Gelegenheit giebt, indem er seine Stimme darinn erhält, ist allerdings ein großes Verdienst für ihn, in Hinsicht der Oper.

Racine konnte, der Geschichte und seiner Absicht gemäß Athalien nicht anders als in einer Schauder erregenden Größe auftreten lassen. Dennoch gebot die ästhetische Regel, die Heldin nicht so ganz, ohne Milderung und Vermenschlichung ihrer Affekte zu zeigen. Daher erhielt ihr Ratgeber Matthan, der Oberpriester des Baal, eine wichtige Stelle, indem seine scheußlichen Künste (aus Ehrfurcht hervorgebracht) mit Lügen der Königin Herz umstricken; theils sehen wir sie in dem jedesmal interessirenden Kampfe mir dem Fatum, dessen Stärke erdrückend auf ihr lastet; theils endlich in einer gerührten Stimmung gegen Joas. Von dem Allen ist allein das Letztere in der Oper beibehalten, weil es zu einer schönen musikalischen Szene Gelegenheit giebt. Das Fatum dagegen ist, wie schon gesagt, weggelassen, indem Athalia sich der Vergegenwärtigung göttlicher Gerichte, durch Erfüllung alter Prophezeyungen, in einem theatralischen Selbst-Morde entzieht und so nun mit sich selbst in den Widerspruch fällt, aus derselben Eitelkeit zu sterben, welche ihr vorher (s. 2ten Akt, Sz. 4. des Textes) zu leben gebot.

Dem Matthan ist es wie dem Abner ergangen. Er steht bloß da, wie ein schreckender und gespenstischer Alter aus einer anderen nahmhaften Oper; ohne wirklichen und wahren Theil an Athaliens Gesinnungen zu haben, und ohne wichtig genug zu werden, als daß wir die Nachricht von seinem Tode nicht gleichgültig vernehmen sollten.

So bleibt denn nur Athalia allein der Gegenstand eines desto stärkeren Greuels, jemehr sie, wie im Operntexte, alle Uebelthaten aus sich selbst und ihrem eigenen frevelhaften Muthwillen hervor holte. Sie wird aber in eben dem Maaße weniger interessant, als sie uns nicht dies allmählige Entstehen ihrer jetzigen Seelenverfassung zeigt, durch Aufsteigen von erhaltenem bösen Rath, und vom Verführtsein zu schlechten Entschlüssen; und könnte nur Widerwillen erregen, wenn die Musik | und die treffliche Sängerinn sie davor nicht schützten.

Uebrigens ist es der Komposition vortheilhaft, daß wir Athaliens erstes Erscheinen im Tempel wirklich sehen, statt daß es im Original nur erzählt wird. Im Trauerspiele hätte diese Szene höchstwahrscheinlich nur Fluch und Verwünschung gegeben; der Musik hingegen gewährt sie zu vortheilhaften Bewegungen Anlaß. Dieß verursacht aber auch, daß Athalia ihren Traum eher erzählt, als sie in den Tempel geht, was im Original umgekehrt ist.

Durch das geminderte Interesse, welches demnach die weltlichen Personen des Stückes in uns erzeugen, verliert auch Jojada bedeutend, dem im Original alles Andere zum zierenden Kranze dient, dessen Schönheit er durch das Hinreißende seiner Gedanken und Worte überstrahlt. Die Ueberlegungen, die Versuche, sich Hülfe zu gewinnen, die unmittelbaren Verathungen mit dem ihn umwehenden Ausflusse der Gottheit, sind als unvortheilhaft für die Musik ausgelassen. Er betet auch; aber in der Szene der Weissagung, wo das Gebet ihn zum sichtbaren Zusammenhang mit dem waltenden Fatum trägt, in diesem Zustande himmlischen Wahnsinns, erinnert uns eben der Gesang, der Text (in Arioso, Rezitativ und Arie vertheilt) daran, daß der Wahnsinn nicht im Takte gehet. Und wir dürfen es dreist aussprechen: tief unter dem Ideal guter Deklamation und mimischer Bewegungen von Seiten eines guten Schauspielers, bleibt in solchen Fällen, was die trefflichste Musik, der reinste Gesang vermag! Man lese hier nur das Original, und man höre den Gesang. Die stumme Lektüre macht für den schönen Vortrag des Herrn Fischer in dieser guten Musik unempfindlich.

Es scheint uns hier einen lobenswerthen Grad von Konsequenz zu verrathen, daß diese Szene nicht als Molodrama – welches ihr rechter Sinn wäre – behandelt ist. Der durchgeführte Charakter der Prophezeyung würde das übrige vernachläßigte Verhältnis der göttlichen Einwirkungen in ein zu vortheilhaftes Licht stellen.

Joas ist geblieben, was er im Original war, und Fräul. Eunike hat ihn höchst liebenswürdig dargestellt.

¦ Joseba, von Fräul. Leist mit edlem Spiel und reinem schönen Gesange gegeben, hat gleichfalls noch das Meiste von dem ihr im Original zugeschriebenen Charakter behalten, der allerdings für musikalische Behandlung sehr vortheilhaft ist.

Der Dialog ist, wie natürlich, mit Arien oft vermischt – das Versmaaß wechselt oft – Jamben und Trochäen in Einem Verse – viele neue Stücke hineingesetzt, die der musikalischen Malerei gelegen sind – häufige Fragen unterbrechen die redenden Personen – lauter Greuel, wenn dieß ein Trauerspiel sein sollte; doch für den Operngebrauch Alles sehr wohl ausgesonnen und angeordnet. Herr von Poißl hat die häufigen Fragen zu sehr guter musikalischer Accentuirung der Rede benutzt; und dem Ganzen, wie auch dem Einzelnen nach, gehört diese Oper zu den durchdachtesten, und dem Sinne der Worte anpassendsten Tonwerken.

Die Verse des Gedichts sind häufig aus Kramers Uebersetzung der Athalia entlehnt – und schon darum rauh. Im Ganzen können wir ihnen, namentlich wo sie nicht zu den Arien gehören, kein besonderes Lob ertheilen; obgleich sie für eine Oper gut und besser als uns irgend bekannte der Gattung, sind. Wie die Musik mehrmals an Graun’s Passion erinnert, so ist im Gedicht Mehreres unverkennbar aus dem Ramlerschen Text der Passion entnommen.

Der Abtheilungen sind drei. Die erste beschäftigt sich, den Hauptmomenten nach, mit den Klagen Josebas – der Traumerzählung Athaliens (die in der Musik bei Weitem gegen die Verse des Originals zurücksteht) – der Entweihung des Tempels durch die Königin, die am Altar den Knaben Joas erblickt, und erschrocken flieht. – Die zweite Abtheilung mit der Beschreibung der Unruhe Athaliens durch den Chor – mit ihrer Entschließung, das Kind nochmals zu sehen, und dann tödten zu lassen – den Tröstungen, die Jojada der Joseba und dem Knaben giebt – dem schönen Gespräch zwischen Athalia und Joas – dem wüthenden Zorne Athaliens gegen den Priester – und schließt mit dem Aufpflanzen des Baal-Parniers im Tempelgrunde, wo es während eines Chorgebets unter Blitz und Knall von Flammen verzehrt wird. – Die dritte Abtheilung zeigt die Erklärung des Joas zum König – die Leviten, bewaffnet, huldigen ihm – Verabredung | zwischen Jojada und den Häuptern der Leviten. – Athalia wird in den Tempel gelockt, wo sie sich verrathen sieht, und sich umbringt. Finale. –

Wenn man nun unbefangen alles hier Ausgesprochene zusammenstellt, so kann man nicht anders sagen, als daß die Oper, und die Tragödie des R., zwei ganz verschiedene Werke sind, die nur die Katastrophe (die Thronbeseitigung des Joas und den Tod Athaliens, noch dazu verändert,) gemein haben. Denn was das Trauerspiel zum schönen Werke seiner Art macht – die Verse, die Reflexionen, das Einflechten der Personen in das Stück, und des unmittelbaren Einflusses der Gottheit in die Handlungen der Personen, ist verschwunden, und macht ganz andern Schönheiten, denen der Töne, Platz. So sehen wir also eine gute Oper, auch in ihrem Texte geadelt durch die Tendenz nach Uebtrtragung jener vortrefflichen Tragödie, die den Nachahmer nicht sinken lassen konnte – aber die Sehnsucht, die Athalia des Racine selbst zu erblicken, ist nicht nur nicht befriedigt, sondern durch so viele Anklänge daran, in jedem Gebildeten gewiß lebhafter erregt worden. Als ganz verschiedene Werke könnten diese beiden Behandlungen des nemlichen Sujets so gut nebeneinander bestehen, wie Göthe’s und Gluck’s Iphigenia; und selbst, daß Schulz schon die Chöre des Racine so erhaben und schön komponirt hat, würde weder der einen noch der andern Bearbeitung Eintrag thun können. In der Oper Athalia ist Alles Musik; die Chöre durften also nicht hervorstechen, nur einen festen Halt des Gesanges abgeben. Bei Racine ist aller musikalische Stoff auf die Chöre verspart, und wie Schulz diesen zu verarbeiten gewußt hat, wird gewiß Jedem lebhaft im Gedächtnisse bleiben, der Gelegenheit fand, dieses unsterbliche Meisterwerk zu hören. Herrn von Poißl’s Chöre können schon, ihrer Natur nach, gar nicht mit jenen verglichen werden, weil sie nur untergeordnete Theile des Ganzen sind.

Freilich – so schön auch Kramer die von Schulz komponirten Chöre übersetzt hat, so ist die Bedeutschung der eigentlichen Tragödie doch jetzt unlesbar. Denn obgleich man wohl sieht, wie tiefer die Schönheiten seines Originals empfunden hat, so vermochte er doch nicht, sie schön wiederzusingen. Herrn Nikolai’s Uebersetzung (Leipzig 1816) erinnert zu sehr an geistliche Gesänge, als ¦ daß man sie hören möchte. Die alte in gereimten Alexandrinern (aus den Siebenziger Jahren) ist vollends unbrauchbar. Zu wünschen wäre es daher, daß durch eine neue reine Uebersetzung des Originals auch die Kramer-Schulzischen Chöre bei uns erweckt würden.

Apparat

Entstehung

Überlieferung

  • Textzeuge: Dramaturgisches Wochenblatt in nächster Beziehung auf die königlichen Schauspiele zu Berlin, Bd. 2, Heft 38 (22. März 1817), S. 299–302

Textkonstitution

  • „tiefer“sic!

Einzelstellenerläuterung

  • Molodramarecte „Melodrama“.
  • Uebtrtragungrecte „Übertragung“.

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