Aufführungsbesprechung Wien, Kärntnertor-Theater: „Euryanthe“ von Carl Maria von Weber am 25. Oktober 1823 (Teil 1 von 4)

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K. K. Hof-Theater nächst dem Kärnthner-Thore.

Samstag den 25. October. Zum ersten Mahle: Unter persönlicher Leitung des Compositeurs: Euryanthe. Grosse romantische Oper in drey Aufzügen, von Helmine von Chezy, geborne Freyinn von Klencke. Musik von Herrn Carl Maria von Weber, königl. sächsischen Hof-Kapellmesiter.

Personen.

König Ludwig der Sechste – Herr Seipelt.

Adolar, Graf zu Nevers und Rethel – Herr Haizinger.

Lysiart, Graf zu Forest und Beaujolois – Herr Forti.

Euryanthe von Savoyen – Dlle. Sonntag.

Eglantine von Puiset – Mad. Grünbaum.

Rudolph, – Herr Rauscher.

Bertha, – Dlle. Teimer.

Fürsten und Fürstinnen.

Grosse, Edeldamen und Pagen.

Ritter. Knappen. Jäger. Vasallen. Landleute und Burgbewohner.

Spielleute. Herolde. Trabanten und Reisende.

Die Scene ist abwechselnd zu Nevers und Schloss Premery, die Zeit 1110.

Die neuen Decorationen sind von den Herren Janitsch und Gail, k. k. Hoftheatermahlern.

Das Costume ist nach Angabe des Herrn Ph. v. Stubenrauch, k. k. Hoftheater-Costume- und Decorations-Director.

Die Tänze und Gruppirungen vom Herrn Balletmeister Taglioni.

Wir beginnen mit der Erzählung der Fabel, welche Frau Helmine von Chezy zum Grunde gelegt hatT.

Der König von Grossen und Fürsten umgeben, unter denen Adolar, Graf zu Nevers und Rethel, dann Lysiart, Graf zu Forest und Beaujolois sich ¦ befinden, bildet das erste Tableau nach aufgezogenem Vorhang, und frohe Chöre wechseln zur Feyer der Schönheit und des Friedens. Der König ermuntert Adolar, der nur von Sehnsucht nach seiner Braut erfüllt ist, zu froher Theilnahme, und wünscht, dass er, der tapfre Kampfgefährte in Schlachten, nach hergestellter Ruhe nun auch einmahl die Zither ergreife, und zu Euryanthe’s Preise ein Minnelied singen möge. Das neben den Waffen des tapfern Troubadours hängende Saitenspiel wird ihm überreicht, und Adolar singt ein Lied, das wir, um von den oft so schönen Versen der Dichterinn auch unsern auswärtigen Lesern einen Begriff zu geben, hier mit abdrucken lassen.

[…] ¦ […]

Nach Beendigung dieses Liedes wird Adolar bekränzt. Lysiart, ebenfalls für Euryanthe von Liebe entbrannt, verhöhnt den Sänger ob seiner Kunst, und reitzt besonders durch die Worte: „Vergeuden könntest du getrost dein Erbe, die Zither sorgt, dass nicht ihr Held verderbe!“ den Zorn Adolars. Er behauptet ihm und den anwesenden hohen Frauen keck in’s Angesicht: „Des Weibes Brust schliesst keine Treue ein,“ worauf sich alle Frauen entrüstet entfernen. Adolar fordert den verläumderischen Spötter zum Zweykampf, aber Lysiart behauptet, dass er ihm das Herz seiner Schönen abwenden, und für sich gewinnen wolle. Um einen unnützen Zweykampf zu ersparen, schlägt er ihm vor, diese Wette mit ihm einzugehen, und setzt sein ganzes Eigenthum als Pfand ein. Adolar entrüstet, und voll Glauben auf seine Geliebte, setzt alle seine Güter dagegen, und ohnerachtet aller Bitten der Anwesenden, und Warnungen des Königs wird die Wette von beyden Seiten hartnäckig behauptet, und endlich vom König bestätigt. Beyde reichen dem König ihren Siegelring. Lysiart rüstet sich zur Reise. Alle gehen unter frommen Wünschen für den Sieg der Unschuld ab.

In der zweyten Scene erscheint Euryanthe im Burggarten zu Nevers, in der Dämmerung. Ein Gruftgewölbe, aus dem die ew’ge Lampe dämmert, steht im Vordergrunde zur Seite. Wir können nicht umhin, die schönen Strophen, welche Euryanthe singt, hier mit abdrucken zu lassen.

[…] ¦ […]

Eglantine von Puiset naht ihr, und fragt sie um die Ursachen ihrer Bangigkeit, indem ihr Geliebter als siegreicher Held aus der Schlacht heimgekehrt, und sie als seine Braut zu begrüssen eile. Euryanthe erzählt ihr die Geschichte ihrer Liebe, während Eglantine heimlich das innige Band zu zerstören, und sie von Adolar, in den sie selbst von Liebe entbrannt ist, zu trennen beschliesst. Sie macht Euryanthen, durch geheuchelte Dankbarkeit für ihre Güte, mit welcher sie ihr Leiden, als einer Gefangenen, der Tochter eines Empörers zu mildern suchte, treuherzig, und entlockt ihren Lippen endlich das Geheimniss, um dessen Entdeckung willen sie Euryanthen schon des Nachts in die Gruft nachschlich. Euryanthe gesteht ihr: „Ich flehe dort für Emma’s Frieden, der Schwester Adolars, durch schnellen Tod entrissen seiner Brudertreue – ihr Leid trug sie verschwiegen in die Gruft hinab etc.“ Euryanthe fährt fort:

[…]

Eglantine frohlockt über die Kunde. Euryanthe klagt sich laut an, Adolars Geheimniss verrathen, und ihren Eid gebrochen zu haben. ¦

Hier dringt sich dem ruhigen Zuschauer zuerst die Frage auf, warum Euryanthe so grosses Gewicht auf die Entdeckung dieses Geheimnisses legt? Hat es der Geist verlangt? Hat der Geist diess Verschweigen mit der heil’gen Treu der beyden Liebenden durch seine Worte so verbunden, dass keines ohne das andere bestehen kann? Hat er gesagt, dass wenn es je verrathen wird, diess nur in vertrauter Liebesstunde von der entfesselten Lippe eines der beyden untreu gewordenen Liebenden, könne verrathen werden? Wir wissen das nicht, und erfahren auch nichts darüber, und darum wird uns Zuschauern auch der Schreck Euryanthens über ihr Vergehen gar nicht recht klar. Wollte die Dichterinn diess Geheimniss zur drohenden Gewitterwolke erheben, aus der das Verhängniss auf das schuldige Haupt seinen Blitz herabschleudern soll, so musste diess viel früher angelegt werden.

Wie der dramatische Dichter seine Figuren im ersten Moment vor unsere Augen stellt, so erscheinen sie uns wieder, und alle später ihnen angedichteten Charakterzüge, alle später hineingezeichneten Flecken gewinnen nie unsere ernste Aufmerksamkeit. Euryanthe müsste selbst in ihrer Arie, die nur Liebe athmet, diess bange Bewusstseyn eines verhängnissvollen Geheimnisses gleichsam als eine dunkle Folie schon mit durchschimmern lassen, aber dennoch mit frohem, leichten Sinne die warnende, innere Stimme übertäuben, dann würden wir diesen wichtig seyn sollenden Hebel des ganzen dramatischen Lebens anerkannt, und seine schauervolle Bedeutung mit in uns aufgenommen haben.

Wir müssen schon im Voraus wissen, dass ein verrathenes Wort aus diesem Geheimnisse das drohende Verhängniss über das schuldige Haupt herbeyziehen würde, denn der Glaube des Zuschauers kann durch den darauf folgenden Ausruf: „Was hab ich gethan? Verrathen Adolares Geheimniss?“ – nicht so geweckt werden.

Ein dramatischer Charakter muss wie ein reiner Contour mit den ersten Zügen schon fertig gezeichnet vor unsern Augen stehen, und wenn der Meister nachher auch später daran corrigiren, und einige fehlende Züge noch nachzeichnen will, so machen diese keine Wirkung mehr. Fest muss die ganze Gestalt in ihrem Schatten stehen, und wir müssen aus ihrem organischen Baue schon die Art ihrer Bewegung errathen können.

Was hier schon als schwach motivirt dem Zu¦schauer auffällt, stürzt im dritten Acte, wo nun die ganze Catastrophe auf so unrichtigen Grund gebaut ist, um so augenscheinlicher als ein zerbrechlicher Grundpfeiler zusammen. Der Beweis liegt vor Augen!

Was wird der Leser dieser unserer getreuen Erzählung sagen, wenn wir den dramatischen Faden auf einen Augenblick enthüllen und sagen, dass Adolar seine Geliebte des so eben erwähnten Verbrechens wegen dem Tode opfern will, dass er eine schwarze Rüstung anzieht, sie in eine Wildniss führt, und mit dem Schwerte, durchbohren will – weil er die Geschichte von dieser Geisteserscheinung aus seines kecken Feindes und Nebenbuhlers Mund erfährt, und ihm dabey der von der Hand des Leichnams abgezogene Ring übergeben wird.

Was beweist denn dieser Ring der todten Freundinn für Euryanthens Untreue? Ein gesunder Criminalrichter, und wäre er auch ein Kampfrichter des Mittelalters, würde hier nicht drey Viertel der Imputation annehmen. Auch damahls gab man sich zum Zeichen der Liebe keine Ringe, die von todten Körpern mit beyderseitigem Bewusstseyn abgezogen waren. Das Unterpfand ist etwas zu abkühlend für das heisse Blut der Liebe.

Wir wollen noch gar nicht in Erwägung ziehen, dass die heldenmüthige Jungfrau durch ihre Aufopferung, mit welcher sie sich einer im Walde herandringenden Schlange entgegenstellt, um ihren Geliebten zu retten, auf das Herz des grausamen Ritters keinen Eindruck macht, sondern dass er sagt, „dich tödten war der Ehre streng Geboth, du aber stürztest dich für mich in den Tod, so kann ich nicht dein Richter seyn, im Schutz des Höchsten bleibe hier allein!“ und mit diesen Worten verlässt er sie im finstern Walde? –

Wir sehen daraus, dass Adolar und Euryanthe ein weit grösseres Gewicht, eine viel ernstere, ahnungsvollere Bedeutung in diess Geheimniss gelegt wissen wollen, als wir trotz der besten Gesinnung für die beyden Personen uns erlauben können. Der Erfolg, der sich bey Entwickelung des dramatischen Knotens in der ersten Aufführung zeigte, spricht endlich gar zu laut für diese unsere Behauptung, und die Kritik war es dem zarten Tacte eines so grossen Publicums schuldig, die den schwachen dramatischen Effect herbeyführenden Mängel, anzudeuten und zu beweisen.

Wir kehren zur weitern Analyse zurück.

Es ist nöthig, das Duett hier dem Auge vorzu¦legen, in welchem die allzuschnelle Umwandlung Euryanthens sichtbar wird, und die Wahrheit und interessante Natur ihres Charakters schon halb verloren geht.

[…]

Angenommen, dass der nah am Abgrunde froh wandelnde Sterbliche die eigentliche Aufgabe für das Drama ist, so soll nur die Schuldbewusste durch eine so unmotivirte Metamorphose nicht unsere Anschauung irre machen.

(Die Beurtheilung des Textes wird fortgesetzt.)

Um nun aber über des trefflichen Tonsetzers Musik unsern Lesern wenigstens einen vorläufigen Begriff zu geben, fügen wir hier zuerst den Erfolg an, der sich bey den ersten Aufführungen dieser Oper kund that.

Das Haus war zum Erdrücken angefüllt, so sehr war das Publicum Wiens auf das neue Werk Weber’s begierig, und dieses Zuströmen bewies abermahls, welche Theilnahme auch die deutsche Oper zu erregen im Stande ist, wenn der Nahme des Tonsetzers das Vertrauen im Voraus in Anspruch nimmt.

Das Erscheinen des Meisters, welcher sein Werk dirigirte, war das Signal zu einem frohen lauten ¦ Händeklatschen, und dieser gastfreundliche Empfang musste ein um so froheres Gefühl in der Brust des werthen Gastes erwecken, als er daraus schon abnehmen konnte, welchen Eindruck der Freyschütz hinterlassen hatte, und dass die freundlichste Stimmung im Publicum herrschen musste.

Die Ouverture wird nach einem kurzen schnellen Tempo durch ein lang ausgeführtes, und durch interessanten Harmoniewechsel anziehendes Tonstück vorbereitet, welches die Erwartung aber etwas zu lang spannt. Ein fugirter Satz ist das Hauptthema des Allegro. Der erste Chor der Frauen und der Ritter sprach durch seine Anmuth zum Herzen, und gab dem Ganzen seine erste freundliche Grundfarbe.

Adolars Cavatine (Herr Haizinger) gab zu erkennen, dass die ganze Parthie für diesen Sänger in einer etwas tiefen Region liegt. Seine Stimme hat nur in der Höhe glänzende Corden, in welcher Rossini seine meisten Tenorparthien sich bewegen lässt. In den Recitativen zeigte sich diess noch mehr, und Herr Forti, der den Lysiart gab, stand in seinen Scenen mit Adolar dem obengenannten Sänger voraus. Er leistete mit seiner Stimme das Möglichste, sprach vortrefflich aus, und brachte in seinen Arien das Meiste schön hervor. Die Wahrheit, welche er seinem Charakter zu geben wusste, wirkte sehr gut, besonders in den Scenen mit Eglantinen (Mad. Grünbaum). Diese Sängerinn gibt ihre grosse, anstrengende Parthie mit Virtuosität und Kunstaufwand. Die Leidenschaft der Rache stellt ihre Leistung oft auf den höchsten Grad von Kraftanstrengung, und wir bewundern ihre bewiesene Ausdauer.

Der König (Herr Seipelt) hat eigentlich nur eine Anstandsrolle, und tritt nie hervor als in kurzen Recitativen.

Die lange Exposition in der dritten Scene, welche vom Dichter, und mit Recht im Adagio gehalten ist, ermüdete aber die Geduld der Zuschauer, und that dem ersten Acte Schaden. Dennoch ist zur Verständlichkeit des Drama’s das Ganze nöthig, bis auf die Erzählung vom Anbeginn der Liebe Adolars und Euryanthens.

(Fortsetzung folgt.)

Apparat

Zusammenfassung

1. Teil der Aufführungsbesprechung Wien, Kärtnertor: „Euryanthe“ von Carl Maria von Weber am 01. November 1823. Weiter Teile in den nächsten Ausgaben.

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Jakob, Charlene

Überlieferung

  • Textzeuge: Allgemeine Musikalische Zeitung, mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat, Jg. 7, Nr. 88 (1. November 1823), Sp. 697–704

Textkonstitution

  • „… , – Dlle. Teimer .“Die Personennamen Rudolph und Bertha sind nach einer geschweiften Klammer zusätzlich als „ein Brautpaar“ charakterisiert

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