Korrespondenz-Nachrichten, Aufführungsbericht: Oratorium „Das jüngste Gericht“ von Louis Spohr in Leipzig (20. Oktober 1812)
Korrespondenz-Nachrichten.
Mit gespannter Erwartung sah ich der Aufführung des Oratoriums, das jüngste Gericht, von dem geachteten Spohr, entgegen, und verlängerte deshalb meinen Aufenthalt um einige Tage. Zu einem Konzerte, das der treffliche Klarinettist Hermbstedt‡ gab*, und in dem Spohr sein neustes Konzert aus aDur, und so eine Sonate mit seiner lieblichen Gattinn, (für Harfe und Violine), mit der an Beyden gewohnten Vollkommenheit gespielt hatten*, war ich leider zu spät gekommen, und hoffte eine Schadloshaltung an dem mich erwartenden Genuß eines Kunstwerkes, über welches ich so sehr sich widersprechende Urtheile hatte fällen hören.
Hr. Spohr hatte vor der Aufführung manche Schwierigkeit zu bekämpfen. Hr. Campagnoli wollte sein in Erfurt* gegebenes Wort, seine beyden Mlln. Töchter singen zu lassen, nur gewissen Bedingungen erfüllen. Hr. Julius Miller, der zur Ausführung der schwierigsten Tenor-Partie von Dresden erwartet wurde, konnte auch nicht kom¦men, und nur die ausgezeichnete Gefälligkeit der Mlle. Schicht und des braven Mathei* retteten Spohr aus der Verlegenheit. Nach fleißigen Proben wurde das Oratorium den 20. October beynahe tadellos executirt*, was auch vom Publikum allgemein anerkannt wurde, und wer die, wirklich nicht gewöhnlichen hier zu besiegenden, Schwierigkeiten kennt, wird einsehen, was dies sagen will. Mlle. Schicht sang besonders schön die Arie mit obligater Klarinette (von Hermstedt geblasen), und die Duette mit W.‡ Mathei. – Mathei sang rein und mit vielem Geschmack. Seine Stimme gehört zwar nicht zu den stärksten, doch hörte man ihn deutlich genug, und die Zuhörer ehrten seine anspruchslose Bereitwilligkeit, wie billig, sehr hoch. Die Baß-Partie sang ein Herr Pillwitz mit schöner Stimme und großem Umfang, der es nur an etwas deutlicher Aussprache und Schule fehlt. Die zweyte Sopran-Stimme exekutirte ein Thomas-Schüler rein und gut. Chöre und Fugen wurden mit unendlicher Kraft und Präcision gegeben, wie man sie wol außer Leipzig nicht oft wieder finden wird. Die Musik selbst ist wahrhaft groß gedacht, und voll einzelner hinreißender Schönheiten. Der Fleiß, der sich in ihr offenbart, möchte nicht häufig unter unsern gewöhnlichen Komponisten zu treffen seyn, und wenn man dem trefflichen Spohr einen Vorwurf machen kann, so ist es vielleicht der, des Guten beynahe zu viel gegeben zu haben. Es würde eine große Anmaßung verrathen, nach einmaligem Anhören, ein so großes Werk beurtheilen zu wollen. Genug, daß es die Erwartungen der meisten Zuhörer übertroffen hat, und sie von Anfang bis zu Ende in Spannung erhielt. Am meisten und sichersten wirkte der erste Eintritt des Chores mit Wehe! Wehe! und im dritten Theile der Chor der Verdammten, den Hr. Spohr in einer verschlossenen Loge über dem Orchester placirt hatte. Das mehrmalige Wiederkehren dieses Chores mit seinem Pauken-Donner während dem Freuden-Gesange der Seligen, und zu einem fröhlichen Zwischenspiele des Orchesters, überraschte und ergriff ungemein, und laut sprach das Publikum seinen Dank am Schlusse aus. Ich wünsche nichts, als daß meine Geschäffte mir erlaubten, dem verehrten Komponisten auf seiner weitern Kunst-Reise nach Prag, Wien, München &c. zu folgen, und so dies treffliche Werk öfters genießen zu können*. Jeder Kunstfreund wird es mit Freuden hören; die kräftigen Chöre, die ungemein fleißige Instrumentation, manche wirklich neue Rhythmen und Formen, verschaffen ihm die Aufmerksamkeit und Achtung jedes Zuhörers, der ein unbestochenes Urtheil mitbringt.
Apparat
Verfasst von
Generalvermerk
Weber schrieb lt. TB vom 1. Dezember 1812 einen kurzen Aufsatz über Spohrs Oratorium in Leipzig, den er an Cotta vom Morgenblatt schickte. Allerdings kann er die Aufführung des Oratoriums in Leipzig nicht besucht haben, da er zu dieser Zeit in Gotha weilte. Als Autor bzw. Honorarempfänger des Artikels erscheint im Registerband des Morgenblattes zudem Johann Georg Eck. Ob trotzdem Teile von Webers Aufsatz mit in den Artikel einflossen, bleibt unklar.
Entstehung
1. Dezember 1812 (Versand laut TB)
Überlieferung
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Textzeuge: Morgenblatt für gebildete Stände, Jg. 6, Nr. 298 (12. Dezember 1812), S. 1192
Textkonstitution
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„Hermbstedt“sic!
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„W.“sic!
Einzelstellenerläuterung
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„… der treffliche Klarinettist Hermbstedt gab“Hermstedts Konzert fand am 13. Oktober statt. Zum Programm vgl. Alfred Dörffel, Die Gewandhauskonzerte zu Leipzig, Bd. 1 1781–1881, Leipzig 1980, S. 201.
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„… Beyden gewohnten Vollkommenheit gespielt hatten“Vgl. Kommentar in Weber-Schriften.
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„… Campagnoli wollte sein in Erfurt“Das Werk wurde am 14./15. August 1812 in Erfurt anlässlich eines Aufenthaltes von Napoleon I. uraufgeführt; vgl. Hans Eberhardt, Die ersten deutschen Musikfeste in Frankenhausen am Kyffh. und Erfurt 1810, 1811, 1812 und 1815: ein Beitrag zur thüringischen Musikgeschichte, Jena 1934, S. 20–23.
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„… Schicht und des braven Mathei“Der Geiger und spätere Konzertmeister des Gewandhausorchesters sprang als Tenor-Aushilfe bei der Aufführung ein.
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„… 20. October beynahe tadellos executirt“Vgl. auch Aufführungsbesprechung in der AmZ, Jg. 14, Nr. 44 (28. Oktober 1812), Sp. 723f.
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„… Werk öfters genießen zu können“Spohrs Oratorium wurde in Prag lt. Ankündigung in der AmZ, Jg. 14, Nr. 50 (9. Dezember 1812), Sp. 820 am 19. November 1812 (eine Besprechung erfolgte ebd. in Nr. 3 vom 20. Januar 1813, Sp. 55) und nochmals in Wien am 21. und 24. Januar 1813 unter der Leitung von Salieri und 300 Mitwirkenden aufgeführt, vgl. AmZ, Jg. 15, Nr. 7 (17. Februar 1813), Sp. 116f. Spohr, der ebenso wie manche Zeitgenossen sein eigenes Werk kritisch betrachtete, ließ es danach nicht mehr öffentlich aufführen, vgl. Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, Kassel und Göttingen 1860, S. 175f.